Vom Farbenspiel der Moral
Vom Praktischen her gesehen, ist es notwendig, zwischen schwarz und weiß zu unterscheiden. Die Zeilen dieses Artikels sind lesbar, weil sie in schwarzer Farbe geschrieben sind. Auch bei einem Farbwechsel könnte man den Text noch lesen. Aber das wäre nicht mehr der Fall, wenn er mit weißer Schrift auf weißem Papier geschrieben wäre.
Auch in Bezug auf unseren Körper hat das Gültigkeit: Wenn es uns zu warm ist, sehnen wir uns nach einem kühleren Ort. Wenn ein Schneesturm wütet, verlangt es uns nach einem komfortablen warmen Platz.
Geht es um Gefühle und Moral, wird die Sache komplizierter. Es ist möglich, dass wir uns an etwas Bestimmtem erfreuen, nicht aber an dessen Gegenteil: So wird die Geburt eines Babys mit Freude und Glücksgefühlen gefeiert, das Dahinscheiden einer geliebten Person indes von Tränen und Verzweiflung begleitet. Ein bestimmter Kleidungskult, Musik und Rituale gehen oft damit einher
Versetzen wir uns einmal in die Menschheitsvergangenheit. Das Leben bewegte sich im Spannungsfeld zweier Pole. Wenn es hell wurde, ging es um das Jagen, das Anbauen, Auskundschaften … Des Nachts wandte sich der Blick zum Sternenhimmel, den mysteriösen, glimmenden Augen in undurchdringlichen Weiten …
Während der langen Nächte wurden auch Geschichten erzählt, Mythen über die Schöpfung, durch die sich fundamentale Fragen beantworteten. In vielen von ihnen wird dargestellt, wie das Leben und das Licht aus der Dunkelheit, dem Chaos, den „Wassern“ emporsteigen.
Stellen wir uns vor, wir wären daran beteiligt, den kleinen Stamm, zu dem wir gehören, zu organisieren. Vielleicht lautete eine der Regeln: „Töte keine Mitglieder unserer Gemeinschaft, kämpfe aber gegen unsere Feinde.“
Es sind sehr einfache Regeln, die die Pfade unserer Kultur gebahnt, das individuelle und soziale Verhalten geprägt und Moralvorstellungen begründet haben. Auch heute noch wählt das Gehirn bevorzugt neuronale Strategien, die einfach sind und klaren Überzeugungen und Sicherheiten entsprechen. Stark ausgeprägt ist die Gut/Böse-Polarität. Gut steht für Sicherheit, für weiß, hell und klar wie der Tag, für Versorgung, Recht, Schutz, Positivität …, Böse für schwarz, dunkel, Unsicherheiten, Unbekanntes, den Tod, das Verderben … .
Für viele Menschen gibt es kein moralisches Farbenspiel. Es gibt gut und böse. Da ist der weiße Arztkittel, und da ist der schwarz gekleidete Bösewicht in der Filmserie. So lebt es sich leichter.
Störer der allgemeinen Wahrnehmung
Wenn wir jedoch noch einmal zurückgehen in die menschliche Geschichte und verborgenere Elemente ausgraben, erweitert sich die Sicht. Wir finden Spuren, die eine integrativere, dynamischere Annäherung der beiden Pole fordern.
Da ist das Symbol für Tao, das Yin/Yang-Symbol. Es zeigt eine Beziehung auf zwischen den beiden Hälften. In das Schwarz ist ein weißer Punkt integriert und in das Weiß ein schwarzer.
Hier wird ein Zusammenfall der Gegensätze angedeutet, eine coniunctio oppositorum. Menschen, die eine derartige Sicht zum Ausdruck bringen, stören die allgemeine Auffassung. Denn sie wagen zu behaupten, dass die beiden Kräfte auf einander bezogen sind, ja voneinander abhängen. Es sind Menschen, die im „Buch der Natur“ gelesen und erkannt haben, dass es das Zusammenwirken der Gegensätze ist, das die Welt in Gang hält und das Leben in seiner Vielfalt hervorbringt.
Zur Funktion des Schnees gehört es, die aufkeimenden Pflanzen zu schützen, indem er die Felder mit einem Mantel bedeckt. Unter dem kalten Mantel … bildet sich Wärme. Und andererseits ist bekannt, dass Tuaregstämme heiße Getränke zu sich nehmen, wie etwa den berühmten Minztee, um die Hitze besser zu ertragen …
Wir wollen nicht gegen eine dualistische Sicht der Dinge angehen. Denn das wäre nur ein weiteres Dafür und Dagegen. Überlegen wir vielmehr, aus welcher Quelle das Symbol des Tao seine Kraft bezieht und lassen wir uns auf die Dynamik der Polaritäten ein.
Wir können diese Dynamik theoretisch akzeptieren. Danach zu leben, ist allerdings schwieriger. Nehmen wir an, jemand hätte uns ein Unrecht zugefügt und wir bäten um Gerechtigkeit. Sie wird üblicherweise nach einem festen Code gewährt, basierend auf den Werten, die die Basis unserer Gesellschaft ausmachen. Ihre Ursprünge gehen weit zurück in die Vergangenheit.
Das Arsenal von Werten und Codes erlaubt es, soziale Situationen zu bewältigen. Werte, die allgemein akzeptiert werden, machen eine Gesellschaft stark. Doch neben diesen klaren Werten bleibt ein weites Gebiet für Irrationales und für tiefer reichende Zusammenhänge.
Wenn wir nach Gerechtigkeit verlangen, tappen wir leicht in eine dualistische Weltsicht. Wir erkennen nicht, welche Kette von Ursachen eine bestimmte Situation hervorgerufen hat. Die Kette ist nicht vollständig sichtbar. Wir ergreifen Partei und glauben, im Recht zu sein. Aber Recht in Bezug auf was?
Stellen wir uns einmal vor, wir könnten aus größerem Abstand, aus weiter Perspektive die Umstände überblicken und durchschauen, wie es zu einer Tat kam. Wir sehen, wie unsere Existenz mit vielen Tausend anderer Existenzen verwoben ist, aus anderen Zeiten und Weltregionen. Wann begann das Unrecht? Was soll richtig sein oder nicht? Die schwarzen und weißen Gewebefäden unserer einfachen Weltsicht werden schillernd.
Denken wir an den berühmten Dialog zwischen dem Fürsten Arjuna und Krishna in der Bhagavadgita. Arjuna steht mit Krishna am Rande eines Schlachtfeldes, bei dessen Konflikt es um das Schicksal von Arjunas nächsten Angehörigen geht. Es muss eine Entscheidung getroffen, es muss Partei ergriffen werden.
Das Ende der Reise?
Eine persönliche Erkundung und Entscheidung in jedem einzelnen Fall ist unabdingbar. Stets geht es darum, den Ursachen einer Situation nachzuspüren – im alltäglichen Leben und in den Tiefen, die uns zugänglich sind. Wie weit das reicht, hängt von unseren persönlichen Möglichkeiten ab.
Aber es ist lohnend, sich die Mühe zu machen, denn: „Wer denkt, dass alles Gute auf der einen Seite liegt und alles Böse auf der anderen, wird sich das Leben leichter machen, sich selbst aber zum Narren halten.“