Der Mensch ist in seinem Wesen zweifach. In ihm treffen zwei Welten aufeinander. Er lebt in der körperlich-seelischen Welt und empfängt jeden Tag Impulse aus der geistig seelischen Welt. So verläuft sein Leben im Spannungsfeld zweier Entwicklungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ab dem Zeitpunkt der Geburt beginnt der Körper zu altern. Er ist ein lebendiges, sich selbstorganisierendes System, das mit seiner Umwelt im Austausch steht, Erfahrungen sammelt und energetisch langsam abbaut. Auf der geistig seelischen Ebene verläuft der Weg genau entgegengesetzt. Wenn Impulse aus ihr aufgenommen und umgesetzt werden, wird der Mensch jünger. In der Bibel wird das mit dem Satz beschrieben: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Krise, Krankheit und Heilung haben ganz unterschiedliche Bedeutungen, je nachdem, welchen der beiden Wege wir betrachten.
„Kein Leben ohne Krise“ – das ist bei vielen Menschen eine typische Erfahrung. Dabei werden Krisen sehr unterschiedlich erlebt. Typisch für unsere heutige Zeit sind Krisen, die als Folge einer stark vernetzen Welt große Teile der Menschheit erfassen. Mit der Friedensbewegung, der Ökologiedebatte oder der „Black Lifes Matter“-Bewegung erleben wir innerhalb kürzester Zeit weltweite Reaktionen.
Das stete Suchen nach dem Gleichgewicht
Typische Krisen sind Erkrankungen des Körpers. Hippokrates, ein griechischer Arzt, der 400 Jahre vor Christi Geburt lebte und bis heute einen großen philosophischen Einfluss auf die Medizin hat, erkannte, wie stark das damalige Wissen um Krankheiten und deren Heilung vom Aberglauben geprägt war. Durch nüchterne Betrachtung der Symptomatik entzog er die Krankheit dem Aberglauben und schuf den Beginn einer rationalen Heilkunst.
Für ihn waren Krankheiten die Folge eines Ungleichgewichts. Er sah in der Symptomatik den Versuch des Körpers, seine Funktionen wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Die Erkrankung war Ausdruck der Selbstheilungskräfte, die es zu unterstützen galt. Wenn ein Kreisel mit hoher Geschwindigkeit rotiert, ein Körper also im Vollbesitz seiner Kräfte ist, so ist er schwer aus dem Gleichgewicht zu bringen. Lässt die Rotationsgeschwindigkeit nach, beginnt er zu taumeln und wird leichter aus seiner Bahn geworfen. Wie ein Kreisel strebt auch der Körper immer wieder nach einem harmonischen Gleichgewicht. Er ist ein komplexes Gleichgewichtssystem. Viele seiner selbstorganisierenden und selbstregulierenden Reaktionen sind bis heute ein Geheimnis.
Werfen wir einmal einen Blick auf ganz einfache Gleichgewichtssysteme. In der Chemie kennt man sog. dissipative Strukturen. Das sind Lösungen chemischer Verbindungen, die untereinander in Austausch stehen und stabile Reaktionsmuster entwickeln. Ihr Gleichgewicht und damit ihre „Gesundheit“ hängen vom Austausch mit der Umwelt ab. Sie brauchen zum Beispiel Energie, um stabil zu bleiben, und sie altern und wandern dabei durch Krisen zu immer neuen Gleichgewichtszuständen.
Wir erleben gerade, dass die Menschheit, ähnlich wie dissipative Strukturen, ein Reaktionsmuster aufgebaut hat, das mehr Energie kostet, als die Erde im gesunden Zustand produzieren kann. Die Folge sind Krisen, in denen sich die Muster verändern und das gesamte System nach neuen Gleichgewichtszuständen sucht.
Leben bedeutet Selbstorganisation und Anpassung an sich ständig verändernde Lebensbedingungen. Krise und neues Gleichgewicht lösen einander ab. Gleichgewicht ist ein statischer Zustand ohne äußere Veränderung. Dies wird niemals erreicht, außer bei einer vollständigen Auflösung aller beteiligten Materieteilchen. Alles, was lebt, vom Einzeller bis zum Planetensystem, folgt dem Prozess der ständigen Anpassung. Beim Universum gehen die meisten Wissenschaftler davon aus, dass alles mit einem „Urknall“ begann und einmal im „Wärmetod“, dem absoluten Gleichgewicht, zugrunde gehen wird.
Beim Menschen könnte man die stoffliche Geburt mit dem „Urknall“ vergleichen und die endgültige Auflösung des stofflichen Körpers mit dem Wärmetod. Dazwischen lebt der Mensch sein Leben zwischen Krise und Gleichgewicht.
Wer schafft die neuen Rahmenbedingungen?
Ilya Prigogine entdeckte, dass dissipative Strukturen sich wandeln, wenn man ihre Rahmenbedingungen verändert. Wer verändert die Bedingungen für die Menschheit? In gewissem Ausmaß sind es die Menschen selbst, mit ihrem erfinderischen Geist und der Fülle ihrer Bedürfnisse. Man spricht vom beginnenden Anthropozän als einer neuen Periode der Erdgeschichte. Verändernder Faktor kann aber auch jene geheimnisvolle Kraft sein, die letztlich den gesamten Kosmos bewegt.
Der Physiker Max Planck fasste die Verbindung von Wissenschaft, Philosophie und Religion in die Worte:
Als Physiker, der sein ganzes Leben der nüchternen Wissenschaft, der Erforschung der Materie widmete, bin ich sicher von dem Verdacht frei, für einen Schwarmgeist gehalten zu werden. Und so sage ich nach meinen Erforschungen des Atoms dieses: Es gibt keine Materie an sich. Alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Alls zusammenhält. Da es im ganzen Weltall aber weder eine intelligente Kraft noch eine ewige Kraft gibt—es ist der Menschheit nicht gelungen, das heißersehnte Perpetuum mobile zu erfinden—so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewussten intelligenten Geist annehmen. Dieser Geist ist der Urgrund aller Materie.
Und weiter:
Nicht die sichtbare und vergängliche Materie ist das Reale, Wahre und Wirkliche – denn die Materie bestünde ohne den Geist überhaupt nicht, sondern der unsterbliche unsichtbare Geist ist das Wahre. Diese geistige Realität steht in der Philosophie oder Religion am Anfang aller Betrachtung. Beim Wissenschaftler tritt sie oft am Ende seines Forschens in den Blick.
Die Theosophin und Autorin Alice Bailey, die etwa zur gleichen Zeit lebte, dachte die Wissenschaft eher von der Philosophie bzw. Theosophie her. Sie entwarf in ihrer Abhandlung über die sieben Strahlen eine Sichtweise, mit der sie mehr Licht in das Wirken dieses unsichtbaren Geistes zu bringen suchte. So beschreibt sie, wie aus dem Transzendenten – dem Urgrund, wie Max Planck ihn nannte – Strahlungsmuster hervortreten, mit denen sich die Veränderungen des Zeitgeistes erklären lassen. Diese Muster sind nicht statisch, sondern verändern sich ständig und erzeugen laufend eine andere Lebensatmosphäre, an die sich der Mensch bzw. die Menschheit anpassen muss. Die Anpassung geschieht typischerweise durch Krisen.
Nach astrosophischer Sicht unterteilt sich die Menschheitsgeschichte in große Zeitabschnitte, in denen ein Grundmuster der Strahlung relativ konstant bleibt. Hiernach verlassen wir gerade das Fische-Zeitalter und stehen unter den ersten Einwirkungen des Wassermann-Zeitalters.
Im Riss zwischen zwei Zeitaltern
Die Rahmenbedingungen unserer Zeit führen zu einer Weggabelung
Typisch für unsere Zeit ist, dass alte Werte, die bestimmend für die bisherige Entwicklung waren, ihre Kraft verlieren und sich neue Werteräume entwickeln. Wir leben für eine gewisse Zeit wie in einem „Riss“ zwischen zwei Zeitaltern, in dem nichts mehr wirklich Halt gibt. Das „Alte“ geht und das „Neue“ ist noch nicht da. Kein Wunder, dass unsere Zeit krisengeschüttelt ist und für einen Teil der Menschheit viel Unsicherheit und Angst mit sich bringt und für den anderen Teil ein Feuerwerk an neuen Ideen beinhaltet. Es ist spannend, in einer solchen Zeit zu leben. Viele Symptome dieser Krise werden als Krankheit empfunden, für die es gilt, Heilung zu finden. In der Tagespresse taucht immer wieder der Begriff von der kranken Gesellschaft auf. Ein Heer von Therapeuten sucht nach Heilungsmöglichkeiten im körperlichen, psychischen oder gesellschaftlichen Bereich für oft rätselhafte Krankheiten.
Der russische Philosoph Alexander Kojève, der in den Dreißiger Jahren in Paris lehrte, prägte – diese Zeit betrachtend – den Begriff vom Menschen als posthistorischem Tier, das in einer „ewigen Gegenwart“ lebt. Er sprach von einer „Ewigkeitsblase“, um die Atmosphäre zwischen zwei Zeitaltern zu charakterisieren.
Polaritäten, die für unsere bisherige Welt typisch waren, schwächen sich ab oder verschwinden ganz. In der Polarisierung von Mann und Frau taucht der Genderbegriff auf. An vielen Stellen bekommt unsere Gesellschaft eine androgyne Prägung.
Auch die politischen Polaritäten befinden sich in rasantem Wandel. Kojèves Gedanke der „Ewigkeitsblase“ macht deutlich, dass in einer solchen Übergangsphase, in der die Menschen nicht mehr voll im Griff kollektiver Verhaltensmuster sind, Ewiges leichter in sie hineinwirken kann. Der Traum von einer immerwährenden Entwicklung von Herrlichkeit zu Herrlichkeit steigt auf. In der Materie soll entstehen, was nur im Reich des Geistes möglich ist. Kojèves Ewigkeitsblase ist „Realität“ zwischen zwei Zeitaltern, die langsam zu Ende geht, denn: die geistig-seelische Natur lässt sich in unserer materiellen Welt nicht verwirklichen.
Eine uralte Polarität
Die Zweifachheit des menschlichen Wesens wird in einer Zeit wie der unsrigen besonders deutlich. Sie gehört zu den uralten Polaritäten, die in Zeiten wie der unsrigen offen zu Tage treten. Wir erleben die enorme Spannung zwischen dem Geistig-Seelischen und dem Materiell-Seelischen besonders deutlich. Wie können wir diesen Spannungsbogen konstruktiv nutzen?
Der materiell-seelische Aspekt des Menschen scheint geschwächt zu sein, sein intensives Einwirken auf die Materie wird gehemmt. Die Materie tritt in ihrer Eigenart geschichtslos ins Bewusstsein. Wer hier nicht innehält, wer auch weiterhin nur versucht, sein Leben so angenehm und bequem wie möglich zu machen und es auf dem einmal erreichten Niveau zu halten, gerät in die Krisen, wie wir sie heute kennen. Vielleicht ist unbewusst der geistig-seelische Pol des Menschen die letzte Ursache hierfür, da er zwar durch den augenblicklichen Zeitgeist eine starke Wirkung entfaltet, aber das Bewusstsein nicht wirklich erreicht, so lange es in der materiellen Welt gefangen liegt. Er versucht, den Menschen aus der materiell-seelischen Alterung herausführen, damit er im Jungbrunnen des Geistes baden kann.
So gibt es also zwei Entwicklungen, die in gegensätzlichen Richtungen verlaufen. Die materielle Welt folgt dem Gesetz der Entropie und altert. Unter nachlassenden energetischen Kräften sucht sie ein immer neues Gleichgewicht.
Geistig gesehen verläuft die Entwicklung entgegen der Entropie und lässt den geistig strebenden Menschen in seiner inneren Beschaffenheit jünger werden. Er erlebt den Geist als Jungbrunnen.
Auf beiden Wegen gibt es den beständigen Wechsel zwischen Krise und Gleichgewicht. Stufe für Stufe muss ein neues Gleichgewicht entwickelt werden, und die Krisen dazwischen sind Phasen der Heilung und Erkenntnis. Auf der materiellen Seite führt dies zur Erkenntnis der Vergänglichkeit allen Lebens, und in der geistigen Struktur führt es den Menschen zum Bewusstsein der Einheit mit allem Seienden und Nicht-Seienden.
Heilung im körperlichen Sinne bedeutet, flexibel und anpassungsfähig zu bleiben und die Spannkraft durch eine weise Lebenshaltung immer wieder zu stärken. Alterung und Tod sind fester Bestandteil des Lebens. Geistig bedeutet es, die Spannkraft zu leben, die in die Einheit mit dem Göttlich-Geistigen führt und damit in die Einheit mit allem Lebendigen.
Heilung ist also je nach Sicht und Zustand immer etwas anderes. Ihrem tiefsten Wesen nach ist sie die Entwicklung einer Spannkraft, die dem Bewusstsein die Möglichkeit gibt, frei zwischen den beiden Polen des Menschseins zu vermitteln, um der ganzen Potentialität göttlicher Ideen Ausdruck zu verleihen.
Quellen:
https://berühmte-zitate.de (Max Planck)
Erich Jantsch, 1979: Die Selbstorganisation des Universums: Vom Urknall zum menschlichen Geist
Alice Bailey, 1990: Eine Abhandlung über die sieben Strahlen
Ilya Prigogine, 1992: Vom Sein zum Werden
https://www.nzz.ch/meinung/nach-corona-das-ende-der-geschichte-ist-zu-ende-ld.1556521