Wozu den Umweg?

Wozu den Umweg?

Der Weg der Seele zum Geist gleicht dem aufwärts führenden Weg der Klänge über sieben Oktaven. Doch da gibt es ein Problem. Wer einen Sprung macht, kommt nicht am selben Ort an wie der, der langsam geht.

Der Weg der Seele zum Geist gleicht dem aufwärts führenden Weg der Klänge über sieben Oktaven. Doch da gibt es ein Problem. Wer einen Sprung macht, kommt nicht am selben Ort an wie der, der langsam geht.

Wir sind als Menschheit so weit herangewachsen und bewusst geworden, dass wir einen weiteren Schritt in der Entwicklung gehen können. Wir stehen nun, so scheint mir, vor der Aufgabe, Seelen zu werden, die im Einklang mit dem Geist bewusst leben und wirken können.

Ich frage mich: Wie schnell oder wie langsam sollte dieser Prozess der Seelenentwicklung zum Geist hin erfolgen?

Natürlich kann man sagen: Es gibt ebensoviele Antworten darauf, wie es Menschen gibt. Das Tempo der Seelenentwicklung ist individuell verschieden.
Aber: Fordert nicht die aktuelle Not der Menschheit, dass es so schnell wie möglich geschieht?

„Erleuchtung jetzt“ – könnte das nicht das Gebot der Stunde sein?

Eine Antwort hierauf können wir vielleicht in der Musik finden. Der italienische Komponist Ferruccio Busoni sagte 1910:[1]

Kommt, folgt mir in das Reich der Musik.
Hier ist das Gitter, das Irdisches vom Ewigen trennt.

Habt Ihr die Fesseln gelöst und abgeworfen?

– Nun kommt. –

Es ist nicht so, als wenn wir in ein fremdes Land träten; dort bald alles lernten und alles kennten, und dann überraschte uns nichts mehr.

Hier jedoch wird des Staunens kein Ende, und wir fühlen uns doch von Anfang an heimisch.
Noch hört Ihr nichts, weil Alles tönt.
Dann beginnt Ihr schon zu unterscheiden.

Lauscht, jeder Stern hat seinen Rhythmus und jede Welt hat ihren Takt.
Und auf jedem Stern und jeder der Welten schlägt das Herz jedes einzelnen Lebendigen anders, und nach seinem eigenen Müssen.

Und alle Schläge stimmen überein und sind ein Einziges und ein Ganzes.

Euer inneres Ohr wird schärfer.
Hört Ihr die Tiefen und die Höhen?

Sie sind unmessbar wie der Raum und unendlich wie die Zahl.
Wie Bänder ziehen sich ungeahnte Skalen von einer Welt zur anderen, feststehend und ewig bewegt.

Nun fühlt Ihr, wie Planeten und Herzen eins sind miteinander und nirgends ein Ende, nirgends ein Hemmnis sein kann.

Jeder Ton ist ein Zentrum unermesslicher Kreise.

Die Sprache der Musik und die Sprache der Seele hängen eng zusammen. Erhebende Musik kann in uns eine Erinnerung an die reinen Zustände einer Geist-Seelenwelt mit ihrer vollkommenen Harmonie erzeugen. Unser Herz weitet sich und der Verstand wird wie von selbst still und klar.

Es gibt nun eine eigenartige Erscheinung in der Musik, die uns der Beantwortung der gestellten Frage näher bringen kann. Dazu hat mir mein Klavierlehrer vor vielen Jahren eine Geschichte erzählt:

Zwei Musikern wird die Aufgabe gestellt, von einem tiefen Kontra-C1 – wie der Ton aus dem Nebelhorn der Queen Elizabeth – zu einem ganz hohen c5 – wie das Zirpen einer Grille – zu gelangen.

Der erste, der Pragmatische, sagt: „Da springe ich über 7 Oktaven und bin schon da. Wo ist das Problem?“

Der zweite, der Bedächtige, erklärt: „Dieser Oktavsprung ist mir zu hoch. Ich gehe über die Quinten nach oben.“ Und er kommt bei einem Ton „g“ an.[2] Nach einer weiteren Quinte gelangt er zu einem „d“. Und so geht er von Quinte zu Quinte höher und höher, bis er endlich nach 12 Sprüngen beim angestrebten c5 angekommen ist.

„Na, da bist du ja endlich“, empfängt ihn der erste, „ich bin schon lange da.“

Aber jetzt gibt es eine Merkwürdigkeit: Das c5 des ersten, der über die Direttissima geklettert ist, ist nicht dasselbe wie das des zweiten.

Das c5 des zweiten ist um fast 1/4 Ton höher als das des ersten. Dieser deutlich hörbare Unterschied hat sogar einen Namen bekommen: das „pythagoräische Komma“.

Und noch etwas: Der zweite hat auf seinem Weg der Quinten-Spirale alle anderen Töne der Tonleiter besucht, oder besser: Er hat sie auf seinem Wege erzeugt.

So weit die Geschichte meines Klavierlehrers.

Wie ist die abendländische Musik mit dieser Situation umgegangen?

Sie hat den „Oktavisten“ auf den Thron gesetzt, aber den „Quintengänger“ ebenfalls berücksichtigt. Er muss von seiner zusätzlichen Tonhöhe jeweils ein Quentchen ablassen, damit es zu den Oktaven wieder passt und alle Tonarten harmonisch klingen.

Mit dieser „wohltemperierten Stimmung“ hören wir seit 300 Jahren wunderbare Musik – und wir möchten sie auch nicht missen. Diese wohltemperierte Stimmung hat sich weltweit durchgesetzt, so dass auch im fernen China Beethoven geliebt wird.

Die beseelende Harmonie eines Konzerts entsteht durch das stimmige Wirken des Orchesterkörpers – und durch die Zuhörerschaft. Das einträchtige Zusammenwirken der beiden als eine Gemeinschaft kann überirdische Harmonie fühlbar machen.

Die Seelen-Harmonie in der Musik weist uns deutlich darauf hin, dass die Geist-Entwicklung der Seele zu einem Miteinander, zu einem einträchtigen Mitschwingen führt – führen muss.

Eine Einzel-Seelenentwicklung führt zu Dissonanzen. Den sich isoliert Hervortuenden ruft Beethoven zu recht zu: “Oh Freunde, nicht diese Töne.“ Wenn die Einheit dann wieder hergestellt ist, kann sich die Freude als „Götterfunke“ einsenken.

Aber: Das „pythagoräische Komma“, dieser Spalt in der rationalen Ordnung, gibt zu denken. Ich empfinde dieses „Komma“ im Ordnungsgefüge der Töne wie einen Riss, der mich anzieht hindurchzuschauen.

Er ist wie eine enge Pforte, wie ein Nulldurchgang.

Lädt diese Pforte nicht dazu ein, durch sie hindurchzugehen?
Was erwartet uns auf der anderen Seite?

Wartet überhaupt etwas auf der anderen Seite?

Es gibt dafür kein Wort dafür, kein Bild, kein Gesetz …

Die Alten sprachen von einer: unmittelbaren Gegenwärtigkeit.

Es ist still dort …,
Die Stille dauert an.

Sie trägt alles, all die Töne, allen Klang, den wir vernehmen,

Soll das eine Antwort sein?.
Könnte es eine sein?


[1] Zitiert in: Jochen Kirchhoff Klang und Verwandlung, Kösel-Verlag, München 1989

[2]  Eine Quinte bedeutet, die Saite des Grundtons um 1/3 zu verkürzen.

 

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Datum: September 25, 2024
Autor: Joachim Plackmeyer (Germany)
Foto: Willman Hanke

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