Kabbala: Das große und das kleine Gesicht der Gottheit – Teil 2

Wie aus einem überfließenden Brunnen bilden sich komplexe Verbindungen, Strukturen und immer neue Evolutionsformen in einem dynamischen Prozess heran.

Kabbala: Das große und das kleine Gesicht der Gottheit – Teil 2

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Der Sephirothbaum

Aus Kether strömt, wie aus einem überfließenden Brunnen, ununterbrochen Wasser nach unten. Es stammt von Ain Soph Aur und ergießt sich mit hohem Druck in die nachfolgenden Sephiroth, wie in Gefäße, die sich füllen und in das jeweils nächstliegende Gefäß ergießen. So entstehen in einem dynamischen Prozess komplexe Verbindungen, Strukturen und immer neue Evolutionsformen. Die in den drei Säulen aufgereihten Sephiroth formen auf diese Weise Triaden bzw. spezifische Funktionsdreiecke.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das erste Funktionsdreieck: Kether (1), Chockmah (2) und Binah (3)

Kether symbolisiert das All und die Quelle allen Lebens. Ihre Entsprechung im menschlichen Mikrokosmos ist der göttliche Funke im Schädel. Ihr Gottesname ist Elohim.

Chockmah (rechts darunter) symbolisiert die Weisheit und die kinetische Kraft (den Zodiak) der Schöpfung.

Binah (links gegenüber) symbolisiert die heiligende Intelligenz (in mikrokosmischer Zuordnung ist sie die rechte Gesichtshälfte) und die formgebende Kraft der Schöpfung (Saturn); auch sie wird Elohim genannt. Chockmah und Binah bilden zusammen ein Paar als höchster Vater und höchste Mutter der Schöpfung. Der Name Gottes, das Tetragrammaton JHWH kommt vor allem dieser Manifestationsstufe zu.

Diese Triade offenbart die in ihren Emanationen wirksame göttliche schöpferische Kraft.[1]

Das zweite Funktionsdreieck: Chesed (4), Geburah (5) und Tiphereth (6)

Dieses Dreieck stellt den in der Schöpfung wirksam werdenden mentalen, ordnenden und strukturgebenden Willen dar.

Chesed symbolisiert die Barmherzigkeit (die zusammenhaltende Intelligenz, Jupiter), ihre mikrokosmische Entsprechung im Menschen ist der linke Arm.

Ihr gegenüber steht Geburah – auch Din genannt. Sie symbolisiert Stärke, Härte und Gerechtigkeit (Mars). Diese Sephira verfügt über eine Wurzelintelligenz, die sie mit Binah vereint. Mikrokosmisch entspricht sie dem rechten Arm.

Auf dieser Ebene ereignet sich – trotz der harmonisierenden Kraft und der vermittelnden Intelligenz von Tiphereth (Sonne, Christusbewusstsein; die mikrokosmische Entsprechung ist die Brust) – das, was in der Kabbala das Urböse genannt wird. Tiphereth steht in der mittleren Säule.

„Der Hypertrophie der richtenden Gewalt von Geburah/Din, die im Verband der Urpotenzen heilig ist, entsprang verselbständigt, aus dem Verbande losgerissen, das Urböse.“[2]

Das Böse ist die Störung der Harmonie der Schöpfung, die Trennung dessen, was geeint sein sollte. Da alle Sephiroth wie Glieder in einer Kette miteinander verbunden sind, muss die Wurzel des Bösen in einer Störung in ihrem Zusammenwirken liegen. In Binah (Saturn), der Mutter der Schöpfung, ist möglicherweise der Grund dafür zu finden, dass Geburah (Din) ein Übermaß an Kräften empfängt und ihre Fähigkeit der Härte und Stärke überzieht – und sich damit selbst in gewisser Weise aus der Schöpfungsordnung ausgrenzt und damit zugleich alles, was aus ihrer Sicht dem „rechten Maß“ nicht entspricht. Eine noch tiefere Ursache für die Störung der Harmonie und für die Schwierigkeit, das rechte Maß in der Schöpfungsordnung zu finden, kann in Gott selbst liegen, und zwar in dem Element von ihm, das sich der Schöpfung versagt; die Kabbalisten sehen es letztendlich im gestaltlosen Ain Soph, das auch im aktiv wirkenden Gott anwesend ist.

Das dritte Funktionsdreieck: Netzach (7), Hod (8) und Jesod (9)

Die beiden Sephiroth Netzach, die siegreiche Schönheit (Venus, verborgene Intelligenz) und Hod, die Herrlichkeit (vollkommene Intelligenz, Merkur) stehen einander gegenüber. Mikrokosmisch entsprechen sie der Hüfte, den Lenden und den Beinen; sie offenbaren das Prinzip der Bewegung.

Jesod auf der Mittelsäule (reine Intelligenz, Mond) sammelt die zu ihm von „oben“ kommenden Emanationen und reinigt und harmonisiert sie. Er wird darum der Gerechte genannt. „Ist auch nur ein einziger Gerechter auf Erden, so erhält er die Welt“ heißt es im Safer ha-Bahir.[3]

Indem Jesod alle Kräfte der Sephiroth konzentriert, strömen sie über ihn in die Weltseele und in die menschlichen Seelen ein. Sie ergießen sich dazu in die zehnte Sephira, in Malkuth, auch Schechina genannt. Die mikrokosmische Entsprechung von Jesod sind die  Fortpflanzungsorgane. Er stellt die kosmische Potenz des wirkenden Schöpfers dar; mit ihnen befruchtet er Malkuth/Schechina. Sie findet ihren Ausdruck in der dichten Form. Mit ihrer glänzenden Intelligenz repräsentiert sie das Königreich Gottes auf Erden, in das der Baum des Lebens gepflanzt wird.

Malkuth/Schechina enthält in sich die 32 Wege der Weisheit und der Selbsterkenntnis, die auf der absteigenden Linie der Involution – den Säulen der Erkenntnis – entstanden sind.

Sie können nun auf einem Weg der Evolution nach oben mit Hilfe von Tiphereth (auf der Säule des Gleichgewichts) in das neue Christusbewusstsein umgewandelt werden, um dann zurückzuführen bis zur Quelle des Lebens in Kether.

Malkuth/Schechina ist – außer Kether und Binah – die dritte Sephira, die den Gottesnamen Elohim trägt. Malkuth/Schechina ist der Inbegriff der Gegenwart (der Wohnstatt) Gottes in der Welt. Sie wird bildlich beschrieben als ein übersinnlicher Lichtglanz oder als „Flügelschlag der Schechina“.

Die drei Triaden werden zusammen mit Malkuth/Schechina das Tetragrammaton genannt, der Gottesname, der aus den vier Buchstaben JHWH besteht und Ausdruck seines vierfachen dynamischen Schöpfungsprozesses ist: Von den vier Konsonanten ist Yod das Prinzip seiner Kraft, Heh das Prinzip der Struktur, Wav das Prinzip der Bewegung und nochmals Heh – nun als vierter Buchstabe – das Ergebnis der ersten drei Buchstaben, die Manifestation bzw. die Form.[4]

In der gesamten Schöpfung verbirgt sich die Problematik des gestaltlosen Nichts. Sie ist in jeder erschaffenen Gestalt zu finden. Das unendliche, verborgene Nichts, Ain Soph, enthält das Ehyeh: Ich werde sein. So gibt es also im Sein eine Art Freiraum, ein Nichts in jedem Geschöpf.

Liegt darin nicht die Möglichkeit zur selbstschöpferischen Aktivität, zu einem freiheitlichen Mitwirken an der Schöpfung – so dass diese sich nicht nur von oben, sondern auch von unten her von Herrlichkeit zu Herrlichkeit entfalten kann?

 

 


[1] Gershom Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit, S. 44

[2] Gershom Scholem, Die Geheimnisse der Schöpfung, Frankfurt/Main 2018, S. 40

[3] Gershom Scholem, Sefer ha-Bahir, Das Buch Bahir, Hamburg 2021, §71

[4] Jeff Love, Ibid. S. 43

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