"Erst seit auf Erden ein jeder weiß von der Schönheit des Schönen, gibt es die Hässlichkeit; erst seit ein jeder weiß von der Güte des Guten, gibt es das Ungute." (Tao te King, Kap. 2)

ES

Nach einigem Nachdenken sickern diese Gedanken Lao-Tses ins Herz. Der Verstand mag sie für eine hochtrabende Metapher halten. Das Herz entdeckt die Wahrheit in ihnen, eine Wahrheit, die das Gewicht der Erde mit dem Licht der Sonne vereint, eine Wahrheit, die es zu verstehen und umzusetzen gilt, wenn wir eine große Sehnsucht nach der Stille und dem Einssein der Dinge verspüren. Wenn der Geist still wird, vermag das Herz zu tanzen, vereint mit dem Rhythmus der Welt.

Der Weise Nisargadatta Maharaj lehrte, dass es möglich ist, über die Tendenz, andere Menschen, ihre Ansichten und Lebenserfahrungen zu mögen oder abzulehnen, hinauszuwachsen und dass uns dies zu tiefer Liebe führt. Rudolf Steiner riet seinen Schülern, zu lernen, den Meinungen anderer Menschen tief zuzuhören, ohne eine Position einzunehmen und für oder gegen sie Stellung zu beziehen. Tiefes Zuhören, ohne zu urteilen, führt uns dazu, uns in einen anderen Menschen einzufühlen und die Trennung zwischen uns und anderen zu überwinden. Wir erlangen die Fähigkeit, die Seele eines anderen wahrzunehmen.

Wo Bewunderung oder Abscheu vorherrschen, da regiert das Ich. Der Mangel an Kontakt mit der Quelle der Stille, unserem tiefsten Wesen, führt zu unausgewogenen Polaritäten.  Unser Bewusstsein ist dann vom Stamm der Ewigkeit abgeschnitten; es gleicht einem Ast, den die rauen Wasser des Flusses mal an das eine und dann wieder an das andere Ufer werfen. So fallen wir von einem Extrem ins andere, gelangen von Freude zu Abscheu und erzeugen Leid für uns selbst und andere.

Ist die Liebe einer von zwei Polen? Es gibt die LIEBE und die Liebe. Die Quelle der kleinen Liebe sind Mangel, Not und Hunger. Die kleine Liebe entsteht aus Abhängigkeit und auch aus Dankbarkeit, wenn jemand kommt und ihr Nahrung gibt. Sie ist verletzlich; immer gibt es jemanden, der sie verletzen kann. Deshalb ist sie im Innern mit dem Hass verbunden, der Waffe der Schwachen.

Die Quelle der Großen Liebe ist die Fülle. Sie fließt aus der Verbindung mit der Quelle des Lebens, in der alle Potentiale vorhanden sind. Große Liebe nährt und erfüllt. Sie vereinigt die Pole. Sie ist ein Strom, der alles erfassen und zur Quelle lenken möchte. Eine Freude, die sich ausbreiten will und deshalb ihre Samen in die Herzen aller Wesen sät. Sie wartet geduldig darauf, dass die Samen aufgehen und der Raum vor Glück schwingt.

Die Große Liebe sieht überall Schönheit und das Potential der Schönheit. Sie hat die Vollkommenheit ausgesät. In unseren Herzen befindet sich eine Pforte zur Großen Liebe. Unsere kleine Liebe kann zur Großen Liebe werden, wenn wir die Nahrung für sie in uns selbst suchen. Dann erlebt unser Herz das „So-Sein“ der Existenz und es erkennt alles an, was lebt.

Ohne Worte, die die Dinge gefangen halten und sich Formen aus dem Gewebe der Ewigkeit herausschneiden, gelangt das Herz in die Lage, intuitiv den Wert von allem, was ist, zu erkennen und zu fühlen, die Einheit von allem, was ist.

Es ist einfacher, die Abwesenheit von Trennung zu erleben, wenn man einsam ist, schwieriger ist es, wenn man sich unter Menschen befindet. Doch gerade im Kontakt mit anderen erleben wir, was in uns noch klein ist und der Heilung bedarf.

Gibt es eine Notwendigkeit, der buddhistischen Methode zu folgen: „Folge dem Herzen und nicht dem Prinzip“? Es gibt Situationen, in denen wir die Regeln überschreiten müssen. Stellen wir uns vor, wir sind im Wald, und ein Reh kreuzt unseren Weg und taucht ein in ein Dickicht von Büschen. Wir treffen kurz darauf einen Jäger, der uns fragt, wohin das Reh gelaufen ist. Werden wir es dem Tod aussetzen, nur um die Wahrheit zu sagen?

Jeder Moment birgt die Chance, sich auf die Stille des Herzens einzustimmen. Der eine Moment ist still, der andere ist voller Lärm, der nächste wieder voller Stille. Die Unvollkommenheit enthält den Samen der Vollkommenheit. Ein Herz, das dies weiß, beginnt, das Böse zu umarmen; es entfaltet sich in der Großen Liebe, die „alle Sünden bedeckt“. Wir beginnen, alles so anzunehmen, wie es ist, frei von Konflikt und Widerstand. Schritt für Schritt reinigen wir unseren astralen Mantel von dunklen Flecken, die aus mangelndem Verständnis und fehlendem Urteilsvermögen geboren wurden und Emotionen erzeugen. Die Liebe ist ein „Licht voller Antworten“, ein Balsam, der alle Traumata lindert. Ihr heiliges, leuchtendes Band ist ein Band der goldenen Mitte; es wird immer deutlicher wahrnehmbar.

Die Worte, die wir sprechen, beginnen zu vereinen, nicht zu trennen. Sie werden zu einem Strom der Liebe, der alles zur Quelle des Glücks sammelt. Sie werden zu den Samen des Lichts, die wir in die Herzen unserer Brüder und Schwestern werfen, um sie in der Freude zu vereinen.

Das goldene Zentrum im Herzen gleicht einem leuchtenden Edelstein, einem freudigen, stillen Einssein. Es ist Gott in uns, der in diese Welt kommt, um das zu holen, was Ihm gehört.

Print Friendly, PDF & Email

Share

LOGON Magazine

Bestellmöglichkeiten

über unseren Online-Shop oder per Email: shop@logon.media

  • Einzelheft 10 €, inkl. Versand (Ausland 14 €, inkl. Versand)
  • Einzelheft digital 4 €
  • Print-Abo 36 €, 4 Ausgaben/Jahr, inkl. Versand (Ausland 52 €), fortlaufend, Kündigung jederzeit möglich.
  • Digitales Abo 15 €, 4 Ausgaben/Jahr zum Download (pdf), fortlaufend, Kündigung jederzeit möglich.

Unsere neuesten Artikel

Post info

Datum: April 23, 2020
Autor: Emilia Wróblewska-Ćwiek (Poland)

Bild: