Erde in mir, Himmel in mir

Drei Gaben besitzen wir, um unseren Himmel und unsere Erde immer wieder neu miteinander zu verbinden und zu integrieren.

Erde in mir, Himmel in mir

Ein Mythos der Maori erzählt, dass Himmel und Erde, das Ehepaar Rangi und Papa, am Anfang so eng in Liebe umschlungen beieinander lagen, dass ihre Kinder im Dunkeln lagen. Es fragte sich einer, wie es wäre, im Licht zu leben. Nach zahlreichen Versuchen schaffte es der Sohn Tane, die beiden ein wenig auseinander zu schieben.[1] So entstanden Zeit und Raum für unser Leben.

Die Fortsetzung der Geschichte spielt sich genau so ab wie bei Jakob Böhme:

Die Formen der Natur sind unzählig und jede erschafft einen Willen gemäß ihrer Eigenschaft. So entstehen Gegensatz und Kampf im Sein aller Lebewesen. Sie führen Krieg gegeneinander, halten sich in Gefangenschaft und töten sich gegenseitig.“ [2]

Entfernung

Tatsächlich sind in meinem Leben Himmel und Erde voneinander entfernt. Die klar und strahlend blauen Ideale meines Himmels spiegeln sich weder auf meinem Schreibtisch noch in meinem Garten. Am einem Ort herrscht die Computerfirma und am anderen herrschen die Schnecken. Schritt für Schritt besteige ich Berge, um meinem Himmel näher zu kommen. Mit jedem Schritt lasse ich Schwerkraft, Trägheit und Anhaftungen los. Meine Geschicklichkeit, Ausdauer und Selbstbeherrschung nehmen zu, und so kommt es vor, dass ich einen Berggipfel erreiche, wo ich die Kraft des Himmels und der Erde gleichermaßen durch mich hindurchströmen fühle. Und wem begegne ich dort oben ? Der T. (ich will ihn nicht verteufeln, obwohl oder weil ich ihn von früher kenne) kommt mir strammen Schrittes und freudestrahlend entgegen. „Ist das nicht wundervoll?“ schwärmt er. Als ich in der grauen Wüste meines Lebens umherirrte, war T. öfters  aufgetaucht und hatte mir das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Schau mal hier und schau mal da, wie wundervoll. Wie oft habe ich schon auf ihn gehört und bin brav, wie das Rotkäppchen, Blumen pflücken gegangen. Was hat er mir heute zu sagen? „Genieße deinen Erfolg, ruhe dich aus. Der Himmel gehört dir, die Erde gehört dir. Du bist frei. Es kann dir nichts geschehen.“ Ja, ich bin überzeugt, dass mir nichts geschieht, denn das Universum funktioniert haargenau, schon lange. Angesichts der Größe des Himmels und der Welt scheint meine Frage so unbedeutend: „Was tue ich mit diesem Augenblick meines Lebens?”

Ursprünge und Aussichten

Bei Rudolf Steiner[3] können wir lesen, dass in voratlantischen Zeiten die Sonne, der Mond und die Erde eins waren. (Rudolf Steiner nennt diese damalige Konstellation „Erde”). Damals bewohnten viele mächtige, strahlende Wesen die Erde, so erläutert er in hellsichtiger Schau: Engel, Erzengel, Urkräfte und höhere Hierarchien.[4] Jene Erde strahlte von Liebe, Bewusstsein, Energie und Schöpferkraft, wobei unser menschliches Vokabular dies nur in stammelnden Worten beschreibt. Der Mensch existierte als schlafender Keim. Wir waren dort, was unser Bewusstsein anbetrifft, so etwas wie Steine oder Pflanzensamen. Als die Sonne und später der Mond die Erde verließen, begann der Mensch aufzuwachen. Er empfing von außen die geistigen Schöpferkräfte und erlebte eine Dualität von ich und du, innen und außen, Himmel und Erde. Im Laufe langer Entwicklungszyklen entwickelte sich der Mensch, wurde pflanzenhaft, tierhaft, und das wars dann auch. „Menschen” werden wir sein, wenn wir das Sonnenpotential in uns entdeckt haben und schöpferisch, liebend und strahlend diese Erde bewohnen werden.

Bei Max Heindel [5] können wir lesen, dass der Mensch während der nächsten dreieinhalb Erdzyklen ganz besonders von „Merkurkräften” unterstützt und unterrichtet wird. Diese helfen uns, unsere höheren Bewusstseinsträger „aus dem Gefängnis des Körpers zu befreien, so dass dieser ein freies Wohnhaus statt eines Gefängnisses“ sein wird. Im Moment bewegt sich unser Denken meist nur im Rahmen von unbewussten Eingebungen, Instinkten, Blutstrieben und Emotionen. Unsere Denkaktivitäten erheben sich kaum über diese „astrale” Sphäre hinaus. Es kann also noch dauern, bis wir, oder einige unter uns, die Fähigkeit des Denkens in der Wirklichkeit, was bedeutet, außerhalb von Projektionen, außerhalb der „Spiegelsphäre”[6] beherrschen. Unter diesem Gesichtspunkt hat es keinen Sinn, sich über die aktuellen sozialen, ökonomischen, politischen Zustände aufzuregen. Ist es nicht beruhigend, zu wissen, dass das Universum mit unseren Unzulänglichkeiten rechnet?

Versuchungen

An dieser Stelle regt sich in mir der Impuls, mich beruhigt zurückzulehnen …, doch bald, in einem Hin und Her von Ruhe und Kampfeslust, denke ich an Ardjuna, der von dem göttlichen Krishna ermutigt wird, sich den Widersprüchen seines Lebens zu stellen (Bhagavad Gita). Ich bewege mich in den Garten. Dort kann ich meine sportlichen und strategischen Fähigkeiten schulen: gegen das Unkraut, gegen die Schnecken, natürlich mit Wertschätzung, denn alles hat seinen Sinn.

So hatte ich mich in der Wüste meines Lebens mit meiner Konsumhaltung befasst, auf dem Berg mit meiner Herrschsucht und trainiere nun im Garten Achtsamkeit, Kreativität, Geduld und natürlich die Kunst des Kampfes, nicht nur gegen die Schnecken, ich weiß nämlich, dass tief unter der Erde, dort, wo die größten Schätze liegen, auch ein Drache haust. Die Schnecken wollen mich vielleicht nur davon abhalten, in die Tiefe meines Erdschollens zu gehen. Aber darauf komme ich noch zurück. Während ich mich mit unverfänglichen Gartenarbeiten befasse, denke ich nochmal über den T. nach. Er hat nämlich drei Spezialgebiete, wobei er seine „Produkte” immer wieder anders verkauft. Habe ich das dritte verstanden? „Er führte ihn aber nach Jerusalem und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: „Wenn du Gottes Sohn bist, so wirf dich von hier hinab” (Lukas 4;9.) Heute fällt mir dazu Hollywood ein, Los Angeles, Stadt der Engel, hohe Zinnen, heiliges Holz. Alles ist nur Schein, alles Kino. Was wir sind und wahrnehmen ist so unwirklich wie ein Kinofilm, unsere Materie ist keine absolute Wirklichkeit. Und dann die Versuchung: Warum sollte ich mich mit solchem Schein befassen? Was dann dazu führt, dass meine eigene innere Welt mir genügt. Meine spirituelle, heile, ideelle Welt genügt mir, denn in dieser meiner Welt ist mir alles möglich. Ich begnüge mich mit einer Scheinspiritualität, währenddessen der Drache auf den wahren Schätzen der heiligen Erde sitzt. Wozu sollte ich ihn auch stören, wir haben ja nicht dieselben Interessen, denn Materie interessiert mich nicht …

Abenteuer

Das Rotkäppchen soll aber nicht zu Hause bleiben. „Eines Tages sprach seine Mutter zu ihm: Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus; sie ist krank …” [7] Mutter Erde schenkt dem Menschenkind Brot und Wein. Geist-Seelenkraft, Haupt und Herz, leuchtend rot aus Liebe, soll durch Täuschung und Gefahr (Blumen, Wald und Wolf), durch Achtsamkeit und zielgerichtetes Handeln (des Jägers) die Großmutter, die göttliche Mutter,Weisheit in mir, befreien. Auch Bilbo[8] der Held macht sich auf die Reise, und erst, als er freiwillig in der Höhle des Drachens ankommt, wacht dieser auf und bedroht ihn. Erst im Kampf entdeckt Bilbo sein Potenzial.

Wie schaffen wir es, unser geistiges Potenzial nicht in einer spießbürgerlichen Gemütlichkeit oder gewohnheitsmäßig lieblichen Spiritualität zu ertränken, die im Grunde nichts anderes als das Blümchensuchen des Rotkäppchens ist? Können wir wie Bilbo auf den Merlin hören, den geistigen Impuls in unserem Herzen, und den Auftrag annehmen?

Drei Gaben

Glaube, Hoffnung, Liebe sind unsere Fähigkeiten dazu. Gleichseitiges Dreieck, feuriges Dreieck einer gelebten Spiritualität, in der Himmel und Erde sich wieder umarmen können. Glaube ist unsere Energie und Substanz, welche die geistigen Sonnenkräfte wahrnimmt, wenn auch unbewusst, und uns mit ihnen verbindet. Glaube ist der unvorstellbare Funke, der erste Augenaufschlag beim Erwachen des Himmels in uns. Hoffnung zieht dann die geistigen Urkräfte in Zeit und Raum, in unser irdisches Leben hinein und lässt sie tief in unser Herz fallen. Hoffnung ist ein Sehnen und ein Verwandeln unserer Prägungen durch Zulassen der Wahrheit und Wirklichkeit. Liebe ist die Drachenkraft mit sechs Flügeln, die nicht mehr zerstört, sondern Himmel und Erde bewohnt. Glaube, Hoffnung und Liebe erscheinen in vollkommener Hingabe und schöpferischer Kreativität, jedes als Yin und Yang und damit als die sechs Flügel des befreiten Menschen.

Drei Stufen

Wenn wir die drei Gaben tiefer in unseren Alltag von Zeit und Raum hineinziehen, erscheinen sie als drei Stufen eines Integrationsprozesses, in dem wir unseren Himmel und unsere Erde immer wieder neu miteinander verbinden, integrieren. Auf der ersten Stufe erleben wir Inspiration. Eine intensive Berührung weckt uns, der Himmel berührt uns, hebt unsere Seele aus ihrer Erdscholle hinaus. Ein solches Erlebnis kann die Seele ein Leben lang nähren, wobei auch die Gefahr besteht, dass man sich lange, sogar ein Leben lang, mit dem Berührtsein begnügt. Unsere Seele erhebt sich dann gleichsam am Sonntag in Inspirationen und lebt unter der Woche einen gewöhnlichen Alltag. Himmel und Erde bleiben getrennt. Dann erschöpft sich die Kraft der Inspiration in der Theorie, zum Beispiel im Darüber-Reden und Lesen, in der Erinnerung, in Youtube-Videos, (“hör mal, der sagt das auch”) oder in sporadischen spirituellen Gruppenerlebnissen,  Wissenschaften, sogenannten Geisteswissenschaften, Konzepten, unserem inneren Kino. In solchen Blockaden stehen wir ganz besonders heute, individuell, kollektiv, wissenschaftlich, politisch, sozial, spirituell. Gleichzeitig wird aber dadurch die Unzulänglichkeit der theoretischen Dimension sichtbar.

Und das Universum versteht uns: wir fangen erst an, die Merkur-Uranuskräfte – geistige Erkenntnis und Liebe – In uns zu entwickeln. Dazu betreten wir die zweite Stufe: die Aktualisierung. Das Menschenkind, Rotkäppchen, nimmt den geistigen Impuls der Inspiration auf, um ihn in seinem Leben zu aktualisieren. Es gelangt in den dunklen Wald der eigenen Verstrickungen von Gut und Böse. Es tut bereitwillig alles Gute und landet trotzdem im Bauch des Wolfes. Diese zweite Stufe bedeutet, die Inspiration zu verwirklichen und durchs Handeln und Scheitern über Gut und Böse, Karma, Konzepte und Konditionierungen hinauszuwachsen, bis hin zur Großmutter Weisheit. Dafür brauchen wir Zeit, vielleicht Monate, Jahrzehnte, Leben. Wir ackern und säen und die Schnecken fressen die ganzen Salate. Bis wir den Wolf, den Drachen in uns erkennen und unsere Drachenkraft integrieren.

Die dritte Stufe bringt die Fülle der Verwirklichung durch Liebe. Der geistige Impuls der Inspiration manifestiert sich durch den Menschen. Die schöpferischen Geistseelenkräfte, unser Himmel, segnen unseren Alltag, unsere Erde, und machen unser Leben fruchtbar. Dies äußert sich konkret in einer Lebenshaltung und in Gaben der Einsicht, Empathie, Geduld, Tatkraft, Kreativität, Weisheit, Liebe und neuer Inspiration. Der erste Adam (Mensch) ward zu einer lebendigen Seele, und der letzte Adam zum Geist, der da lebendig macht.[9]

Aufgabe und Hingabe

Dies ist der Ruf der Erde an uns: wir Menschenkinder sollen, mit ihr zusammen, durch weitere Entwicklungszyklen hindurch zu einer Sonne werden [10], die nährend und liebend strahlt.

Die Zeichen der Zeit und das Rotkäppchen laden uns ein, das Weibliche in und um uns ganz besonders zu achten.

Mutter Erde nährt uns, auch wenn wir sie verletzen. Als „Kindmenschen” können wir Irrtümer nicht vermeiden. Gehen wir durch den dunklen Wald, hören wir auf den Wolf, pflücken wir die Blumen, geben wir sie dem Wolf. Es wird sich zeigen, dass alles nicht so schlimm war. Es war nur eine Gefühlsverwirrung in unserem Herzen, ein Feindbild in unserem Unterbewusstsein. Wenn der Jäger  mit Achtsamkeit und Tatkraft in Zeit und Raum handelt, wenn wir es wagen, unsere Willens- und Schaffenskraft wie Ardjuna zu benutzen, werden wir unser Leben verwandeln. Die „Großmutter”, unsere Weisheit, unser Geist wird frei sein für die Kräfte von Merkur und Uranus, der Liebe des Himmels.

 

Das Weibliche wird siegen, denn der Sieg kommt letztlich nicht durch Kampf, sondern durch Gnade. Dem Göttlichen gegenüber können wir nur Yin, weiblich, empfangend sein. Heute, wo Konzepte, Religionen, Theorien und unser eigenes Erkennen als unzulänglich demaskiert werden, kann unser Herz rein wie das Herz eines Kindes werden. Unsere Intelligenz kann weiblich werden, das heißt, empfänglich für Die Wirklichkeit, das wahre Leben, die Weisheit. Unser Handeln kann weiblich werden, eine Hingabe an die Kräfte des Himmels und der Erde. Dann wird das Leben zu einem Fest im Garten der Großen Mutter.

[1]   Rangi und Papa, Wikipedia
[2]   Jakob Böhme, De Signatura rerum, Kap. 2
[3]   Rudolf Steiner, Ägyptische Mythen und Mysterien, 12 Vorträge, Leipzig, Sept. 1908
[4]   https://anthrowiki.at/Hierarchien
[5]   Max Heindel, Die Weltanschauung der Rosenkreuzer, II. Teil Kap. XII, Die Evolution der Erde, Abschn. Der Einfluss des Merkur
[6]    Die für unsere gewöhnlichen „Sinne nicht wahrnehmbare Seite der Welt: „Jenseits”, „Hölle”, „Fegefeuer”. Das Göttliche, das „Reich Christi”, das „nicht von dieser Welt” ist, gehört nicht zu den polaren Sphären unseres Diesseits und Jenseits.
[7]    https://www.grimmstories.com/de/grimm_maerchen/rotkaeppchen
[8]   J.R.R. Tolkien, Der kleine Hobbit, dtv
[9]   1. Kor. 15, 45
[10]  Rudolf Steiner, a.a.O.

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Datum: Juni 6, 2023
Autor: Catherine Spiller (Germany)
Foto: girl-Юлия Правдина auf Pixabay CCO

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