Cornwall)In den letzten drei Jahren habe ich über 20 Wochen auf den Britischen Inseln verbracht. Neben dem wildgrünen Meer und den alten Steinen üben besonders die heiligen Quellen eine unergründliche Anziehungskraft auf mich aus. So pilgerte ich namentlich in Wales und Cornwall zu vielen Quellen, die mich bis in die entlegensten Winkel führten. Auf der Pilgerreise suchte ich nie nur die äußere Quelle, sondern durch die sinnliche Berührung mit ihr immer auch eine innere Bewässerung, als wäre etwas in mir gestaut und verhärtet, was sehnlichst der Erfrischung bedurfte. Rätselhaft mutete es mich an, dass das Wasser, das einst vom Himmel als Regen niederkam, nun aus umgekehrter Richtung, von unten aus dem Erdinnern, wieder gewandelt und gefiltert heraufströmte. So paradox es klang: aus dem unauslotbaren Tiefengrund quoll das einstige Himmelswasser, das einen langen Nachtweg durch die Gesteinsschichten der Erde hinter sich hatte, wieder hervor ans Licht der Oberwelt.
Das keltische Christentum muss noch ein tiefes Empfinden für die Heiligkeit der Quellen und ihr Himmel und Erde umspannendes Mysterium gehabt haben. An zahlreichen heidnischen Kultstätten wurden später kleine Kapellen, Altäre, Quellhäuser oder Einsiedeleien errichtet. Nahezu alle von ihnen fügten sich schlicht in die Wildnis ein, ohne den Charakter der urwüchsigen Orte zu zerstören. Hier wurde die Natur nicht vom mächtigen Kirchengeist gewaltsam zurückgedrängt, vielmehr wurde das Quellheiligtum zum Herzzentrum der neu errichteten Gottesstätte. Noch heute ist diese Aura vielerorts spürbar, wie etwa bei der St. Clether Holy Well am nördlichen Rand des Bodmin Moors in Cornwall. Vom kleinen Quellhäuschen fließt das Wasser direkt in die Kapelle, durchquert diese entlang des Altars und strömt zur anderen Seite hinaus in ein zweites Quellbecken. So ist die Kapelle von einer untergründigen Wasserader durchzogen, der zu Ehren sie überhaupt erst errichtet wurde. Angebetet, gefeiert und gepriesen wird hier das heilige Wasser aus den dunklen Erdtiefen und nicht nur der Vater im Himmel.
Ähnlich bezaubernd ist die Sancreed Holy Well im äußersten Südwesten Großbritanniens. Schon der kurze Fußweg dorthin ist ein Erlebnis. Er beginnt am Rande der Zivilisation in einem kleinen Dorf und führt vorbei an einigen Häusern und Gärten. Doch mit jedem Schritt verwildert er immer mehr, besonders im Frühjahr und Sommer, wenn ringsum dichter Farn, Blumen, Gräser und Sträucher wuchern, die bis hoch zur Brust reichen. Dazwischen bleibt meist nur ein schmaler Trampelpfad, von all den Vorgängern zur Quelle hin gelichtet. An seinem Ende öffnet sich der Pfad und ergießt sich in einen heiligen Hain, der mit Gebetsfahnen, Traumfängern und bunten Bändern geschmückt ist. Der Bezirk rund um die Quelle atmet noch die Zeitlosigkeit eines geschützten Heiligtums, das wie entrückt wirkt, als wäre es nicht von dieser Welt und stünde in einer anderen Seinsdimension. Schließlich wurde mir jedoch klar, dass ich meine spontane Wahrnehmung irreführend formuliert hatte und es sich genau andersherum verhielt: der heilige Ort gab mir erst einen Wink davon, was DA-Sein wirklich bedeutete und was es hieß, wirklich auf der Welt zu sein. Mit beiden Beinen auf der Erde und gerade dadurch dem Wunderbaren so nah.
Um zur Quelle selbst zu gelangen, ging ich aus der Mitte des Hains ein paar schmale Granitstufen hinab in eine winzige, gebärmutterähnliche Höhlenkammer, an deren grün leuchtenden Innenwänden Moos, Klee und Farn wuchsen. Dort fühlte ich mich wie im Schoß der Erde, im Bauch der Großen Göttin, an einem feuchten Dunkelort, der zugleich von innen heraus hell durchleuchtet war, was nicht nur an den Kerzen lag, die ich und andere Quellsucher dort entzündet hatten. Nein, es lag auch an der Regenerationskraft, die im Urbild der Quelle seit jeher webt.
Noch versteckter liegt die Madron Holy Well, deren Ursprung sich in tiefstem Matsch und dichtestem Gestrüpp verliert. Auf der Spurensuche versank ich bis zum Knöchel vollständig im Schlamm, der durch meine Schuhe und Socken hindurch bis auf die Haut drang. Ich sollte wohl nicht rein und unberührt bleiben, also nahm ich das Missgeschick humorvoll an und sah es als Zeichen und Aufforderung, den Kontakt mit der Erde nicht zu meiden. Später stieg ich mit nackten Füßen in das klare Quellwasser und wusch dort alle Schlacke wie bei einem Erneuerungsritual ab. Wieder umfing mich die Empfindung eines mütterlichen Erdwesens, das mich aufnahm in seinen schillernden Nachtbezirk. Doch wie war es möglich, dass die Quellorte solche spirituellen Erfahrungen in mir weckten?
Die persönlichen Erlebnisse, die ich hier nur andeutungsweise als Einführung aufgefächert habe, korrespondieren mit einem alten Mythos aus dem keltischen Sagenkreis, der mich schon viele Jahre intensiv beschäftigt. In Chretien de Troyes Le Conte du Graal findet sich der Prolog eines unbekannten Autors mit dem Titel Elucidation, der nur in einer einzigen mittelalterlichen Handschrift überliefert und daher weitestgehend in Vergessenheit geraten ist.[1] Die wunderbare Geschichte erzählt von der Ursache der unfruchtbaren Ödnis, die das sagenumwobene Wasteland bedrohte. Der Erzählung nach soll es in fernen Zeiten eine Vereinbarung zwischen den Feen und den Menschen gegeben haben, von deren Einhaltung der Gesundheitszustand des ganzen Landes abhing. Jedem, der auf den Waldwegen unterwegs war und dank der Feenstimmen zur Quelle fand, wurden dort von den Jungfrauen die köstlichsten Speisen und Erfrischungen in einem gralsartigen Gefäß dargereicht. Die Menschen achteten die Feen und suchten ihre Nähe. Die Feen wiederum dienten offenen Herzens dem Menschen mit ihren nährenden Gaben. So wurde der fluide Austausch zwischen der hintergründigen Geisteswelt und der vordergründigen Erdenwelt gewahrt und beide lebten und pulsten in ihrer ursprünglichen Einheit. Doch König Amangons und seine Männer verletzten das uralte Abkommen, indem sie die Brunnenmädchen mit roher Gewalt schändeten und ihre Gastfreundschaft missbrauchten. Da zogen sich die Feen verwundet zurück und beschenkten die Menschen nicht länger mit ihren kostbaren Gaben. Die Quellen verloren ihr Sprudeln, die Wiesen und Blumen verdorrten und alle Bäche trockneten aus. Doch so sehr die Menschen auch suchten und sich nach dem Verlorenen sehnten, sie konnten die verborgenen Feen nicht mehr finden. Ihre Stimmen blieben stumm und die Erde wurde krank … und mit ihr erkrankten auch die Menschen.
Wie oft stand mir auf meiner Pilgerreise dieses Mythenbild eindringlich vor Augen. Immer verknüpft mit der schmerzlichen Einsicht, dass Gewalt und Dürre seit den alten Zeiten nicht ab-, sondern zugenommen hatten. Ich selbst war ja genauso ein Zeitgenosse und konnte mich daher nicht aus der Verantwortung stehlen. Welchen Beitrag also vermochte ich zu leisten, um an der Wiederbewässerung mitzuwirken? Ich erinnerte mich, dass auch die Gralssucher einst zu ihren Fahrten aufgebrochen waren, um das Wasteland wieder zu bewässern. Die gestauten Wasser zu befreien, das war die über allem stehende Aufgabe. Schon oft hatte ich erfahren, dass die Feen nicht gänzlich verschwunden, sondern sich nur in einen inneren Bezirk zurückgezogen hatten. Im Nachtbereich der Seelenquellen konnten sie auch heute noch gefunden werden. Doch – und das war für mich die erschütternde Erfahrung – selbst an den äußeren Quellorten konnten ihre Stimmen wieder erklingen, wenn, ja wenn sich der innere Mensch aus vollster Kraft der Seele den Phänomenen der äußeren Erdenwelt wieder zuwandte. Gestaut war ja vor allem auch der Fluss meiner Wahrnehmung, die sooft ins Innere abgeschweift war und dabei übersehen hatte, dass im naheliegenden Erdenstoff die gleichen Geisteskräfte wirksam waren wie in den Tiefen der Seele. Ich hatte getrennt und einen Unterschied gemacht, wo in Wahrheit die zwei Herzkammern des einen Herzens schlugen. Mit der gleichen Intensität und Aufmerksamkeit, mit der ich in der Meditation oder auch in der Traumbetrachtung nach innen blickte, wollte ich die Offenständigkeit für alles Anwesende erlernen, ganz gleich, ob es nach alter Einteilung mehr einem Inneren oder Äußeren zugesprochen wurde.[2]
„Dich lieb ich Erde! trauerst du doch mit mir!“ dichtet Hölderlin.[3] Wer sein Herz der Erde aufschließt, wer die Erdung wiederfindet, wer vom hohen Ross heruntersteigt und die Berührung mit dem Schlamm nicht scheut, der findet einen Trost und Beistand: die Erde, die Urmutter, die Mit-Leidende, die dank ihrer Nähe im Mit-Trauern zugleich Freude schenkt. Eine Freude, die der Möglichkeit einer zweiten Geburt entspringt. Doch im Leben erneut geboren zu werden ist nur möglich, wenn man beherzt dem Weg des Wassers durch die Nacht- und Tiefenschichten folgt.
Die Erde schonen heißt auch auf sie zurückkehren – aber eben wirklich, als Liebender, als Offenständiger und nicht, um sie auszubeuten und mit Füßen zu treten, nur damit der stolze Kopf seine Macht mehrt und ohne Wegzoll in die eigene Erhabenheit entfliehen kann. So, wie wir alle unweigerlich Anteil haben an den Schandtaten des Königs Amangons, so sind wir alle dazu aufgerufen, die an der Erde verübten Verbrechen zu verwandeln und das Vertrauen der Brunnenfrauen wiederzugewinnen.
Darüber nachsinnend öffnete sich mir ein neues Verständnis für Novalis‘ Hymnen an die Nacht:
„Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht.“[4]
Wieso wendet sich der Dichter der Nacht zu? Wieso führt ihn der Weg abwärts und nicht aufwärts?
„Trägt nicht alles, was uns begeistert, die Farbe der Nacht? Sie trägt dich mütterlich und ihr verdankst du all deine Herrlichkeit. Du verflögst in dir selbst – in endlosen Raum zergingst du, wenn sie dich nicht hielte, dich nicht bände, dass du warm würdest und flammend die Welt zeugtest.“[5]
Ich erfuhr die Nachtseite nicht mehr ausschließlich in den Träumen und Weltinnenräumen wie früher, ich erfuhr sie nun auch im Schoß der Erde. Nicht nur symbolisch, sondern ganz wirklich, im sinnlich fühlbaren Phänomen der Erdquelle. Aber ebenso suche ich sie fortan in der Begegnung mit allen anderen irdischen Erscheinungen, seien sie noch so klein und unscheinbar. Es gibt keinen Unterschied zwischen Innen und Außen. Alles Seiende trägt ganz selbstverständlich in sich eine verborgene Nachtseite, die jedoch, wie Goethe treffend bemerkt, nicht hinter den Phänomenen zu suchen ist. Sie ist schon offenbar, jederzeit, wenn uns nur die Sinne dafür aufgehen. Nur indem die Nacht uns mütterlich an die Erde bindet, erhalten wir die notwendige Begrenzung, um wieder als Gewandelte und Ergriffene mit neuen Sinnen aus ihr hervorzugehen.
„Nicht mehr war das Licht der Götter Aufenthalt und himmlisches Zeichen – den Schleier der Nacht warfen sie über sich. Die Nacht ward der Offenbarungen mächtiger Schoß – in ihr kehrten die Götter zurück – schlummerten ein, um in neuen herrlicheren Gestalten auszugehen über die veränderte Welt.“[6]
Der bloße Blick zum Himmel hilft uns Heutigen nicht mehr. „Denk nicht immer Himmelsvergleiche bei der Schönheit – sondern sieh die Erde“,[7] ruft daher auch Peter Handke uns zu. Doch um die Erde zu sehen und von ihren zarten Wundererscheinungen zu erzählen, bedürfen wir der Nacht, die uns an die Hand nimmt und mit dem Geschick der Erde zusammenwebt. Die Nacht ist das Brautkleid der Erde. Nur wer sich nicht scheut, es zu tragen, kann eine echte Beziehung mit ihr eingehen und von ihr ins Vertrauen gezogen werden. Dank dieser gelebten Erdnähe kann es uns gelingen, die ausgebeutete Erde zu schonen und unsere Ohren wieder für die Stimmen der vergessenen Quellen zu öffnen.
Martin Spura ist Autor der Werke:
Das verweigerte Opfer des Prometheus: Der Ariadnefaden der abendländischen Geistesentwicklung, 2009
Autobiographie der Nacht: Ein Traumbuch, 2015
[1] Nigel Bryant, The Complete Story of the Grail, Appendix 1: The Elucidation Prologue, D.S. Brewer, Cambridge 2018, S. 557 ff.
[2] vgl. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt 2006, S.94f.
[3] aus: Friedrich Hölderlin, Dem Sonnengott
[4] Novalis, Werke, Hymnen an die Nacht 1, Lizenzausgabe für die Bertelsmann GmbH, Gütersloh o.J., S.72/73
[5] Hymnen an die Nacht 4, S.88/89
[6] Hymnen an die Nacht 5, S.102/103
[7] Peter Handke, Die Lehre der Sainte-Victoire, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1996, S. 56