C.G. Jung und der Durchbruch des Selbst

Das Selbst vermag in unserer herkömmlichen Weltanschauung keine Realität zu werden. Dazu ist eine innere Selbst-Revolution erforderlich, die den Menschen völlig über seine eigenen Grenzen hinausschleudert in eine andere Wirklichkeit, die wir „Göttlich“ oder „Ganzheit“ nennen.

C.G. Jung und der Durchbruch des Selbst

In nahezu allen Mythen wird die Entwicklung des Menschen als Heldenreise beschrieben, in der der Held, sich seiner königlichen Abstammung nicht bewusst, nach allerlei Prüfungen schließlich die Prinzessin gewinnt und die Königschaft erwirbt. Diese Mythen kann man nur verstehen, wenn man den Menschen als ein Seelenwesen betrachtet, das sich mit Hilfe von Geburt und Tod immer weiter entwickelt. Der Psychoanalytiker C.G. Jung (1875-1961) spricht vom Weg des Menschen zu seinem Selbst.

In gewisser Weise sind wir bereits, was wir noch werden sollen. Wir sind es bereits, aber wir sind uns dessen nicht bewusst. Es geht in unserem Leben also um eine Bewusstseins-Entfaltung, in der wir uns erfahren als Teil einer größeren Ganzheit, die schon immer, von Anbeginn an, besteht. Hier auf der Erde, für jeden sichtbar, sind wir nicht nur Seele, sondern das Ergebnis dreier Kräfte, die auf geheimnisvolle Art zusammenwirken.

Körper – Seele – Geist

Die theologische und philosophische Frage nach dem Zusammenhang von Körper – Seele – Geist wandelt sich in der psychologischen Perspektive bei C.G. Jung zu Ich – Psyche – Selbst. Dabei fasst er die Psyche oder Seele als Bindeglied auf zwischen dem begrenzten Radius des Ich-Bewusstseins und der unbestimmbaren Ebene des Selbst. Jung schreibt über die Beziehung von Körper/Ich, Seele/Psyche und Geist:

Geist ist das Feinste und Oberste, die Seele als das ligamentum spiritus et corporis [das Band zwischen Geist und Körper] ist gröber als der Geist, hat aber „die Flügel des Adlers“, um das Schwere zu höheren Regionen emporzuheben. …

Und: Wie der Mensch Jesus nur dank dem Lichte, das vom oberen Christus ausging und die Naturen in ihm schied, bewusst wurde, so wird durch das Licht, das von Jesus ausstrahlt, der Keim im unbewussten Menschen erweckt und zu einer ähnlichen Unterscheidung der Gegensätze veranlasst.[1]

            Ich

Das Ich sieht Jung als das Zentrum eines Bewusstseinsfeldes, dem alle Bewusstseinsinhalte präsentiert werden. Nur das verbleibt im Bewusstsein, was vom Ich gesehen und angenommen wird und zu dem ein Zugang bestehen bleibt. Inhalte, die es abweist, werden in das Unterbewusstsein, das von Jung so bezeichnete Persönliche Unbewusste, abgedrängt. Das Ich-Bewusstsein ist biologisch stark mit dem stofflichen Körper verbunden und drückt sich in ihm und durch ihn in Denken, Fühlen und Handeln aus.

Ich und Körper bilden durch Identifikation eine Einheit, ein „Ich-bin“. Jung spricht auch von „Mein Selbst“, da Identität und „Mein-igkeit“ wesentliche Kennzeichen des Ich darstellen. Der Mensch erlebt sich dadurch jedoch als getrennt von der Natur und von seinen Mitgeschöpfen.

Das Ich entspricht zwar dem Zentrum des Bewusstseinsfeldes, wird aber ebenso durch die Gesamtheit aller unbewussten Inhalte beeinflusst, die sich in der Peripherie an das Bewusstseinsfeld anschließen.

         Psyche

Die Seele oder Psyche umfängt das Ich. Sie hat eine individuelle Natur und wirkt durch das Ich hindurch. Sie ist das Lebensprinzip, das dem Ich Lebensenergie (Jung spricht von Libido, in anderer Bedeutung als Freud) zuführt und Bewusstsein und Wirkmacht ermöglicht und ihm auch eine Richtung gibt. Sie ist all das, was das Ich bewegt, also die Gesamtheit aller bewussten und unbewussten Prozesse im Menschen einschließlich aller verdrängten inneren Anteile, die Jung als Schatten der menschlichen Seele bezeichnet.

So veranlasst sie es oft zu unüberlegten oder impulsiven Taten, aber auch zu kreativen Handlungen und Mitgefühl. Es ist Jungs Anliegen, in seinem psycho-therapeutischen Ansatz diese widerstreitenden Pole durch Erkennen, Annehmen und Integrieren wieder in ein Gleichgewicht zu bringen, denn:

Bewusstes und Unbewusstes ergeben kein Ganzes, wenn das eine durch das andere unterdrückt und geschädigt wird. Beide sind Aspekte des Lebens.[2]

Indem keine Seite negiert wird und alles, was an Gedanken und Gefühlen aufsteigt, auch sein darf und in achtsamem Gewahrsein betrachtet wird, kommt es zu einer Läuterung und Befriedung der Seele, die sich immer mehr ihrer eigentlichen Aufgabe als Bindeglied zwischen Ich-Bewusstsein und Selbst zuwenden kann. Dies ist bei Jung ein wesentlicher Schritt der Individuation auf dem Weg zum Selbst. Denn in dem Maße, in dem die Psyche Anteile des Schattens erlöst, tritt das wahre Wesen der Seele stärker hervor. Sie ist dann zunehmend in der Lage, das Wesenhafte und Verbindende auch in allen Dingen zu erkennen. Das macht sie freier, nach der Vollendung im Selbst zu streben.

Jung zitiert dazu Augustinus: Unser Ende muss unsere Vollendung sein, unsere Vollendung aber ist Christus. Und fügt hinzu: Seine Braut ist die menschliche Seele.[3]

            Selbst

Christus ist bei Jung das Symbol für das Selbst, das göttliche oder das Geist-Prinzip im Menschen. Er löst sich damit von der historischen Gestalt der Theologie und betont ausdrücklich den transzendenten Aspekt, der erst in einer geläuterten Seele an seinem Wirken erkannt kann.

Das Selbst ist immer da, es ist jenes zentrale, archetypische Strukturelement der Psyche, das als Anordner und Lenker der seelischen Ereignisse von allem Anfang an in uns wirkt, so Jung.

Der Geist, das Selbst, ist für das Ich und auch für die Psyche in seinem tiefsten Wesen nicht ergründbar. Es mag aber geschehen, dass er die Seele ergreift, durchdringt und in dieser Vereinigung selber zum leitenden und sich-selbst-erkennenden Prinzip wird. Dies wäre die Vollendung der Individuation in der symbolischen chymischen Hochzeit, wie Jung sie aus seiner Beschäftigung mit der Alchemie beschreibt.

Bei seinen Untersuchungen zum Selbst bezieht sich Jung überhaupt viel auf die Schriften der frühen Gnostiker wie Basilides (ca. 85-145 n. Chr.) oder Valentinus (ca. 100-160 n. Chr.) und ebenso  auf das Verständnis und die Bilderwelt der mittelalterlichen Alchemie, hier insbesondere des Alchemisten Gerardus Dorneus (ca 1530-1584).

Um sich nun dem Begriff „Selbst“ und der Bedeutung des Christusgeschehens bei Jung sehr viel tiefer nähern zu können, bedarf es eines umfassenderen Verständnisses dessen, was er Archetypus nennt.

Die Archetypen und das Kollektive Unbewusste

In den Träumen seiner Klienten stieß Jung immer wieder auf Symbole und Motive, die sich kulturübergreifend in allen Religionen und auch in den Mythen aller Völker finden ließen. In der Regel bestehen sie als komplementäre Gegensatzpaare wie Held und Magier, König und Königin, Himmel und Hölle, Christus und Satanael, aber auch als Gut und Böse, Yin und Yang, Ewigkeit und Vergänglichkeit und dergleichen mehr.

Während das persönliche Unbewusste die Schattenanteile der individuellen menschlichen Psyche umfasst, nahm er hier ein kollektives Unbewusstes der gesamten Menschheit an, das sich in inneren Bildern und Empfindungen ausdrückt, die spontan und unwillkürlich im Bewusstsein aufsteigen. Die Motive bezeichnet Jung als Archetypen.

Archetypen sind Projektionen einer übergeordneten Wirklichkeit in das begrenzte menschliche Erkenntnisvermögen und weisen als Symbol auf eine dahinterstehende Wahrheit hin. Diese Wahrheit ist dem direkten Zugriff des rationalen Verstandes entzogen und kann sich ihm daher nur als ein Paradoxon offenbaren. Jung sagt dazu:

… denn nur das Paradoxe vermag die Fülle des Lebens annähernd zu fassen, die Eindeutigkeit und das Widerspruchslose aber sind einseitig und darum ungeeignet, das Unerfassliche auszudrücken.[4]

Gegensätze erzeugen stets Spannung, sobald es zu einer Identifikation mit der einen Seite und zu einem Negieren der anderen (entweder-oder) kommt. Eine Auflösung ist nur dann möglich, wenn beide Seiten zugleich anerkannt und angenommen werden können (sowohl-als auch). Dies kann dazu führen, dass die darin gebundene Energie freigesetzt wird und das Bewusstsein plötzlich über beide Ausgangspole hinausgehoben wird. Es kommt zu einem Bewusstseinssprung auf eine Ebene völlig anderer Art, die in Bezug auf den ursprünglichen Gegensatz zu einem Weder-Noch geworden ist. In ihr ist alle Dualität aufgehoben und die Einheit des Urbeginns wieder erreicht.

Jung spricht vom Mysterium coniunctionis, das aus der Coniunctio oppositorum, der Vereinigung der Gegensätze, hervorgeht und die Seele wieder mit dem Unus mundus, der noch potentiell vorhandenen ursprünglichen Einheit der Schöpfung, verbindet.

[…] ist die Individuation ein „mysterium coniunctionis“, indem das Selbst als eine hochzeitliche Vereinigung der Gegensatzhälften erfahren […] wird.[5]

Diese aber [die coniunctio] stellt eine unbedingte Vorbedingung der Ganzheit dar.[6]

Archetypus des Selbst ist bei Jung Christus, der die dazu gereifte menschliche Seele in die Lage versetzt, die Grenze der Dualität zu durchdringen und so wieder in die Einheit zurückzukehren. Der Archetypus hat also eine Doppelnatur mit zwei Ansichten oder Perspektiven:

Die untere ist die Perspektive der Psyche, die noch in der Trennung und Erfahrung der Dualität befangen ist. Die obere ist die Perspektive des Selbst, der göttlichen Wirklichkeit, die zu leben der Psyche noch versagt ist.

Der Archetyp ist sozusagen ein Schnittpunkt zwischen Erscheinung und „reinem Sein“, zwischen Form und Idee. Der Mensch muss daher seine Bewusstseinsgrenzen sprengen und zurücklassen, wenn er sich dem Selbst nähern möchte. Wird dieser Bewusstseinssprung nicht vollführt, bleiben die alten Gegensätze weiterhin als getrennt voneinander bestehen. Und so bleiben auch Gut und Böse in der Welt.

Jung schreibt sehr klar über das kollektive Unbewusste der Menschheit und das Wesen und den Ursprung der Archetypen:

[Es] … stellt sich heraus, dass alle Archetypen überhaupt von sich aus günstige und ungünstige, helle und dunkle, gute und böse Wirkungen entfalten. […] Dabei darf man nicht außer Acht lassen, dass die Gegensätze ihre moralische Zuspitzung erst im Gebiete des menschlichen Wollens und Handelns erlangen […] Wir wissen letzten Endes nicht, was Gut und Böse an sich sind. Es steht also zu vermuten, dass sie einer menschlichen Bewusstseinsnotwendigkeit entspringen und darum jenseits des Menschen ihre Gültigkeit verlieren.[7]

Die Menschheit verharrt immer noch unbewusst in der Einflusssphäre der Archetypen, ohne sie bewusst erkannt und durchschritten zu haben. Archetypen sind so die Wächter vor dem Tor zur Realisation des Selbst.

Der Durchbruch des Selbst

Das Selbst vermag in unserer herkömmlichen Weltanschauung keine Realität zu werden. Dazu ist eine innere Selbst-Revolution erforderlich, die den Menschen völlig über seine eigenen Grenzen hinausschleudert in eine andere Wirklichkeit, die wir „Göttlich“ oder „Ganzheit“ nennen.

Die Energie dazu müssen wir selber mobilisieren, indem wir Gegensätzen nicht in einseitiger Identifikation ausweichen, sondern sie annehmen und ins Bewusstsein und ins Gleichgewicht bringen. Dort können sie integriert werden, sodass sie keine psychische Energie mehr binden.

Doch damit allein ist der Sprung in die Dimension des Selbst nicht möglich, solange noch eine verstandesmäßige Vorstellung oder Intention damit verbunden ist. Mit der Vereinigung der Gegensätze als Vorbereitung verbindet sich ein Mysterium, das Mysterium coniunctionis, bei dem ein Drittes, das latente Selbst, hinzukommt. Indem es Ich-Bewusstsein und Psyche durchdringt, kann es umgekehrt diese ergreifen und transformieren, sobald beide diesem Ergreifen nicht mehr im Wege stehen: Ich-Bewusstsein und Psyche verlieren sich dann im Selbst, das aus der Sphäre der Ganzheit herabgestiegen ist.

Als Mensch sind wir Mitwirkender und Mitwisser in diesem Prozess, der unser Vorstellungsvermögen bei Weitem übersteigt. Wir können uns ihm nur anvertrauen, um einmal ganz in ihm aufzugehen. Dann gibt es keine Grenzen mehr – dann sind wir als Welle wieder eingetaucht und verbunden mit dem großen Ozean.

 


[1] C.G. Jung, Aion, Beiträge zur Symbolik des Selbst, Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau, 8.Auflage 1992, S. 77

[2] T. Wischmann, Der Individuationsprozess in der analytischen Psychologie C.G. Jungs – eine Einführung, Heidelberg, 2. Auflage 2006, S. 22 (www.dr.wischmann.de)

[3] A.a.O., S. 49

[4]  A.a.O., S. 18

[5] C.G. Jung, Aion, a.a.O., S. 72 f.

[6] A.a.O., S. 40

[7] A.a.O., S. 282

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Datum: November 7, 2021
Autor: Manfred Blauth (Germany)

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