In einem Leben kann die Frage auftauchen: „Warum gib es mich eigentlich?“ Äußere Umstände mögen Anlass dazu gegeben haben. So ist vielleicht ein geliebter Mensch verstorben, oder es sind Lebenspläne vereitelt worden, oder eine tödliche Erkrankung ist ausgebrochen …
Aber auch ohne erkennbaren Anlass kann sich die Frage stellen, und das mit existenzieller Macht: Warum gibt es mich? Eine gedankliche Antwort ist von vornherein wertlos, wie etwa: Meine Eltern haben mich gezeugt, oder: Ich bin das Ergebnis einer Inkarnation.
Das Existieren tritt ins Bewusstsein
Vielmehr tritt das Existieren ins Bewusstsein, jenseits aller Umstände, unter denen es stattfindet. Das Dasein fragt nach sich selbst: Warum gibt es mich? Das Bewusstsein gerät ins Wanken, wird in seinen Fundamenten erschüttert. Denn die Frage kommt nicht aus seinem Bereich, stammt nicht aus dem Drang, philosophisch oder weltanschaulich den Sinn des Lebens erkunden zu wollen. Die Frage führt an einen Abgrund.
„Noch ein Schritt, und ich werde irre“ – eine Empfindung wie diese kann auftreten.
Jedem ist klar, dass er existiert, aber das Bewusstsein kann seine eigenen Wurzeln nicht erfassen, den Grund seines Existierens. Es müsste sich dazu den Boden unter den eigenen Füßen wegziehen und ins Nichtsein, ins Nicht-Existieren eintauchen.
Und dennoch drängt sich ihm die Frage auf, ungebeten: Warum gibt es die Welt, das Leben, mich?
Die Frage hat sich mir in meiner Jugend gestellt, und durch sie habe ich den inneren Abgrund kennen gelernt. Und sie hat mir die Augen dafür geöffnet, dass sich wohl in jedem Menschen ein solcher Abgrund befindet.
„Adam, wo bist du?“
„Adam, wo bist du?“ Das ist eine ähnliche Frage; sie steht in der Genesis des Alten Testaments (1. Mose 3, 9). Nach der Erfahrung des Abgrundes könnte die Antwort lauten: „Ich bin hier, auf dieser Seite des Nichts.“
Jeder Mensch sucht sicheren Boden. Unser Leben besteht zum wesentlichen Teil darin, uns zu festigen. Bereits das müsste uns misstrauisch stimmen. Ist unsere Existenz denn nicht von vornherein fest und sicher? Nein, sie ist es weder im Äußeren, noch im Innern. Deshalb bauen wir uns als Ich auf, suchen Schutz in Gemeinschaften, führen unseren Lebenskampf, individuell und kollektiv, sammeln materielle und immaterielle Werte an. Wir „bekleiden“ uns mit Materie, Kultur, Religion. Tun wir dies (unbewusst), um dem „nackten Existieren“ auszuweichen?
Der Moment des Todes zeigt, dass dies vergeblich ist. Er stellt unser Bewusstsein auf den schmalen Grat zwischen Sein und Nichtsein. Wohin gehen wir, wohin geht unser Ich, wenn wir auf die „andere Seite“ treten?
Unser Leben hat eine offene Flanke, eine Wunde, die nicht heilt. Damit müssen wir leben, und so schauen wir uns Filme an oder lesen Bücher, in denen das Abgründige wirkt, in denen es uns in dosierter Form präsentiert wird, so dass wir es bewältigen können. Eine Flut von Krimis und Horrorgeschichten wogt um die Welt. Wir nutzen sie, um das Gruseln zu lernen, den Umgang mit dem Tod, mit dem Abgrund zu erproben, den Umgang mit der tief in uns sitzenden Angst.
Und natürlich ist der Abgrund der große „Grund“ für die Religion.
Wenn er aber zu uns gehört, will er dann vielleicht aufgelöst werden, will er „erlöst“ werden? Will die Frage nach dem Existieren mich auf einen Weg der Erlösung drängen?
Den Abgrund füllen
Wie wäre es, wenn ich das Nichtsein, wenn ich den Abgrund, den Tod als integralen „Teil“ von mir annähme, ja wenn ich versuchte, ihn auszufüllen? Aber womit?
Es gibt kein Entkommen. Die Frage nach dem Existieren ist mit existenzieller Gewalt aufgetreten. Ich muss den Schritt ins Ungewisse wagen, wenn ich mir noch offen ins Gesicht schauen will. Dabei ahne ich, dass ich nach einem solchen Schritt nicht mehr derselbe sein werde. Der Ort meiner Existenz ändert sich, und auch die Art meiner Existenz. Und mit einer gewissen Neugier male ich mir aus, was wohl mit der Frage nach der Existenz dabei geschieht.
Wenn der Abgrund zu mir gehört, könnte in ihm auch die Möglichkeit beschlossen sein, mich selbst durch ihn zu erringen, durch ihn zu meiner Ganzheit zu gelangen.
Die Philosophen können mein Dasein nicht endgültig erklären. Der Schritt, der mir aufgegeben ist, geht über das Philosophieren hinaus. Mit Hilfe einer Weltanschauung kann ich mich mit „positiven Energien“ umhüllen, aber es ist eine Scheinsicherheit, wenn ich dabei den inneren Abgrund unangetastet lasse. Auf einem inneren Weg allerdings ist es möglich, dass ich mich der „offenen Flanke“ stelle, der Wunde, dem Abgründigen in mir.
Ich nehme dabei die Hilfe einer spirituellen Gruppe in Anspruch. Dabei stoße ich bald auf die Sicherheiten, die ich mir aufgebaut habe und auf meine Eigenschaften, die mir meinen Lebensweg bislang ermöglicht haben. Sie stellen sich mir in den Weg und erklären gleichsam: „Willst du dich wirklich selbst verlieren? Bleib doch mit den Beinen auf dem Boden!“ Doch der Entschluss steht fest, und ich versuche, meine Sicherheiten und Eigenschaften auf neue Weise zu nutzen. Zu Beginn sollen sie zu „Dienern“ auf meinem Weg werden, dann allerdings wird der Weg mich über sie hinaus führen.
Der feste Punkt im All
Der griechische Mathematiker und Philosoph Archimedes (285-212 v. Chr.) sagte: „Gebt mir einen festen Punkt im All und ich werde die Welt aus den Angeln heben.“ In spirituellen Lehren wird ebenfalls von einem „Punkt im All“ gesprochen, einem Funken des kosmischen (geistigen) Feuers.
Eines Nachts war ich, so scheint es mir, von ihm ergriffen worden, war ich „er“. Hatte ich dies geträumt? Oder hatte ich ihn durch meinen Glauben, durch meine Ausrichtung auf ihn selbst erschaffen? Er war da, in Ruhe und Klarheit, er war „ich“, als reines Bewusstsein. Nun erkenne ich, dass er sich in vielfacher Weise vorher angekündigt hatte, unter anderem durch die Frage nach dem Grund des Existierens. Dann aber auch durch die Lichterfahrungen besonders bei den Zusammenkünften der Gruppe, der ich mich angeschlossen habe.
Der „feste Punkt im All“ strahlt sich aus, als Ideal, Frage, Beunruhigung des Herzens, als Licht. Sein Licht hat eine besondere Eigenschaft. Wenn ich es assimiliere, wenn ich versuche, es in meinem Leben anzuwenden, wandelt es sich. Es macht sich zu seelischer „Substanz“, zum „festem Boden“ in mir. In einer Analogie zur Quantenphysik könnte ich sagen: die „Welle“ kollabiert durch mich zum „Teilchen“.
Immer wieder neu wage ich den Schritt ins „Meer meiner Dunkelheit“, begebe mich gleichsam auf die „Nachtmeerfahrt“, von der die Alten sprachen, und erlebe, wie sich Nichtsein in mir zu Sein wandelt. Immer wieder neu ringe ich um mein Gleichgewicht, versuche, Sicherheit zu gewinnen, mich selbst, gleichsam als neues Land aus dem Meer.
Kaum vorstellbare Dimensionen
„Menschsein“ ist in seiner Größe und Möglichkeit unbegreiflich. Das liegt, so scheint mir, an dem inneren Abgrund, dessen Ausmaße unermesslich sind. Es gibt wohl kein Ende für die Erfüllung, die wir erleben können, wenn wir daran gehen, ihn zu füllen, wenn wir das geistige Licht, das uns entgegen strömt, in uns wirken lassen, wenn wir uns auf sein Wirken abstimmen. Bisher kenne ich mich als sterbliches Wesen. Durch meine Schritte ins Nichts erfahre ich eine unsterbliche Komponente von „mir“. Ein Punkt im Transzendenten leuchtet mir entgegen und vermittelt mir die Gewissheit, zu mir zu gehören. Er ist die Gewähr, dass in mir eine andere, eine weiterführende Identität beschlossen liegt. Je mehr ich mich ihr hingebe, umso mehr führt sie mich auf einen Weg zu „mir“, zu mir als einem anderen.
Alles Bisherige war sinnvoll, hat mich zur Reife geführt, zum „Herabfallen der Früchte vom Baum“. Alle Erfahrung kann nun zum notwendigen Humus werden, in dem das Neue wachsen kann.
So wurde ich durch lange Zeiten hindurch, ohne es zu wissen, auf den Weg ins Nichts vorbereitet. Dabei war auch mein Scheitern wichtig, zum Beispiel mein vergebliches Bemühen um Ideale. Nun erst zeigt sich mir, glaube ich, der ganze Wert und die Notwendigkeit der Ideale. Sie sind Impulse, die mir jetzt helfen, den Abgrund zu füllen. Denn sie allein können die notwendigen Seelenstrukturen bilden, mit denen ich dem Nichts Land abgewinne. In unserer Welt angewandt, führen sie in der Regel zum Scheitern, ja oft zu ihrem Gegenteil. Auf dem inneren Weg jedoch werden sie zu seelischen Kräften, zu „Substanzen“, wie das Licht, dem sie entstammen.
Jeder Mensch kann zum „kommenden Menschen“ werden. Jeder kann auf einem inneren Weg in die „nackte Existenz“ eintreten, indem er das Alte auf verantwortete Weise zurücklässt, es zu Humus werden lässt, um die Geburt des Neuen in ihm zu ermöglichen. Dann kann er neu „bekleidet“ werden.
Die Göttin
Die überwältigende Erfahrung ist, dass wir bei jedem dieser Schritte ins Ungewisse von Liebe getragen werden, einer Liebe, die keine Grenzen kennt. Wir benötigen sie auf unserem Weg, und das Besondere ist: sie benötigt uns, um sich vollständig entfalten zu können.
Ein Kind macht die Mutter glücklich, weil es die Liebe der Mutter ganz und gar benötigt. In den Mysterien der Vergangenheit verehrte man „die Göttin“. Ich lerne nun die Göttin erneut kennen, die lebendige kosmische Liebe, die Mutter, die Braut, die Geliebte. Sie reicht mir die Hand und ermutigt mich zu einem kindlichen Glauben auf meinem Weg, zu einem unbegrenzten Vertrauen, einer vollkommenen Hingabe.
Mir scheint, dass die Schöpfung jubelt, wenn die Liebe auf diese Weise wirksam werden kann, dass das Wunder der Verwandlung darauf wartet, stattfinden zu dürfen, das Wunder, bei dem das Nichts zum Sein wird, der Abgrund zu Seele.
Der Sohn
Den festen Punkt im All begreife ich als den „Sohn“. In ihm individualisiert sich der „Vater“, das universelle schöpferische Wesen, das universelle Bewusstsein. Unendlich viele dieser Punkte gibt es, Funken des Geistes. Sie alle sind eins mit dem Vater, und besitzen doch Individualität. Sie sind einzeln und gemeinschaftlich der „Sohn“. Und alle Sterblichen, die von ihm, dem Sohn, ergriffen sind, sind eins in ihm, wie auch der Vater und der Sohn eins sind (Joh. 17, 21, 22). Immer wieder neu erlebe ich Momente des Ergriffen-werdens, fühle ich mich eins mit ihm. Und dann bin ich wieder sein Gegenüber, der andere Pol, der nach Ruf des Ewigen horcht.
Die unsterbliche Individualität, der „Sohn“, bedarf meiner. Ich bin sein Spiegelbild, sein Geschöpf, sein Gegenpol. Er spiegelt sich in mich hinein, in jedem Moment. Er erfährt sich in mir als Individualität. Es scheint, dass er in mir zu sich selbst erwacht und mein Erwachen sein Erwachen ist. Er sieht sich mit meinen Augen, er sieht die Welt mit meinen Augen. Und meine Augen werden in solchen Momenten zu seinen Augen.
Sollte ich mich nicht in jedem Moment aufgeben, um mich durch den, der ich im Transzendenten bin, neu zu empfangen?
Das Ich, das ich auf dieser Seite des Abgrundes errungen habe, ist ein „geliehenes Ich“, Abglanz der unsterblichen Individualität, zu der ich gehöre. Ich habe den Abglanz auf vielfache Weise missbraucht, um nur mich selbst aufzubauen und bin an meinem Scheitern gereift. Doch nun kann ich mich ihm bewusst schenken, dem „Götterfunken“, kann ihm das Geliehene zurückgeben. Seine Freude wird zu meiner Freude. Und die Frage nach der Existenz, die mich bedrängt hatte? Sie findet ihre Antwort, sie beantwortet sich selbst auf meinem Weg zu meinem unsterblichen Pol.
So empfange ich Orientierung. Ich musste die Nacht betreten, musste meine Dunkelheit annehmen, um das Leuchten des Sternes zu erleben, der zu mir gehört.