Rilke Projekt Transformation: Vor Weihnachten 1914 (Auszug 1)

Was willst du feiern, wenn die Festlichkeit der Engel dir entweicht? Was willst du fühlen? Ach, dein Fühlen reicht vom Weinenden zum Nicht-mehr-Weinenden.

Rilke Projekt Transformation: Vor Weihnachten 1914 (Auszug 1)

Doch drüber sind, unfühlbar, Himmel leicht
von zahllos Engeln. Dir unfühlbar. Du
kennst nur den Nicht-Schmerz. Die Sekunde Ruh
zwischen zwei Schmerzen. Kennst den kleinen Schlaf
im Lager der ermüdeten Geschicke.
Oh wie dich, Herz, vom ersten Augenblicke
das Übermaß des Daseins übertraf.
Du fühltest auf. Da türmte sich vor dir
zu Fühlendes: ein Ding, zwei Dinge, vier
bereite Dinge. Schönes Lächeln stand
in einem Antlitz. Wie erkannt
sah eine Blume zu dir auf. Da flog
ein Vogel durch dich hin wie durch die Luft.
Und war dein Blick zu voll, so kam ein Duft,
und war es Dufts genug, so bog ein Ton
sich dir ans Ohr … Schon
wähltest du und winktest: dieses nicht.
Und dein Besitz ward sichtbar am Verzicht.

Musik

Ein neues Fühlen fängt in mir an,
ein eigenartiges Empfinden.
Es hat mit einer anderen Welt zu tun,
mit der Innenwelt der Dinge.

Mein Fühlen drängt dorthin,
und ich meine, es kommt daraus hervor.

Ich lebe im Außen.

Was willst du feiern, wenn die Festlichkeit der Engel
dir entweicht? Ach, dein Fühlen reicht
vom Weinenden zum Nicht-mehr-Weinenden.
Doch drüber sind, unfühlbar, Himmel leicht
von zahllos Engeln. Dir unfühlbar.

Mir wird deutlich: Ich lebe im Außen. Hier ist der Ort meiner Existenz.
Ich habe hier eine Aufgabe zu erfüllen.

Ich soll Brücke sein zur Innenwelt,
ich soll das Innere der Dinge beleben.
Dadurch empfangen sie ein anderes Maß, ein höheres Maß.

Deshalb treten die Dinge an mich heran, wenden sich mir zu.
Sie wollen aufgenommen werden in mein Fühlen,
wollen mitgenommen werden ins Innere,
hin zu einem höheren Maß.

Es gibt ein Sternenmaß in uns.
Universelles lebt in uns.

Ich beginne, etwas davon zu erfahren.
Und ich spüre, dass die Dinge das merken.
Sie möchten, dass ich mich auf sie einlasse.

Du fühltest auf. Da türmte sich vor dir
zu Fühlendes: ein Ding, zwei Dinge, vier
bereite Dinge. Schönes Lächeln stand
in einem Antlitz. Wie erkannt
sah eine Blume zu dir auf. Da flog
ein Vogel durch dich hin wie durch die Luft.
Und war dein Blick zu voll, so kam ein Duft,
und war es Dufts genug, so bog ein Ton
sich dir ans Ohr …

Die Dinge spüren: da ist einer, in dem seelisch etwas erwacht,
der Innenraum der Welt.
Alles hat dort seinen Ursprung.
Die Dinge wollen wieder dorthin erhoben werden.

Die Aufgabe des Menschen – ich erschaudere, wenn ich daran denke,
wie wenig wir sie erfüllen.

Ich soll Brücke sein, auf der die Dinge
wieder in Berührung kommen mit ihrem Ursprung.
Und das soll im Bewusstseinstrom des Menschen stattfinden.

Ich soll sie in mein Herz aufnehmen,
in den Strom meiner Hingabe an den Ursprung.

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Date: July 28, 2021
Author: Katrin u. Carsten Mainz
Photo: Anita Vieten

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