(Zu Teil 1)
Die wilde Seite des Menschen
Ein zentraler Satz des Parzival lautet in mittelhochdeutscher Sprache: “diu menscheit hat wilden art.”[i] Dieser Satz ist umso bedeutungsvoller, da er mit dem Namen der Gralsburg korrespondiert, die Wolfram Munsalvaesche[ii] (Berg der Wildnis) nennt, oder an anderer Stelle auch Wildenberc.[iii] Daran anknüpfend wird in der Erzählung auf dem Brackenseil ein Herzog mit dem Namen “Ehcunaver von der wilden Blume” erwähnt.[iv] Diese wunderbare Wildblume ist der Schlüssel zum Gral. In ihrem wilden Blütenkelch schimmert die ganze, unermessliche Fülle der Schöpfung. Es zeigt sich ein umwälzender Bruch mit dem offiziellen christlichen Gottesbild. Der Gral erscheint nicht mehr im geschützten kirchlichen Weihebezirk, sondern in der nackten Ausgesetztheit an die innere Wildnis. Die Morgenröte des Grals geht in der Wildnis der Seele auf – oder sie geht nicht auf. Demgemäß nennt Rudolf Steiner den Gral “das tiefste Innere der menschlichen Natur” oder auch den “Schatz der Seele”.[v] Und dieser Schatz der Seele wird entzündet und erweckt durch die Liebe. Durch die Liebe, die selbst ein Wildes ist und daher das Herz in die Wildnis ruft.[vi] Und wenn Gott – wie es in zahlreichen spirituellen Strömungen heißt – nichts als die Liebe ist, dann ist er eben kein reglementierender Gesetzesgott, sondern ganz unweigerlich ein wilder Gott voll ungezähmter Lebenskraft, dessen Liebe sprießt und überquillt wie das Grün der Erde.
Das Weibliche – heilig und natürlich
Ein weiterer Verständnisschlüssel liegt in dem nahezu zeitgleich auftretenden Ideal der höfischen Liebe mit dem des Marienkults. In den Geschichten rund um den Heiligen Gral wird die Frau einerseits als teuflisches Geschöpf, das zur Sünde verführt, gefürchtet, aber zugleich wird sie als holde Jungfrau emporgehoben und wie eine heilige Reliquie verehrt. Die geliebte Jungfrau wird dem Ritter zum Gral des Herzens. Analog dazu wird der Gralskult in vielen Erzählungen zu Ehren Marias vollzogen.[vii] Die Troubadoure nennen Maria gar den Gral der Welt. Der Gral korrespondiert dann folglich mit dem weiblichen Schoß, und auch der ursprüngliche keltische Kessel hatte bereits auf die weiblichen Mysterien verwiesen. Der unlösbare mittelalterliche Konflikt bestand gleichwohl darin, dass Maria im Christentum unbefleckte Himmelskönigin ist, die ihr Kind in Reinheit empfangen hatte. Im Heidentum war die Göttin hingegen auch fruchtbare Erdkönigin, die keine Scheu empfand sich mit allen Sinnen auf das Diesseits einzulassen. Diese Frau Minne, die heilige Mutter Erde, die Sovereignty of the Land – oder auf der inneren Ebene die Seele, Anima und Muse – sie ist durch die lange währende Herrschaft des Patriarchats und des Logos in Vergessenheit geraten. Die Gralsdichter mussten also die Nachtseite hervorkehren und den Rückweg zur Wildnis im Menschen suchen, um so auch die verschollene Göttin wiederzufinden. Oder, wie Aniela Jaffé, eine Schülerin C.G. Jungs, es auf den Punkt bringt: „Erst wenn die Entfremdung des Eros vom sakralen Bereich überwunden ist, kann sich der Mensch in seiner Ganzheit und Einheit entfalten.”[viii]
Maria Magdalena war die Gefährtin von Jesus
In diese Richtung deuten auch mehrere gnostische Evangelien, wenn sie Maria Magdalena zur intimen Gefährtin von Jesus erklären. Ist es da noch verwunderlich, wenn Lancelot, Schionatulander und Sigune vom Gralsweg abkommen und alles dem Minneweg opfern? Ja, sind nicht Gralsweg und Minneweg in Wahrheit eins? In der Kabbala und auch in einigen alchemistischen Traktaten wird erzählt, dass die weibliche Seite Gottes mit den Geschöpfen ins Exil auf die Erde gegangen ist. Dadurch aber lebt und webt ein göttlicher Teil bis hinein in die Natur.
Die Suche nach dem Gral – ein Weg der Ganzwerdung
So entpuppt sich die Suche nach dem Gral als ein Weg der Einheit und Ganzwerdung, der die Wunde der unvereinbar scheinenden Gegensätze heilen will. Die geistige Verwandlung des inneren Menschen wird sich auch auf die äußere Natur belebend und verwandelnd auswirken. Besonders in heutiger Zeit inmitten der Klimakrise und der sich häufenden Naturkatastrophen rückt die bedrohte Erde wieder in den Mittelpunkt unserer Betrachtung. Die Ökobewegung macht sich für den Klima- und Umweltschutz stark, für eine artgerechte Tierhaltung und die Schonung der Ressourcen. Doch was ist mit der inneren Grünkraft? Muss das lebensfrische Grün in uns nicht ebenso geschont werden, wie das sprossende Grün der Erde? Wieso nicht auch für die aus dem Gleichgewicht geratene Atmosphäre der inneren Kreisläufe seine Stimme erheben? Ist der verborgen leidende Teil in uns keinen Aufschrei wert? Nicht nur der „geheimnisvolle Weg” führt nach Innen, wie Novalis sagt, im Innern ereignet sich auch die übersehene Naturkatastrophe, von der die äußere ein spiegelbildlicher Abglanz ist.
Wäre die innere Natur noch intakt, dann wäre es ganz natürlich, mit der äußeren in Einklang zu leben. Doch das innere Ökosystem ist längst zusammengebrochen, die Zauberwälder abgeholzt, die Meere der Wassernixen vergiftet, die Feenquellen ausgetrocknet, die Traumpfade verschüttet, die Schicksalsfäden der Moiren zerschnitten, ohne dass von offizieller Seite aus irgendetwas unternommen würde, um der Zerstörung entgegenzuwirken. Daher ist es von unschätzbarem Wert, voller Hingabe dem Gralsweg zu folgen, der uns offenbaren kann, wie notwendig es ist, die Schätze der Seele ebenso zu schonen wie die Schätze der Erde. Im Kern ist es ein und derselbe Schatz, der hier wie dort vom göttlichen Geist durchleuchtet wird. Es liegt an uns, an unserem Mut, die Gegensatzspannung zu umarmen und dieses einheitsstiftende Geisteslicht aufs Neue zu entzünden. Im wilden Blütenkelch des Grals, im Schoß der Göttin, in der Grünkraft der Seele, ist Raum für alles. Nichts ist ausgeschlossen, jeder ist eingeladen zur Verwandlung und Neugeburt, jeder aufgerufen zu Lebendigkeit und Freude. Und so wird denn die Gralsburg auch “Castle of Joy” und “Castle of Souls” genannt.[ix] Die Freude kann sich entfalten, wenn die Seele wieder in der Wildnis spielen darf, wenn sie lieben darf, die Geschöpfe genauso innig wie den Schöpfer, alles Natürliche genauso beherzt wie den Geist.
[i] Wolfram von Eschenbach, Parzival, Buch 9: 489, 5
[ii] z.B. Parzival, Buch 5: 251, 1ff. & Buch 9: 441, 13
[iii] Parzival, Buch 5: 230, 13
[iv] Titurel, Vers 157 (Ehcunat von Salvasch Florien)
[v] Rudolf Steiner, Die Welträtsel und die Anthroposophie (GA 54), S.437f.
[vi] Von diesem Geheimnis der Minne dichtet Walther von der Vogelweide: „Diu minne ist weder man noch wip, si hat noch sele noch den lip, si gelichet sich dekeinem bilde. ir nam ist kunt, si selbe ist aber wilde.” (L 81, 31 C 289)
[vii] z.B. im Prosa-Lancelot: Perlesvaus, Le Morte d’Arthur
[viii] Aniela Jaffé, Der Mythus vom Sinn im Werk von C.G. Jung, Daimon Verlag, Zürich 1983, S.148
[ix] Nigel Bryant (Übersetzer), The High Book of the Grail (Perlesvaus), D.S. Brewer, Cambridge 2007, S.196