Die sieben Stufen der Seelen-Entwicklung, wie sie von Catharose de Petri und Jan van Rijckenborgh formuliert wurden, hatten für mich[1] immer etwas schwer Zugängliches, aber irgendwie auch Geheimnisvolles an sich.
Gleich zu Beginn hatte ich meine Schwierigkeiten mit dem Begriff der Stufen. Dieser ruft in mir schnell Assoziationen eines Weges hervor, der linear, planbar, überschaubar ist. Aber meinen Weg kann ich beim besten Willen nicht als geradlinig bezeichnen. Vielmehr gehe ich mal vor, mal zurück, eher im Zick-Zack, eher intuitiv, ein bisschen chaotisch, aber auf keinen Fall nach einer „Landkarte“.
Und Stufen sind für mich eher kleine Schritte. Ein Schritt bereitet den nächsten vor. Schritte nach innen, wie in das Innerste einer Muschel.
Ich empfinde deutlich, dass die einzelnen Stufen nichts Trennendes haben. Ich erlebe sie als das unmerkliche Hinübergleiten von einem in den nächsten Raum. Alle diese Räume scheinen nach innen hin wie Kugeln ineinander zu liegen. Ich erlebe sie als durchlässige Räume, als „semi-permeable Zellräume der Seele“, in denen so etwas wie ein „Flow“ entsteht, aus dem Heilung und Gesundung erwachsen kann.
Diese durchlässigen Räume führen mich in eine andere Bewusstseinsdimension. Hier herrschen ganz andere Gesetze als die der Logik. Obwohl es nach innen hin immer konzentrierter wird, führen sie doch in eine völlige Weite und Offenheit.
Erste Stufe: Die Seele des Blutes – Stufe der Berührung
Der Beginn ist von größter Bedeutung. Was steht am Anfang? Es ist die Seele des Blutes. Fleisch und Blut stehen für meinen Leib – sie sind nicht etwas Abgetrenntes. Wenn es um Seelen-Bewusstwerdung geht, gehört mein Körper dazu. Er ist das Instrument, auf dem die Seele ihre Melodie spielen möchte, er ermöglicht ihre Entwicklung oder stellt sich ihr in den Weg. Er benötigt sorgsame Beachtung und Aufmerksamkeit.
Meine Persönlichkeit kann „leibhaftiger Zeuge des Geistes“ werden, des Geistes, der sich bis in die tiefste Materie, bis in den Körper hinein einsenken möchte. Also ist es gut, den Leib wahrzunehmen und zu kennen in allen seinen Facetten:
- in seinem Hunger nach Sättigung,
- in seinem leidenschaftlichen Aufwallen von Bedürfnissen nach Nähe und Berührung,
- in seinem manchmal aufbrausenden, manchmal verhaltenen Ausdruck von Gefühlen und Stimmungen,
- in seiner Pendelbewegung zwischen Anspannung und Entspannung, zwischen Einatmen und Ausatmen.
Alles dies gehört dazu, alles dies darf sein, alles dies kann ich ohne jedes Urteil sein lassen, wie es ist.
Aber da ist noch etwas Anderes: meine Hinwendung zu den geistig-seelischen Hintergründen des Lebens und meine Sehnsucht nach Einswerdung mit ihnen. Durch sie wird mein Leib manchmal von einer sehr feinen Schwingung ergriffen, die ihn erzittern lässt. Ein innerliches Erdbeben zieht sich durch den ganzen Körper. Mein Leib wird in diesem Moment von einer inneren Kraft bewegt. Er wird in Schwingung versetzt, in ein „Zittern“, das nicht ich gemacht habe. Das erlebe ich vor allem, wenn die Schwingungen des Geistes in der gemeinschaftlichen Hinwendung an ihn konzentriert werden.
Ich bin ergriffen.
Das ist die Stufe der Berührung.
Zweite Stufe: Die atmende Seele – Stufe der Verbindung
Einatmen – Ausatmen – Einatmen – Ausatmen…
Das Atmen geschieht ganz von selbst. Nicht ich atme, sondern Es atmet. Das Wort Atem weist auf ATMAN hin, das unveränderliche, unsterbliche und wahre SELBST.
Es ist eine fast schockartige Erkenntnis: Im Einatmen atme ich den Hauch des GEISTES mit ein – als Kraft, als Inspiration, als heilende Nahrung. Das, was der Körper automatisch tut, versuche ich nun, seelisch mitzuerleben.
Einatmen – Ausatmen. Dazwischen liegt noch ein kurzer Moment des Nichts. In dieser Atempause entsteht aus der Leere der schöpferische Impuls für das Ausatmen, für das konkrete Verwirklichen im Leben. Das können Ideen, Ermutigung und Trost sein. Bin ich wach genug, um diese Geschenke, diese Möglichkeiten zu erkennen, anzunehmen und zu verwirklichen?
Es atmet durch mich. Diese Verbindung „hält mich“. Egal, in welcher Weise das Ausatmen, das Verwirklichen geschieht – es muss nicht richtig sein, es kann auch niemals perfekt sein. Es ist immer der nächste Schritt auf dem Weg der Bewusstwerdung …, und dann gibt es schon wieder ein neues Einatmen, einen neuen Impuls. Erlebe ich ihn als eine Korrektur meines Bewusstseins durch Es, durch ATMAN?
Die atmende Seele erwacht für den Geist, sie erlebt die Verbindung mit ihm, ist ihm zugewandt, antwortet dem GEIST – ATMAN. Und die Folge ist: sie sieht sich in der Verantwortung.
Dritte Stufe: Die sich umhüllende Seele – Stufe der Beweisführung
Wenn ich etwas ausbrüte, zum Beispiel bei einer Krankheit, hülle ich mich in eine warme Decke ein. Etwas möchte ausgeschwitzt werden, sowohl körperlich als auch seelisch. Die von innen erzeugte Hitze schafft ein reinigendes Klima. Verhärtetes, Verkrustetes kann aufgeweicht werden.
Das Geistige tritt in hoher Schwingung in mich ein. Eine Hitze entsteht, eine Energie durchdringt mich, vor allem bei einer längeren spirituellen Zusammenkunft. Mein Körper reagiert dagegen, ähnlich wie bei einer Krankheit, er will seine Normalität aufrecht erhalten. Auch in meiner Psyche regt sich Widerstand. Mein Ego stellt sich quer. Ich gerate in Spannungen, der Geist will eine Verwandlung herbeiführen. Ich weiß, dass eine solche Krise zum Weg des Erwachens gehört. Das Wort Krise bedeutet, sich entscheiden zu müssen (kritein/griech. = sich entscheiden). Ich richte mich nach innen, wende meine Aufmerksamkeit dem zu, was in mir stattfindet, versuche, mich trotz allem den geistigen Impulsen zu überlassen.
Der Boden für eine neue Art der Empfänglichkeit bereitet sich vor.
Die Umhüllung, mein Gewahrsein dessen, was stattfindet, ist eine Beweisführung: ich erlebe es und weiß nun davon. Nach unserem heutigen wissenschaftlichen Verständnis besteht eine Beweisführung in einer Ansammlung von Fakten und überprüfbaren Daten. Doch auch dann, wenn Weisheit entsteht, hat sich etwas bewiesen. Das beruht nicht auf einer Ansammlung äußerer Fakten und Daten, sondern es ist ein „Herzensbeweis“. Er verändert mich. Meine Verwandlung beginnt in der „inneren Kammer“ des Herzens.
Vierte Stufe: Die wahrnehmende Seele – Stufe der Bewusstwerdung
In der Umhüllung entwickeln sich neue Wahrnehmungsantennen. Aber es ist kein äußeres Sehen, kein äußeres Hören. Es ist gewissermaßen ein Erspüren mit dem Herzen, ein Wahr-nehmen dessen, was stattfindet.
Manchmal empfinde ich ein Herzklopfen bei etwas, das ich intensiv wahrnehme. Dann weiß ich ganz unmittelbar, dass ich auf etwas sehr Wesentliches, Wahres gestoßen bin. Manchmal werde ich des Nachts wach und erlebe hinsichtlich einer Aufgabe oder eines Problems eine Klarheit, die berührend und mächtig im Raum steht. Ich kann dann einfach nicht mehr daran vorbeisehen.
Das Wahrnehmen mit neuen Sinnesantennen hat für mich etwas zu tun mit einer Aufmerksamkeit, wie sie in den Upanishaden in der Geschichte der beiden Vögel, die auf dem Ast eines Baumes sitzen, beschrieben wird:
Der eine Vogel isst von den süßen Früchten des Baumes, der andere schaut einfach nur zu, ohne zu essen.
Der eine Vogel ist ein Symbol für mein aktives Im-Leben-Stehen, der andere ist ein Bild für das neu erwachende „zweite“ Bewusstsein in mir. In ihm nehme ich einfach nur wahr was ist – bin stiller Zeuge.
Beide Perspektiven sind notwendig und ergänzen sich. Das aufmerksame Beobachten geschieht ohne Wertung – ohne Urteil, es geschieht von außerhalb der Dunstglocke des aktiven Handelns. Aber das Wort „außerhalb“ täuscht. Es ist ein Wahrnehmen aus der Einheit heraus. In diesem „Vogel“ stehe ich in der Einheit des Lebens, während ich in dem anderen aus dieser Einheit herausgetreten bin und meine Eigenständigkeit erlebe. Ich kann mich nun ergreifen lassen von dem Vogel der Einheit, dem Anderen in mir, der ich auch bin. Mit neuen Augen betrachte ich alles um mich herum. Räume einer seelischen Beziehung öffnen sich zwischen mir und allem, was ich intensiver wahrnehme. Es ist ganz deutlich: jedes Lebewesen reicht über sich hinaus, ist nicht begrenzt, hat seelische Aspekte, besitzt eine lebendige Schwingung. In diesen Schwingungen durchdringen wir einander.
(wird fortgesetzt in Teil 2)
[1] Die beiden Autoren sprechen gemeinsam als „ich“.