Die spielerische Weisheit des heiligen Narren
Kinder spielen sich ihre Welt. Im Spiel ist alles möglich, wird alles in sein Gegenteil verkehrt. Im Spiel geschieht Lockerung, das Auflösen von Identifikationsmustern. Es entsteht eine Öffnung für die Qualität der „Null“, für das nicht-identifizierte Dasein. Kinder und heilige Narren unterschiedlichster Gestalt haben uns in der Menschheitsgeschichte den humorvollen Pfad lebendigen Daseins gelehrt
Meine Enkelkinder sind zu Besuch. Über den gesamten Wohnzimmerteppich erstreckt sich das verzweigte Schienennetz einer Brio-Holzeisenbahn. Ein Bahnhof, ein Stellwerk, diverse Kräne, Bahnübergänge und Brücken vervollständigen die Spiellandschaft. Lena und Maila sind gerade damit beschäftigt, ein Kinderkrankenhaus aus Holzbausteinen aufzubauen, einen Operationsraum mit einem großen OP-Tisch, dann mehrere Krankenzimmer mit ca. 20 Krankenbetten.
„Es könnte ja mal einen Unfall geben“, erklärt Maila. Und schon setzt sich der Zug in Bewegung. Lena hat alle Zugwaggons mit Playmobil-Figuren vollgestopft. In der zweiten Kurve stößt der hintere Teil des Zuges vor einen Brückenpfeiler und kippt aus den Gleisen. Das Unglück nimmt seinen Lauf. Die Kinder telefonieren aufgeregt miteinander und bestellen einen Rettungszug, der schließlich auf dem Nachbargleis vorfährt und die verletzten Personen zum Krankenhaus transportiert. „Opa, kannst du ein Kind spielen, das sich den Arm gebrochen hat?“ Ich muss mich auf die Wohnzimmercouch, den „OP-Tisch“ legen. Die Kinder verständigen sich in Sekundenschnelle, wer jetzt die Notärztin und wer die Krankenschwester ist. Sie ziehen sich weiße Kittel an. Die Lage ist ernst, aber die Kinder können sich das Lachen kaum verbeißen. Nach einer Beruhigungsspritze wird ein „Gipsverband“ angelegt. Lena wickelt – nur unterbrochen von genüsslich verabreichten Betäubungsspritzen – immer neue Mullbinden um meinen Unterarm, meinen Oberarm, schließlich auch um meine Beine. Auf Opas Kopf werden von den grinsenden Mädchen zum Schluss noch zwei dicke Pflaster platziert, auch wenn dieser protestiert, dass er doch nur den Arm gebrochen hat.
Kinder spielen sich ihre Welt, spielen sich ihr Leben. Welch zauberhafte Landschaften entstehen dort! Wie einfach ist es für Kinder, sich maßgeschneiderte Rollen zurechtzubasteln, um sie im nächsten Augenblick gegen eine ganz andere Identität einzutauschen! Wie einfach ist es für sie, sich selbst Regeln und Vorschriften auszudenken, die stets nur kurzen Bestand haben. Im Spiel bleibt alles in Verwandlung. Aus Katastrophe wird Rettung. Aus bitterem Ernst wird ansteckende Fröhlichkeit. Auf feindseligen Kampf folgt eine überraschende Versöhnung. Auf plötzlichen Tod folgt zügige Auferstehung. Im Spiel ist alles möglich. Eine ganze Welt innerer Unendlichkeit, gegenwärtig, immer neu formbar.
Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …
In Matthäus 18,3 sagt Jesus: Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. (*1). Der indische Philosoph und Dichter Rabindranath Tagore übersetzt dieses Bibelwort mit folgenden Worten: Gott ehrt uns, wenn wir arbeiten, aber er liebt uns, wenn wir spielen. (*2).
Erscheint diese Aussage Rabindranath Tagores nicht als paradox, ja geradezu verrückt in der heutigen Zeit? Unsere Welt ist bis aufs Letzte durchrationalisiert und durchgetaktet. Eigentlich ist da wenig Spielraum, wenig Raum zum lebendigen Erproben von kreativen Lebensentwürfen, die mutig und in heiterer Gelassenheit „bespielt“ werden.
Aber der große Transformationsprozess in jedem Einzelnen und auf dem Planeten Erde beinhaltet genau diese gewaltige Herausforderung:
die Identifikation mit unserer Person, die Identifikation mit unseren Idealen, die Identifikation mit uns „angenehmen“ Gefühlen zu lockern, das Schwarz-Weiß-Denken unserer gegensätzlichen Standpunkte allmählich zu überwinden und uns zu öffnen für gemeinsame Ebenen des Bewusstseins, für Seelenebenen der Liebe und des Mitgefühls.
Kinder sind in ihren ersten Lebensjahren noch sehr innig mit dem Urgrund verbunden, mit dem Offenen, mit der schöpferischen Lebenskraft des Nicht-Festgelegten. Alles kann so und im nächsten Moment auch wieder ganz anders sein. Wir als Erwachsene aber haben Tausende von verfestigten Krusten des konditionierten Verstandes über diesem heiteren, offenen Urgrund entstehen lassen. Und jetzt verheddern wir uns in unseren Bewertungsmustern.
Im Spiel jedoch nähern wir uns der Sphäre des „Urbewusstseins“, der Sphäre der „Non-Dualität“ an:
Das Ur-Bewusstsein ist jenseits von Wechsel und Nicht-Wechsel. Wenn unsere wahre Natur verwirklicht ist, wird offensichtlich, dass Stille und Lärm (…)vom Geist erschaffene Gegensätze sind. Alles ist schon enthalten in der uranfänglichen Stille. Die Bewegung der Welt ist identisch mit Unbewegtsein. Sei still und erkenne, sei in Bewegung und erkenne. Alles ist tanzende Leere. (*3).
Im Tao Teh King heißt es: Das Schwere ist die Wurzel des Leichten; die Ruhe ist der Meister der Bewegung.“ (*4)
Der Mythos des heiligen Narren
Eine verhärtete, auf persönliche Identifikation, auf Rationalisierung und Zweckbestimmtheit ausgerichtete Welt braucht einen Gegenspieler, einen Aufrüttler, einen „Verrückten“, einen Clown. In allen Menschheitskulturen existiert der „Narr“ als Gegenentwurf, als Ausdruck lebendigen, unberechenbaren, spielfreudigen, unbestechlichen, freien Menschseins. In der Historie hat er viele Formen angenommen.
Till Eugenspiegel stellt die braven Bürger in ihrem Geiz, in ihrem Machtstreben und ihrer Dummheit bloß. Hans Wurst ist der Depp, der dümmer als der Dümmste ist und über den man einfach lachen muss. Mulla Nasruddin verkörpert den weisen Narren der arabisch-persischen Welt. Pierrot, der traurige Clown, und Harlekin, der schlaue Tölpel, haben in Frankreich und Italien eine lange Tradition. Der Zirkusclown mit der roten Nase entsteht im 18. Jahrhundert als Pausenclown. Und auch die Kirche gesteht dem Volk eine Zeit des Tabubruches zu, die Karnevalszeit, in der alle Regelungen und Gesetze – zumindest in kurzzeitiger Pause – außer Kraft gesetzt sind.
In der nordamerikanischen indigenen Kultur ist der sogenannte Heyoka nicht nur der Clown, auf den sich Erwachsene wie Kinder wegen seiner Späße, seiner bizarren Kleidung, seiner komischen Gesichter und seines grenzüberschreitenden Spiels freuen. Er ist auch der universelle, weise und wohlwollende Narr, der zugleich Spieler, Heiler, Erzieher und Lebenslehrer ist. Er lehrt den Fluss des Seins. (*5)
Der Heyoka-Clown ist von seiner sozialen Stellung her sowohl ein Zugehöriger der Dorfgemeinschaft als auch ein „outlaw“, ein von ihr Ausgestoßener. Von seinen Stammesmitgliedern erhält er den größten Respekt, denn seinen Auftrag, seine Vision hat er durch göttliche Berufung erhalten. Der Heyoka hat jede Angst vor Schuld, Strafe und Isolation überwunden, auch die Angst vor Schmerzen, Krankheit und Tod. Im Schöpfungsmythos der Jicarilla-Apachen ist er es, der die Menschen aus dem Dunkel der Erde ans Licht der Sonne führt:
Alles, was er in seinem Spiel tut, zielt darauf ab, die Menschen zum Lachen zu bringen, damit sie sich selbst spüren und von festgefahrenen Einstellungen und Konzepten loslassen. Er dreht die Rituale um oder übertreibt sie maßlos. Er tut alles, um die Selbstgefälligkeit und Vorurteile seiner Mitmenschen aufzudecken, um mit Lachen zu heilen und zu ermutigen. Er ist der unachtsame, heillose Fresssack, der „Hanoclown“ der Hopi-Indianer, der ohne Manieren und mit viel Genuss Wassermelonen in sich stopft. Er stolpert über die eigenen Füße. Er ist einfältig und naiv und posaunt seine Ängste und seine Meinung in die Welt hinaus (…). Er kann in die Welt der Anderen steigen, in ihre Verbohrtheiten und Verrücktheiten. Er mimt sie liebevoll und bringt selbst den Leidenden dazu, über das eigene Leid zu lachen. Er bringt das Lachen und die Lebenslust und festigt das natürliche Sein und die Verbundenheit im Stamm zum Göttlichen. Er hilft abwegige und unverbundene Einstellungen zu bannen und wird als Wandler, Verbündeter und Vermittler zwischen den Welten angesehen. (*5)
Der Weg der wahrhaftigen „Null“
Der Narr, der Tölpel, der Taugenichts – diese Gestalten sind „Nullen“, sie haben keine Macht. Sie wirken durch Anziehung, durch die Fähigkeit, die Menschen ihrer Kultur zum Lachen zu bringen, durch die Bereitschaft, mit Wahrheiten zu schockieren. Der Tor bleibt authentisch. Er entfremdet sich nicht durch aufgezwungene Rollenidentifikationen. Er geht das Wagnis des „Narrensprungs“ ein, er wagt es, den Weg des Herzens und der wahrhaftigen Null zu gehen. Er lebt in der absoluten Gegenwart, er nimmt mit allen Sinnen wahr, vor allem mit dem Unsinn. Sein Scheitern ist seine höchste Lust.
Sind wir nicht alle im Inneren solche Narren, wenn es um die Verbindung mit den Quellen des Lebens geht?
In unserem Kern sind wir doch eigentlich „gesund“, „kerngesund“, und das können wir erleben, wenn wir unsere Identifikationen, Meinungen und Überzeugungen lockern und loslassen können. Der Narr ermutigt uns, den eigenen Katastrophen und den eigenen Schatten geradewegs ins Auge zu schauen, uns zuzugestehen, dass wir „eine Null“ sind.
Die Null lebt dort, wo Widersprüche nebeneinander existieren können, wo wir merken, dass auch wir gegensätzlich und widersprüchlich sind, eben überhaupt nicht perfekt. Den Spiegel blank zu polieren, das bedeutet, sich durchlässig, ehrlich, einfach und biegsam zu machen, sich mit allen möglichen Rollen anzufreunden, gerade auch mit denen, die uns gegen den Strich gehen. Dann können wir werden wie die Kinder, dann können wir „heilige Clowns“ werden. Die Welt braucht sie nötiger denn je!
[…] Gott lass uns jeden tag auch heute dein licht sehen
lass uns nicht uns selbst verzwecken
und nur das notwendige das ernste tun
spiel mit uns gott und lass uns mit dir spielen
wie der wind auf dem wasser spielt im licht
wie das staunen und die neugier
auf dem gesicht des neunjährigen spielen
und die frühlingsblüten am straßenrand
zusammengekehrt vom wind
gott lass uns jeden tag auch heute dein licht sehen
in einer kleinen pfütze am weg […]
Dorothee Sölle (*6)
*1 Lutherbibel 2017, Matthäus 18,3
*2 Rabindranath Tagore, zitiert nach: Martina Rambusch-Nowak, Spielend Mensch sein vor Gott, https://www.rpi-loccum.de/material/pelikan/pel4_20/4_20_Rambusch-Nowak
*3 Samadhi Teil 3 – Der weglose Pfad – Filmtext zum gleichnamigen Film von Daniel J. Schmidt und Tanja Mahar 2021 https://www.youtube.com/watch?v=wuEXrFO5_xs
*4 Tao Teh King, Kapitel 26, zit. nach: Jan van Rijckenborgh und Catharose de Petri, Die Chinesische Urgnosis
*5 David Gilmore, Die Wurzeln des Narren, www.davidgilmore.com
*6 aus: Dorothee Sölle, Loben ohne lügen. Gedichte, (c) Wolfgang Fietkau Verlag, Kleinmachnow, S.108