Welterfahrung als ein „Innen“ – Teil 4

Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Schad, Witten. Für LOGON: Gunter Friedrich – Gegenwart entsteht durch den Rhythmus von Vergangenheit und Zukunft. Sie ist rhythmisch verdichtete Zeit

Welterfahrung als ein „Innen“ – Teil 4

Zu Teil 3

 

G.F.: Ich möchte Dir, Wolfgang, noch eine andere Frage stellen, die ebenfalls den Zukunftsaspekt betrifft. Du hast in einem Deiner Bücher mit dem Titel „Zeitbindung in Natur, Kultur und Geist“ am Schluss eine Andeutung gemacht, die die Dreieinheit neu beleuchtet. Die Dreieinheit hat für uns traditionsgemäß einen religiösen Inhalt: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Du hast dieses Wort auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezogen. Soweit ich es begriffen habe, sagst Du: Da ist der Ursprung, der Vateraspekt, die Menschheitsvergangenheit, aus der wir kommen. Dann gibt es den Sohnaspekt. Durch ihn tritt die Gegenwart in uns hinein, so interpretiere ich dich jedenfalls, und wir können durch den Impuls des Sohnes zu einer neuen Wirksamkeit gelangen. Wenn wir auf diesen Impuls reagieren und unser Leben auf ihn abstimmen, wird der Heilige-Geist-Aspekt wirksam, der den richtigen Schritt in die Zukunft ermöglicht. Könntest Du dazu noch etwas erläutern?

Zeit und Gegenwart

Prof. Schad: Wir befinden uns ja in einem naturwissenschaftlich aufgeklärten Zeitalter. Zu ihm gehört die Sichtweise einer linear ablaufenden Zeit, die nur eine Dimension hat, einer Zeit, die immer nur voranschreitet und in der im Nacheinander die Welt abläuft. Sie wird Newtonzeit genannt. Wenn man sie sich als Zeitpfeil aufmalt, wird er räumlich dargestellt als eine Linie. In jedem Zeitdiagramm der Physik, der Chemie und Biologie gibt es die t-Achse, von tempus = die Zeit. Auf ihr kann man vermessen, wie lange jeweils die Vergangenheit bisher gedauert hat, und man kann messen, wie weit in die Zukunft hinein man seine Erwartungen stellt. Fragt man aber, ob man auch die Dauer der Gegenwart messen kann, so ist in dieser Newtonzeit die Gegenwart Null, nämlich der winzig kleine, unendlich kleine Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft. In jedem Augenblick wird die Zukunft zur Vergangenheit. Wenn ich mir das bis ins Einzelne vorstelle, dann ist das unendlich Kleine gleich null. Das heißt, die Gegenwart gibt es gar nicht in dieser linearen Zeit, ich kann sie nicht quantitativ nennen, ich kann sie nur nennen als den Nullpunkt, in dem sich Vergangenheit und Zukunft treffen, aber ein Punkt hat ja keine Ausdehnung. Die Gegenwart hat hierin keine Ausdehnung.

Gegenwart und Rhythmus

Was ist aber Gegenwart? Dazu gibt es eine ausgezeichnete neurologische Forschung durch den Münchner Neurologen Ernst Pöppel, der zeigt, dass die Lebensprozesse in den Hirnfunktionen deutlich unterscheidbare Rhythmen besitzen, dass die Zeit dort also rhythmisiert wird. Und nur durch den Rhythmus wird es möglich, Gegenwart zu erleben. Dieses Erleben bedeutet aber, dass die Gegenwart nicht nur eine Null ist, sondern dass es auch eine gewisse Gegenwartsdauer gibt. Ich will das jetzt im Einzelnen hier nicht inhaltlich ausführen, sondern will daran nur eine Frage knüpfen. Wenn Gegenwart durch Rhythmus möglich wird, dann müssen wir fragen, was Rhythmus ist. Dann kommt man zu einer ganz wunderbaren Lösung.

Denn Rhythmus ist Wiederholung, es findet also bei jedem Rhythmus eine Wiederholung von Vergangenheit statt, eine Vergegenwärtigung von schon mal Geschehenem. In der Wiederholung wird die Vergangenheit erneut in der Gegenwart ausgesprochen. Das gibt es allerdings auch beim Takt der Maschine, da wird auch jedes Mal die vorherige Phase wiederholt, aber beim Takt immer nur in gleichen Abständen und gleichen Größen, sowohl nach Frequenz wie nach Amplitude. Im Leben ist demgegenüber keine Phase der anderen gleich, gleicht keine Periode der anderen. Jeder Herzschlag ist, genau gemessen, anders als der vorherige, jeder Atemzug ist, genau gemessen, anders als der vorherige. Es gibt keinen physiologischen Prozess, der nicht oszilliert, also nicht rhythmisch verläuft. Im Lebensprozess finden keine Takte statt, sondern Rhythmen.

Vergangenheit und Zukunft im Rhythmus

Beim Rhythmus wird die Vergangenheit nicht nur in einer gewissen Länge wiederholt, sondern sie wird auch dauernd verändert. In der nächsten Periode geschieht die Wiederholung anders als in der vorhergehenden. Das heißt, im Rhythmus ist eine Offenheit für Unvorhersehbares, für Zukunft. Durch diese Offenheit des Rhythmus’ wird eine vergegenwärtigte Zukunft möglich. Und so lässt sich jetzt gut beschreiben, dass die Lebensvorgänge nicht nur als Wiederholung stattfinden, sondern zugleich auch in der Offenheit für die noch nicht festgelegte Zukunft. Ich kann die Dauer einer Phase oder einer ganzen Periode des Rhythmus immer sauber messen, aber diese Perioden sind nicht immer gleich, sondern verändern sich fortwährend, allerdings nicht bis zur Unkenntlichkeit gegenüber den vorher gehenden. Die Kenntlichkeit der Vergangenheit bleibt erhalten, aber die Zukunft wirkt immer in jeder Periode mit. Und das macht möglich, dass ich zu einem anderen Zeitbegriff gelange.

Die „verdichtete Zeit“ – Zeitintegration

Er besteht nicht mehr in der linearen Newtonzeit, sondern in der „verdichteten Zeit“ von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das habe ich Zeitintegration genannt. Sie ist ein Grundvorgang, mit dem ich auch biologische Vorgänge deutlich von toten chemischen und physikalischen im Anorganischen absetzen kann. Das Anorganische kennt zwar auch veränderte Funktionen, aber nur in einer Richtung, nämlich zum Beispiel das Verrosten, also den Verschleiß. Es kann sich selbst nicht regenerieren. Das Wunderbare am Lebendigen ist, dass sich die organischen Vorgänge regenerieren können, solange sie leben, weil sie offenbar nicht nur allein von ihrer Vergangenheit abhängig sind.

Um uns der Frage der Trinität zu nähern, müssen wir nicht nur den biologischen Menschen, sondern auch den kulturellen Menschen ins Auge fassen. Hier möchte ich den Nationalökonomen Wilhelm Röpke anführen. Er hatte einen Lehrstuhl an einer Hochschule in Deutschland, wurde von Hitler vertrieben und wanderte in die Schweiz aus. Dort bekam er einen Lehrstuhl in Genf und schrieb seine wichtigsten Bücher. In einem von ihnen mit dem Titel „Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart“ untersucht er den Gegenwartsbegriff in der Gesellschaft, in der Kultur. Und er kommt zu einer wunderbaren Entdeckung, dass nämlich eine Gesellschaft nur dann eine Kulturgesellschaft ist, wenn sie die Früchte der Vergangenheit nicht verliert, sondern weiter tradiert. Aus der Vergangenheit zu lernen, das gehört zu jeder Kultur. Er reicht aber nicht, das Vergangene zu erhalten, sondern es muss stets auch etwas von einer Kultur, die sich in Zukunft entwickeln wird, bereits jetzt im Keime da sein.

Eine Kultur ist also nur lebendig, wenn in ihr Vergangenheitskultur, Gegenwartskultur und Zukunftskultur zugleich vorhanden sind.

Wenn das in einer Gesellschaft zu finden ist, ist sie gesund. Das bedeutet, Röpke entdeckte die Zeitintegration auch für das kulturelle Leben als grundlegend. Deswegen kann man bei der Kultur auch von Kulturleben sprechen, weil sie lebt – durch die Zeitintegration.

G.F.: Das klingt ja sehr abstrakt, wenn die Zukunft jetzt schon im aktuellen Moment gelebt werden soll. Was heißt das denn? Was ist das, was gelebt wird als aktuelle Zukunft? Man kann doch nur sagen, dass das ein noch nicht entfaltetes Potenzial ist, eine Tiefe, die in uns Menschen ruht und auch in aller Natur. Und nur deshalb kann uns Zukunft entgegentreten, weil in uns eine Möglichkeit da ist, die wir noch nutzen können, sodass also immer Hoffnung besteht.

Vergangenheit und Zukunft im Jetzt

Prof. Schad: Ein früher sehr bekannter amerikanischer Journalist, Robert Jungk, hatte ein Buch geschrieben mit dem Titel „Die Zukunft hat schon begonnen“. Er schildert darin die Biographien der ersten Atomforscher und Nukleartechniker und bezeichnet vor allem diese Nukleartechnik als Zukunft. Über den Inhalt dieses Buches will ich nicht sprechen, sondern ich will nur auf den Buchtitel hinweisen. Die Zukunft hat tatsächlich im Jetzt schon begonnen, und das meinte Wilhelm Röpke auch. Das war für mich als Anthroposoph besonders interessant. Steiner schildert in einem Vortrag, wann wir in unserer gegenwärtigen Kultur gesund leben. Unsere Kultur ist die der Neuzeit. Sie hat mit der Renaissance begonnen, aber die Schätze des Mittelalters und auch der Antike sind heute noch vorhanden, Gott sei Dank. Sie bestehen aus der mittelalterlichen Religiosität und der in der Antike erwachten Wissenschaft, die wir von den Griechen übernommen haben. Diese Schätze sollten nicht verloren gehen. Eine Kultur ist nur gesund, wenn die Schätze der Vergangenheit auch wieder Gegenwart werden können. Das geschieht ja insbesondere durch das Bildungswesen, die Schule, die Hochschule usw. Dort wird die Vergangenheit immer wieder neu belebt. Aber es ist schlimm, wenn es nur dabei bleibt. Zu einer Kultur gehört es auch, dass die künftige Kultur, die einmal allgemein alle Menschen hoffentlich erfassen wird, im Kleinen jetzt schon da ist. Sonst ist die aktuelle Kultur nicht gesund.

Wer dafür auch ein Gespür hatte, war Friedrich Nietzsche, wie ambivalent er auch sein mag. Er verfasste eine Schrift mit dem Titel „Unzeitgemäße Betrachtungen“. Mit diesem Titel deutet er an, dass es lohnende Betrachtungen gibt, die im Moment nicht als zeitgemäß angesehen werden, die der momentane öffentliche Zeitgeist also ablehnt, die aber doch die Keime der Zukunft sind, die wir brauchen. Dazu zählen die Utopien, die Visionen, die Erwartungen, die wir an die Zukunft haben. Sie sind sehr viel mächtiger, als wir glauben. Damit berühren wir die Fragen von Pessimismus und Optimismus.

G.F.: Bist du ein Pessimist, was die Zukunft anbelangt?

Das Potenzial der Zukunft

Prof. Schad: Es gibt ein Buch, von Peter Ludwig geschrieben, veröffentlicht 1991 in Stuttgart, mit dem Titel „Sich selbst erfüllende Prophezeiungen im Alltagsleben“. Ludwig weist hier nach, dass von den Prophezeiungen, die wir für die Zukunft machen, sehr viel mehr zur Wirklichkeit wird, als wir ahnen. Von den Bildern, die wir uns von der Zukunft machen, geht eine intensive Wirkung aus. Er nennt aus dem Alltag eine große Zahl von Beispielen. Ich möchte nur eins davon anführen: In Kalifornien gab es einmal ein Experiment, das im Radio durchgeführt wurde. Es wurde einfach bewusst die grundlose Meldung verbreitet, das Benzin werde voraussichtlich knapp. Daraufhin fuhren zahlreiche Kalifornier die nächste Tankstelle an und füllten nicht nur ihren Tank auf, sondern auch noch Benzinkanister, soviel sie konnten – mit dem Erfolg, dass das Benzin tatsächlich knapp wurde.

Die Aussage, dass die Zukunft als Möglichkeit, als Potenz schon jetzt da ist und auch benutzt werden kann, begründet Optimismus und lässt eine Null-Bock-Stimmung verfliegen. Und es ist sehr wichtig, dass man von dieser Möglichkeit im Jugendalter erfährt, denn wir haben ja in den Jugendgenerationen ganze Wellen gehabt, die in die Null-Bock-Stimmung geraten sind. Die Zukunftserwartungen, die in der Jugendseele aufwachen, die Frage: „Was mache ich aus meinem Leben?“ kann in irgendeiner Tristesse enden. Und dem kann vorgebeugt werden, indem man darüber spricht, dass die Zukunft ja schon da ist. „Sie ist gerade auch in euch, liebe junge Leute, vorhanden.“ Jedes Kind, jeder Jugendliche, jeder junge Mensch ist schon biologisch vorhandene Zukunft und erst recht natürlich seelische, geistige und kulturelle. Ihm das überhaupt klar zu machen und ihn nicht nur durch Tradition auf die Vergangenheit festzulegen, das erst bringt Freiraum in die menschliche Biographie.

G.F.: Ganz herzlichen Dank, Wolfgang, für dieses Interview. Ich finde, gerade auch Deine Aussagen am Schluss sind von allergrößter Bedeutung. Denn es wird auch ein enormer Pessimismus verbreitet in Bezug auf das, was alles kommen kann in der Menschheit und auf der Erde. Aber wir haben das Potenzial, das in uns ruht, noch längst nicht ausgeschöpft, und die jungen Menschen werden es hoffentlich nutzen.

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Post info

Datum: Dezember 30, 2020
Autor: Gunter Friedrich (Germany)
Foto: Tomasz Mikołajczyk auf Pixabay

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