Wahrheit und ihre Versionen: Wie soll man handeln – inmitten so vieler Gewissheiten?

„Ist nicht Lüge in dem, was meine rechte Hand tut?" (Jesaja 44, 20)

Wahrheit und ihre Versionen: Wie soll man handeln – inmitten so vieler Gewissheiten?

Was ist Wahrheit? Stoßen wir jemals auf sie? Die Dinge erscheinen den einzelnen Menschen unterschiedlich und sogar ein und derselben Person verschieden zu unterschiedlichen Zeiten. Was also ist Wahrheit?

Alles kann aus einer bestimmten Perspektive heraus erzählt oder wahrgenommen werden.

Identifikation und Zugehörigkeit und das Beispiel des Fußballs

Der Stürmer schießt den Ball, der knallt an die Latte und prallt zurück auf den Boden. Kam er hinter der Linie des Torwarts auf die Erde oder davor? Diejenigen, die von hinten zuschauen, feiern ein Tor, diejenigen, die den Blick von der Seite haben, meinen, dass der Ball nicht reingegangen ist, der Kommentator, der von oben zuschaut, ist sich nicht sicher, ob es ein Tor war oder nicht. Die angreifende Mannschaft drängt auf die Bestätigung des Schusses, die gegnerische Mannschaft verwahrt sich dagegen. Wahrheit hat verschiedene Versionen, je nach Wahrnehmung.

Die Menschen haben auch ein unterschiedliches Gewissen. Es wird von den Gedanken, Gefühlen, Aktionen und Reaktionen beeinflusst, und diese hängen wiederum von den gemachten Erfahrungen ab. All dies verzerrt die Wahrnehmung und macht sie zu einer partiellen Sichtweise. In unserem Beispiel neigt der Fan der Mannschaft, die den Ball getreten hat, fast unweigerlich zu der Sicht, dass der Ball über die Torlinie gegangen ist.

Im Fußball hat man einen einfachen Weg gefunden, um die Wahrheit in einem solchen Fall festzustellen. Ein Gerät kann anzeigen, ob der Ball ins Tor gegangen ist oder nicht. Aber in den meisten Situationen des Lebens gibt es kein Gerät, das einem sagt, was wahr ist. Ein Sachverhalt wird fast immer auf unterschiedliche Weise dargestellt. In einer Zeit, in der wir einem Übermaß an Informationen ausgesetzt sind, die alle auf irgend eine Weise vorgeprägt sind, werden wir in ein Labyrinth nach dem anderen getrieben.

Es gibt Philosophen, die unsere Zeit als eine Zeit der „Post-Wahrheit“ bezeichnen. An die Stelle der Wahrheit treten Narrative, Erzählungen, mit denen man sich identifizieren kann. Je nach Veranlagung wendet man sich dem einen oder anderen Narrativ zu.

Davon machen diejenigen reichlich Gebrauch, denen es nicht um Wahrheit geht, sondern um die Propagierung von Sichtweisen und die Verfolgung bestimmter Absichten. Sie erfinden Narrative, von denen sie glauben, dass sich viele damit identifizieren und verkünden sie als Wahrheit.

Auch im Fußball gibt es – aus früheren Zeiten – viele solcher Narrative. Sie erzeugen Identifikation und Zusammenhalt.

Das Narrativ muss etwas sein, was die Leute hören wollen, ob es nun wahr ist oder nicht. Man kann sich durch das Narrativ einer Gruppe zugehörig fühlen, kann „Heimat“ finden, man kann an dem Narrativ wachsen, indem man es offensiv vertritt.

Der Kristall und seine Seiten: Wahrheit und ihre Versionen

So verstehen wir, warum so viele alte Theorien, die nicht beweisbar sind, immer wieder auftauchen und warum überliefertes Wissen, das als unantastbar und sakral angesehen wurde, in neuen Versionen erzählt wird, um neue Anhänger zu gewinnen. Wir haben einen unendlichen Kreislauf vor uns, bei dem Menschen immer wieder neu in Identifikationen und Gruppenzugehörigkeiten hineingezogen werden. Dies schafft die Möglichkeit, sich von anderen abzugrenzen. Aber darin liegt auch eine Abgrenzung von der Wahrheit selbst, in einer Abwärtsspirale, die die Wahrnehmung immer mehr einengt, ja kreisförmig zu einer eigenen Welt abschließt.

„Den Menschen kann die Wahrheit enthüllt werden nach ihrer Fähigkeit, zu verstehen und zu erfassen. Die eine Wahrheit hat viele Seiten, und einer sieht nur eine Seite, der andere eine andere, und etliche sehen mehr denn eine, so wie es ihnen gegeben ist.

Sehet diesen Kristall: So wie das Licht offenbar ist in zwölf Flächen, ja in viermal zwölf, und jede Fläche einen Strahl von dem Licht zurückwirft und man eine Fläche und ein anderer eine andere anschaut, so ist es doch der eine Kristall und das eine Licht, das in allen scheint.

Doch allen ist es die Wahrheit, wie sie der einzelne Verstand sieht, und so lange, bis eine höhere Wahrheit offenbar wird; und der Seele, die mehr Licht empfangen kann, wird mehr Licht gegeben werden. Darum verdammt nicht die anderen, auf dass ihr nicht verdammt werdet.

Seid treu dem Lichte, das ihr habt, bis euch ein höheres Licht gegeben wird. Sucht mehr Licht, und ihr werdet im Überfluss leben. Rastet nicht, bis ihr gefunden haben werdet.“

Dieser Auszug aus dem Buch Das Evangelium des vollkommenen Lebens (Kap. 90), niedergeschrieben und (auf Englisch) veröffentlicht von Rev. Gideon Ouseley im Jahr 1902, zeigt uns, dass der Weg aus dem Labyrinth nicht darin besteht, sich an eine Seite des Kristalls oder an eine persönliche Erzählung zu klammern, sondern eine Spirale des Erkennens zu beschreiten, bei der auf jede offenbarte Wahrheit die Suche nach einer anderen, höheren Wahrheit folgt. Das ist eine Spirale, die das Getrenntsein hinter sich lässt und auf das Ganze zusteuert, angetrieben von einer ständigen Suche nach Wahrheit, nicht als gegebener Tatsache, sondern als Wahrnehmung, die immer neutraler und ganzheitlicher wird. Auf diese Weise wird unser Bewusstsein, das auf der Grundlage seiner Wahrnehmung trennt, klassifiziert und urteilt, zu einem Bewusstsein, das immer mehr das Ganze sieht und sich mit ihm vereint. Der Kristall hat viele Seiten und ist doch ein Ganzes. So können auch wir vom Partiellen zum Ganzen gelangen.

Wir können von niemandem einen Bewusstseinszustand einfordern, den er nicht besitzt. Jeder soll die Wahrheit nach seinem eigenen Lebenszustand und seinem eigenen Verständnis empfangen. Wir sollten nicht denjenigen verurteilen, der etwas auf andere Weise versteht als wir. Aber wir können uns dafür einsetzen, dass wir alle gemeinsam danach streben, das Ganze zu sehen. Dann ändert sich das Verhalten – und mit ihm lösen sich die Narrative auf.

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Datum: August 16, 2020
Autor: Grupo de autores Logon
Foto: Olga Boiarkina

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