Wagnis und Abenteuer der Intimität

Tief durchlebtes Mitgefühl kann Heilung bringen in unsere Beziehungen und von dort Kreise ziehen. Durch den intimen Dialog mit dem Partner und – als Perspektive – mit allen Geschöpfen der Natur kann sich die Welt von innen her verwandeln.

Wagnis und Abenteuer der Intimität

Mit 28 Jahren wandere ich ganz allein durch die Berglandschaft der griechischen Insel Samos. Die klare Luft, der Duft wilder Blumen, die große Stille auf den Bergpfaden bewirken in mir eine unvorhergesehene Öffnung.

Ganz plötzlich ist es da … Ein leiser, zarter Hauch völlig neuer Empfindungen … Das große Sein überwältigt mich.

Nach vielen Jahren des Abmühens, des Kampfes, der Verzweiflung und Orientierungslosigkeit spüre ich in diesem Moment: Alles wird anders werden in meinem Leben! Ich bin gerufen zu einem gewaltigen Abenteuer! Dieses Abenteuer hat etwas mit Intimität zu tun. (Genau übersetzt heißt intimus (lat.): „am meisten innen“.)

Ich steige auf einen Berg, von dem ich eine Fernsicht auf grüne Hügel und das Meer habe. Aber eigentlich bin ich nicht im Außen, sondern „am meisten innen“ – ich spüre größte Vertrautheit mit dem Wesentlichen, mit  meinem Wesen. Zwei Tage lang sitze ich auf der Bergkuppe und überlege, wie es nun weitergehen soll in meinem Leben.

Werde ich für einige Jahre Einkehr nehmen in einem der vielen Bergklöster der Insel Samos, um in Abgeschiedenheit Meditation und Versenkung zu üben? Oder liegt meine Aufgabe zu Hause „mitten im Leben“, im Sich-Einlassen auf einen trubeligen und anstrengenden Alltag mit Beziehung, Kindern, Beruf und Haushalt?

Ich sitze und grübele. Es dauert zwei Tage, bis ich zu einem Entschluss komme: Ja, ich werde nach Hause fahren, ich werde Verantwortung übernehmen. Und das heißt für mich: heiraten … eine Familie gründen. Das „Abenteuer der Intimität“ kann seinen Lauf nehmen.

Was Partnerschaft bedeuten kann

In der hinduistischen Ehezeremonie gibt es einen zentralen Bestandteil, die „Saptapadi“. Mann und Frau umschreiten dabei gemeinsam siebenmal eine Feuerstelle.

Aus heutiger Sicht – nach 35jähriger Ehe – empfinde ich diesen Ritus als wunderbares Symbol. In allen Einzelheiten wird hier als Geste vollzogen, was eine Partnerschaft in der Tiefe bedeutet:

  • Als Mann und Frau bewegen wir uns kreisförmig um das Feuer des Innersten.
  • In unserem zentralen Feuerelement sind wir – wenn es gut ist –  auf intimste Art miteinander verbunden, aber wir dürfen nicht zu nah ans Feuer gehen. 
  • Wir sollten nicht stillstehen, wir sollten in ständiger Bewegung bleiben. In der Atmosphäre des zentralen Feuers können wir uns aneinander verwandeln!
  • Beim „siebenfachen Umkreisen des Feuers“ werden in uns große schöpferische Energien entfacht.
  • Gleichzeitig werden unsere Schattenanteile, unsere Schlacken und Behinderungen immer gründlicher und intensiver beleuchtet. Das ist ein äußerst herausfordernder Prozess.
  • Es braucht seine Zeit (sieben Entwicklungsphasen).
  • Es braucht eine große Achtsamkeit füreinander und eine wachsende innere Stabilität, sich selbst und den Anderen zu erkennen, das Erkannte zu verarbeiten und fruchtbar zu verwandeln.

Wenn ich zurückschaue, muss ich mir eingestehen, dass ich von dieser Tiefendimension einer Partnerschaft lange überhaupt nichts geahnt habe. Ich bin mehr oder weniger unvorbereitet in dieses Abenteuer hineingeschliddert. Schon in der Phase des Verliebtseins war es für mich schwierig, ein bedingungsloses Ja zum Anderen zu empfinden. Das sinnliche Sich-Hingezogen-Fühlen zum Partner ist ja noch keine Bejahung seines Wesens. Kann ich den Anderen annehmen und schätzen in seiner unverwechselbaren Einmaligkeit?

Nein, das konnte ich nicht. Ich konnte es nicht, weil ich nicht gelernt hatte, erst einmal mich selbst anzunehmen und zu mögen in meiner unverwechselbaren Individualität.

Trotzdem habe ich mich auf die Beziehung eingelassen. Wir haben Nähe zugelassen, wir haben Übereinstimmungen gesucht, aber eine wirkliche „Intimität“ ist daraus noch nicht entstanden.

Was bedeutet Intimität?

Erst sehr viel später habe ich gelernt, dass es einen großen Unterschied zwischen „Nähe“ und „Intimität“ gibt. „Nähe“ bedeutet, den anderen an mich heranzulassen und kennenzulernen. Das kann körperliche Nähe oder emotionale Nähe sein.

Mit „Intimität“ dagegen ist gemeint, „dass sich ein Mensch in Gegenwart eines anderen selbst versteht und offenbart. Intimität bedeutet, durch das, was man tut oder sagt, sich selbst, sein Innerstes, seine eigenen innersten Gefühle und Gedanken wahrhaftig nach außen zu tragen und sich selbst bei dieser Selbstpreisgabe zu erleben.“ [1]

Wir können jahrelang über das Zusammenwirken von Mann und Frau philosophieren, wir können in schmerzhaften Prozessen unsere existentielle Unvollständigkeit und Unvollkommenheit erfahren und zur Kenntnis nehmen, dass auch der liebevollste Partner diesen „seelischen Mangel“ nicht ausgleichen kann. Wir können uns als Konsequenz davon mit der hohen geistigen Idee beschäftigen, dass sich in der völligen Hingabe an den Anderen in uns, an den göttlichen Funken – in jedem Mann, in jeder Frau – ein „geistiges Kind“, eine völlige Neuschöpfung entwickeln möchte. Dies ist eine sehr wichtige Erkenntnis in und aus dem Licht. Aber mit dieser lichterfüllten Perspektive müssen wir uns anschließend in den dunklen Keller unseres Alltags wagen. Dort gibt es viel zu entdecken, dort gibt es viel zu beleuchten.

Bei jedem Gipfel, den wir stürmen, müssen wir umkehren und seine Kraft und Erleuchtung unten in unsere sterblichen Bewegungen herabbringen. (Sri Aurobindo)

Bin ich zu ehrlicher Selbsterkenntnis, zu aufrichtiger Selbstpreisgabe auch in Gegenwart des Anderen wirklich bereit?

Der Austausch über das, wo wir Übereinstimmungen empfinden, fühlt sich gut an. Vor allem zu Beginn einer Beziehung bestätigen wir uns durch den Anderen immer wieder unsere gemeinsame Sicht. Man nennt das „fremdbestätigte Intimität“. Dabei fühle ich mich beim Partner sicher, ich kann mich angstfrei äußern. Aber dieses „unter einer Decke stecken“, sich ein Wohlgefühl vermitteln durch Gemeinsamkeiten, hat in der Regel ein kurzes Verfallsdatum.

Ein Team beweist sich nicht in ruhiger See. (Tobias Ruland)

Die Wahrheit beginnt zu zweit. (Lukas Michael Moeller)

Der Schlüssel für eine andauernde Intimität liegt demgegenüber darin, dass ich mit meinem Partner Momente „selbstbestätigter Intimität“ einübe und ertrage. Was heißt das konkret?

Ich möchte mich dem Anderen mitteilen. Ich möchte etwas für mich noch Ungeklärtes oder sogar mir Peinliches dem Partner offenbaren. Es kann auch sein, dass mich eine Handlungsweise oder eine Äußerung meines Partners verängstigt oder verärgert hat. Zunächst einmal ist es sehr wichtig, dass ich im Gespräch in einer ruhigen Verfassung bleibe und dem Partner nicht vorwurfsvoll begegne.

Ich gehe ein Risiko ein. Kann mein Partner mit dem „Stress“, den diese Offenlegung geheimer Gedanken auslöst, umgehen? Besitzt er ein gewisses Maß an Unerschütterlichkeit und Selbstberuhigung?

Zum besseren Verständnis: Mein Partner muss nicht spiegeln und auch nicht gutheißen, was ich offenbart habe. Es geht einzig und allein darum, dass er meiner Perspektive offen zuhören kann und mich nicht für das, was ich offenbare, „bestraft“, z.B. durch „Wütend-Werden“, „Rechtfertigen“, „Weglaufen“, „Wegstoßen“, „Erstarren“. Dies sind die häufigsten Reaktionen. Bei langjährigen Partnerschaften kommt es häufig vor, dass ein Partner vom anderen Jahre zuvor in Bezug auf eine bestimmte Sache weggestoßen wurde und dieses Thema nicht mehr anspricht, sondern in seinem Schneckenhaus verbleibt.

Austausch im vertrauten, intimen Raum

Trauen wir uns, beim „gemeinsamen Umschreiten des Feuers“ das Schattenhafte in uns zu entdecken, das noch Ungeklärte, das vielleicht Peinliche, das vielleicht Beunruhigende anzusprechen und zu offenbaren?  Wenn wir für unseren Partner ein wirklicher Seelenbegleiter sein wollen, dann geben wir ihm diesen vertrauten, intimen Raum. Wir hören ihm zu, ohne zu bewerten und zu verurteilen.

Das ist ein Austausch, der eine große Sensibilität und Achtsamkeit erfordert.  Ich muss etwas über meine Fallen und Fallstricke wissen, die aus meinem Unterbewusstsein plötzlich als Hindernisse auf dem Weg hervorbrechen können. In diese Fallen sollte ich nicht ständig hineintappen. Und dennoch geschieht es ja immer wieder …

Im gemeinsamen Einüben der „selbstbestätigten Intimität“ (ich traue mich, ohne die mir sichere Bestätigung meines Partners meine geheimen Gedanken offenzulegen) lerne ich mich und den Anderen sehr intensiv kennen.

Ja, es wird im Laufe der Zeit möglich sein, so etwas wie eine gemeinsame „Beziehungslandkarte“ zu skizzieren. Ich kann meine eigenen Höhen und Niederungen („Sümpfe“) auf dieser Karte wahrnehmen und kennenlernen – und auch die meines Partners/meiner Partnerin…

Dazu gehören vor allem meine sog. „inneren Kinder“, meine unverarbeiteten „Schlacken“, meine nicht gelösten Konfliktkonstellationen aus diesem und aus früheren Leben der Vorgänger in meinem Mikrokosmos … [2]

Wir alle kennen die Ausdrucksformen dieser „inneren Kinder“. Es sind die verschiedenen Masken unseres egozentrierten Verhaltens. In Dantes „Göttlicher Komödie“ werden sie im „Purgatorio“ sehr deutlich beschrieben:

schnell beleidigt sein … zornig werden … ungeduldig sein … Angst vor Verlust haben … süchtig nach Anerkennung sein … immer das letzte Wort haben wollen … Recht haben wollen … weglaufen und fliehen, wenn es kritisch wird … in abgrundtiefe Betrübnis verfallen … in Clownereien flüchten … neidisch sein … ehrgeizig sein … Arbeitssucht und Unruhe zeigen …

Ganz plötzlich und unerwartet brechen diese „inneren Kinder“ aus meinem Unterbewusstsein hervor…sie verlangen Gehör, sie möchten wahrgenommen, aber nicht „bestraft“ und „weggedrängt“ werden.

  • Kann ich mit ihnen in einen „intimen Dialog“ treten?
  • Kann ich aus der Ruhe der Seelenverbindung für sie „Verantwortung“ übernehmen, ihnen eine beruhigende Antwort geben, ohne mich von ihnen emotional mitreißen zu lassen? (in der „Göttlichen Komödie“ hat „Dante“ in „Vergil“ einen ruhigen, neutralen Begleiter).
  • Können wir in der Partnerschaft „im mehrmaligen Umschreiten des Feuers“ allmählich „ruhige Seelenbegleiter“ füreinander werden, so dass wir die Reife entwickeln, unsere Schattenseiten „stressfrei“ ins Licht zu stellen?

Nicht wir sind in der Lage, diese Schatten letztlich aufzulösen, sondern das innere Feuer. In der Lichterfahrung kann auch das Dunkelste verwandelt werden.

Und dennoch kommt es darauf an, dass ich den Schmerz über das noch Unvollkommene, das Fehlerhafte wirklich fühlen lerne. In mir selbst können sich neue Sinnesantennen entwickeln, so dass ich das Leid, das ich Anderen angetan habe, in mir selbst als ein Brennen erfahre, als ein verzehrendes Feuer … gleichzeitig aber auch als einen lösenden Strom, den ich nicht aufhalte, sondern in dem meine ganze Verzweiflung  zum Fließen kommt und verwandelt werden kann …

Wenn ich dieses innere Brennen ganz tief spüre, wenn Tränen des tiefsten Mitgefühls mit mir und dem Anderen aus mir herausfließen dürfen, dann stehe ich in diesem Moment in einer wirklichen Erfahrung mit dem „Abenteuer der Intimität“.

Verzweiflung ist das Ergebnis eines jeden ernstlichen Versuches, das Menschenleben zu begreifen und zu rechtfertigen. Verzweiflung ist das Ergebnis eines jeden ernstlichen Versuches, das Leben mit der Tugend, mit der Gerechtigkeit, mit der Vernunft zu bestehen und seine Forderungen zu erfüllen. Diesseits dieser Verzweiflung leben die Kinder, jenseits die Erwachten. [3]

 

 

 

 

 


[1]  Tobias Ruland, Die Psychologie der Intimität, Stuttgart 2016, S. 109

[2] Mit Mikrokosmos wird hier das ewige Wesen gemeint, das von Inkarnation zu Inkarnation geht und die Erfahrungen davon mit sich führt. In seiner Mitte befindet sich der – in der Regel unerlöste – Funke des „wahren Selbstes“ des Menschen.

[3] Hermann Hesse, Morgenlandfahrt, Berlin, Frankfurt am Main 1982, S. 91 f.

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Datum: Januar 20, 2020
Autor: Burkhard Lewe (Germany)

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