In dem Arbeitsraum von Markus Stockhausen steht eine goldfarbene, mannshohe Buddha-Statue. Die beiden haben sich vor dem Gespräch eine Weile auf sie gerichtet.
G. F. Wir haben ein Dreieck gebildet, mit einem goldenen Wesen.
M.S. Sie sprechen die Buddha-Figur an, Sinnbild des Göttlichen und des Überweltlichen. Wir hatten eine kleine Stille. Vielleicht ist dies ein Signalisieren unserer Bereitschaft, nicht nur den Intellekt und den Inhalt der Worte, sondern einen größeren Raum mit einzubeziehen.
G.F. Die Erfahrung die wir dabei machen, zeigt doch, dass dieser größere Raum etwas mit uns zu tun hat.
M.S. Absolut, das ist für mich ein Kontinuum. Wenn wir uns innerlich öffnen, ist dieser Raum sofort da. Und dann ist eine Kontinuität vom Persönlichen zum Überpersönlichen vorhanden, zu dem nicht benennbaren Raum, aus dem sich alles speist.
G.F. Wenn wir in diesem Moment in diesem Raum sind, dann erklingt dort doch auch Musik.
M.S. Ja, das könnte man sagen. Hazrat Inayat Khan erklärte: „Alles Leben ist Musik, von den Rhythmen der Planeten bis zu den Molekülen. Alles schwingt und klingt.“ Wer Ohren hierfür hat, kann das hören. Ich selbst bin nicht derjenige, der die kosmischen Harmonien abhören kann, aber ich kann sehr wohl Musik in mir hören, voraushören, spüren.
G.F. Wenn Sie improvisieren oder komponieren, ist das nicht zugleich auch ein Hören?
M.S. Ja, es ist immer ein Lauschen, ein sich Still-Machen und Leer-Sein und möglichst Leer-Bleiben, so dass man immer wieder spürt, wo es hin will. In der Improvisation ist das ganz augenscheinlich – ohrenscheinlich. Ich spiele, und während ich spiele, bekomme ich eine Ahnung vom nächsten Ton. Wo will die Musik hin? Wo will es hin?
G.F. Woher kommt es, dieses Es?
M.S. Ich weiß nicht, ob wir das benennen müssen. Es ist schwer, über die Quelle zu spekulieren. Alles Bestehende bezeugt sie. Für mich ist das Universum so unglaublich weise und intelligent. Es bringt alle Formen hervor in einer kontinuierlichen Fülle, dass man nur staunen kann. Es erschöpft sich nie. Und so ist es auch in der Improvisation. Und auch in der Komposition ist es eine immer wieder eine Überraschung, wie es immer weiter geht.
Man kommt nicht an einen Punkt, wo Schöpfung zu Ende ist, wo die Quelle versiegt.
Wenn man in der Konzentration bleibt, gibt es immer eine Erweiterung, eine Fortführung von Formen, eine Entwicklung. Das ist ein spannender Prozess. Es ist in der Schöpfung angelegt, dass wir einsteigen können in diesen Schöpfungsstrom, aus dem sich das Leben immer wieder neu generiert, in jedem Moment.
G.F. In den 40 Jahren ihrer Laufbahn als Berufsmusiker, hat sich da eine Entwicklung ergeben in ihrer Inspiration?
M.S. Immer wieder treten Situationen auf, wo Dinge aufleuchten, wo ich als Person durchlässig werde für eine Komposition oder für eine gelungene Improvisation, für ein gelungenes Miteinander. Dieser Prozess ist mir vertraut. Dann ergießen sich aus dem, was ist, aus der Quelle und allen Faktoren, die da mit hineinspielen, neue Formen. Das hat aber auch schon stattgefunden, als ich ganz jung war. Und das findet jetzt immer wieder statt. Mir ist allenfalls der Prozess selbst vertrauter geworden. Das Vertrauen in ihn ist mir vertrauter. Vielleicht habe ich in der Ausdrucksweise eine Evolution durchgemacht, in der Differenziertheit des Ausdrucks oder wie ich mit den Elementen umgehe.
Mit der Gruppe Quadrivium ist ein Stück entstanden mit dem Titel Schnee von heute, es ist auf der CD Far into the Stars. Wir sind nach einem Spaziergang durch frisch gefallenen Schnee an einem wunderschönen sonnigen Morgen ins Studio gegangen, haben unsere Instrumente ergriffen und gespielt, ohne vorher miteinander zu sprechen. Und dann kam dieses Stück raus. Deshalb heißt es auch Schnee von heute. Da vollzieht sich eine Geburt aus einer bestimmten Energie, fraglos, unausgesprochen manifestiert sie sich.
Wir kommen gemeinsam in ein kohärentes Feld und es entstehen Synergien, Synergien von gleichem Gefühl, und dann ist da plötzlich diese Musik, und die hat es vorher nicht gegeben. Dieser Schöpfungsprozess ist immer wieder überraschend, und auch beglückend.
G:F. Sie erleben, dass Sie an einem großen schöpferischen Wirken Anteil haben. Können Sie sich vorstellen, dass von Ihrer Musik ebenfalls schöpferische Wirkungen ausgehen?
M.S. Als Musiker bekommt man das ja oft zurückgespiegelt vom Publikum und einzelnen Stimmen. Die Musik regt etwas an im Menschen.
Über meinen Vater habe ich das exemplarisch vorgeführt bekommen. Er erhielt begeisterte Zuschriften aus der ganzen Welt. Da war dieser Aufbruchsgeist in seiner Musik. Für die, die es nicht wissen: mein Vater war Karlheinz Stockhausen, der große Komponist. Mit ihm habe ich 25 Jahre lang intensiv Musik gemacht. Wir haben mehrmals zusammengearbeitet mit dem Künstler Alexander Lauterwasser, der Wasser-Klangbilder sichtbar macht auf einer kleinen Wasserschale, auf deren Oberfläche die Reaktionen des Wassers auf unsere Klänge erscheinen. Das zeigt sehr eindrucksvoll, wie die musikalischen Schwingungen Formen hervorbringen. Das sind schöpferische Wirkungen ganz unmittelbar. Wenn wir nun verstehen, dass ja all unsere Körper zu 80 % aus Wasser bestehen, dass unser Gehirn in Resonanz mit Schwingungen geht, dann ist da die Wirkung unserer Musik sehr anschaulich zu erleben.
G.F. Wenn wir davon ausgehen, dass die Seele des Menschen und das Musische eine tiefe Beziehung zueinander haben, könnte sich nicht auch das Seelische durch Musik verwandeln?
M.S. Ja. Denn es gibt das oben beschriebene Phänomen der Resonanz. Etwas kommt in Schwingung, nicht nur durch die akustischen Schwingungen, sondern auch durch das Geistige, das durch die Musik hindurch klingt. Es ist ja ein geistiges Gebilde, das sich in der Musik ausdrückt. Und das erzeugt Resonanzen. Wenn jemand sagt: „das hat mich berührt“, oder: „mir sind die Tränen gekommen“, oder: „mir lief ein Schauer über den Rücken“, dann ist da ein Gleichklang entstanden, dann ist etwas geweckt worden.
Wir tragen in uns eine Sehnsucht nach dem Ursprung, nach dem Göttlichen, nach einem Sinn. Und in der Musik kann der plötzlich erfahrbar werden, in einer Komplexität und Sprache, die Worte schwer vermitteln können, und auch in Bildern, die die Natur so nicht so hat.
Die Musik hat eine ganz eigene Aufgabe. Sie ist für mich der ideale Mittler zwischen dem Menschlichen und dem Spirituellen.
In ihr öffnet sich ein weiter Raum des Ausdrucks, der Nuancierung, der Vielfalt. Die Musik ist nicht verbal oder konzeptionell; sie hat andere, universellere Gesetzmäßigkeiten und ist so ungeheuer vielseitig in ihren Möglichkeiten. Jeder Komponist und Musiker kann seine besondere Note in sie hineinbringen. Und dann gibt es die Resonanzphänomene, dass die Menschen sich berührt fühlen, dass sie wach werden, dass sie eine Genugtuung, ja eine Erfüllung finden. Wir haben auch die Sehnsucht nach einer Art Ekstase, nach einer Tiefenerfüllung, so dass etwas wirklich in uns satt wird, dass man das Gefühl hat: Ja, jetzt bin ich ganz erfüllt. In der Musik kann ich erleben, dass ich ganz tief berührt werde, dass etwas in mir rund wird, und damit auch gelassen und frei.
G.F. Wenn die Seele durch Musik so stark erhoben werden kann, dann erlebt sie einen Gestaltwandel, der dann am nächsten Tag meist wieder vorbei ist. Aber die Erfahrung hat Spuren hinterlassen und vielleicht eine Ahnung geweckt, was man auch noch ist, im Verborgenen. Und die Sehnsucht kann auftreten: Warum bin ich das nicht intensiver, dieses Andere? Sie selbst machen ja seit Langem Musik. Hat sich Ihr Inneres nicht dadurch verwandelt?
M.S. Ich kann nur Vermutungen äußern. In meinen Seminaren „Singen und Stille“ sage ich manchmal: Es gibt in uns etwas, das immer rein ist, immer vollkommen, das unversehrt ist, nicht getrübt, das Göttliche in uns, könnte man sagen, der göttliche Funke, der göttliche Kern. Oder, im westlichen spirituellen Kontext, der Christus in dir, das Abbild des Göttlichen in dir, das, was immer da ist. Wir sind zu immer komplexeren Wesen herangewachsen, können mit komplexeren Aufgaben betraut werden, können komplexere Vorgänge zum Ausdruck bringen, wenn wir das wollen. Es geschieht immer unter dem Oberbegriff der Freiheit.
Es liegt ein tiefer Genuss in der Seele, herrschen zu können über sich selbst, das heißt mit den Mitteln, die uns gegeben sind, operieren zu können, sie einsetzen zu können. Wenn man viel geübt hat, kann man sein Instrument auch besser handhaben. Große Interpreten führen uns das vor und erinnern uns an unsere Vollkommenheit.
G.F. Noch einige Gedanken zur Freiheit. Wir sind ja in tausend Dinge eingebunden und doch spricht die Menschheit schon immer von Freiheit. Das kann wohl nur darauf beruhen, dass das, was man Freiheit nennt, irgendwo in der Tiefe in uns steckt. Der Drang nach Freiheit entsteht aus Freiheit, aus innerer freier Situation. Und sie ist dann da, wenn man diese Situation irgendwie verkörpern kann.
M.S. Es gibt Räume, die sich öffnen, die frei sind und in denen man Freiheit leben kann. Man erfährt es nicht jeden Tag. Es gibt viele Dinge, die uns binden, äußere Zwänge, die Materie, unser Körper, Gewohnheiten und Notwendigkeiten. Die sind oft lästig, aber man muss sie akzeptieren. Aber dann gibt es diese Frei-Räume. Ich möchte eine Analogie ziehen zur Meditation. Für mich ist eine Meditation gelungen, wenn alles in mir zur Ruhe kommt, wenn ein Raum sich öffnet, in dem Leere ist, Stille. Da geht es nicht darum, einen bestimmten Inhalt herbeizusehnen oder auf irgendetwas zu hoffen, sondern im Gegenteil, sich frei zu machen, so dass man nichts will und nichts erwartet. Da können sich Dinge ereignen.
Ein solcher leerer Raum ist Grundvoraussetzung für Neues, für Schöpfung.
In einer solchen Erfahrung von absolutem Frieden, wo sich die Dualität auflöst, wo kein Widerstreit mehr ist, keine Unruhe, sondern reines Sein spürbar wird, da erübrigt sich jede Frage. Es ist eine sich selbst erfüllende Stille. Wenn man diese Erfahrung auf die Musik überträgt, kann man sagen: Wir kommen zusammen mit verschiedenen Musikern, öffnen den Raum eines achtsamen Miteinanders und überlassen uns ganz diesem Moment. Was ist jetzt möglich? Was können wir jetzt in den Ausdruck bringen? Was will jetzt kommen? Wir lauschen auf das, was sich gebiert. Das ist der Kerngedanke der Intuitiven Musik. Man strebt kein bestimmtes Ergebnis an, sondern lässt den Prozess sich entfalten. Man ist wie eine Hebamme der Musik. Jeder tut sein Element hinzu.
Ich erlebe das auch in meiner Gruppe Wild Life, in der ich mit Jazzmusikern spiele, die auch eine klassische Erfahrung haben, oder mit Tara Bouman in unserem Duo Moving Sounds. Ich suche diese Situation immer wieder in verschiedenen Projekten und Seminaren, wie zum Beispiel im neu gegründeten Forum Intuitive Musik in Wuppertal. Es ist tatsächlich oft ein paradiesischer Zustand, in der Musik in Kommunikation und Kommunion mit anderen Menschen etwas zu gestalten. Da wird ein Gleichklang möglich, der mir auf rein verbale Weise in anderen Situationen, in Diskussionen oder Gesprächen nicht annähernd möglich ist.
G.F. Was geschieht mit den Klangräumen, wenn das Konzert zu ende ist?
M.S. Pythagoras hat gesagt:
Jeder Stein, auch achtlos fortgetreten, erzeugt eine Schwingung, die im ganzen Universum widerhallt.
Ich glaube, dass alles, was zum Ausdruck gebracht wurde, irgendwo gespeichert ist und mit allem anderen die Summe der kollektiven Erfahrung darstellt. Alles klingt fort, ist irgendwo aufgezeichnet. Wer es vermag, kann dort hineingehen und wie in einer Bibliothek das herausgreifen, was gewesen ist. Die Räume, die einmal geöffnet wurden, existieren weiter. Die großen Komponisten haben Türen aufgemacht zu Räumen, die später von anderen betreten werden können. Das spürt man gerade als Improvisationsmusiker. Man wird in einer Situation, die man bislang nicht kannte, in Räume eingeladen, die man wieder zum Klingen bringt. Man belebt sie auf neue Weise.
G.F. Ist es nicht die Aufgabe der wirklich schöpferischen Menschen, den wahren, den geistigen Zeitgeistimpuls zum Ausdruck zu bringen? Dann kommt in besonderen Momenten ein neuer Klang ins aktuelle Jetzt. Könnte von den Räumen, die Sie erschaffen, nicht ein Einfluss auf die Erdatmosphäre ausgehen, so dass Sie mit an einer Zukunft bauen, in der Menschen aufatmen und auf neue Gedanken kommen können?
M.S. Es ist natürlich eine ganz große Hoffnung, dass man nichts Beliebiges macht, sondern etwas Wesentliches, das Menschen nährt und ihnen eine gute Richtung weist. Die großen Geister haben das gemacht. Warum wird Beethoven jetzt so gefeiert oder andere Große? Sie sind zu Symbolfiguren geworden, weil sie wesentliche Neuerungen beigetragen haben, von denen man immer noch zehrt. Ich vertraue darauf, dass das, was man guten Willens in das Ganze hinein gibt, wie ein Stein wirkt, der ins Wasser fällt und seine Wellen schlägt. Hin und wieder bekomme ich auch gespiegelt, dass Menschen viel von dem verfolgt haben, was ich mache und sich von dem genährt haben, was ich an Freiheitsgefühl, an Schönheitsideal über die Musik mit ihnen teile.
Sie nehmen es auf ihre Weise auf. Das moduliert die Seele. Und die Menschen sagen vielleicht: Wenn das so ist, dann darf ich das auch in meinem Leben vollziehen.
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