Mulla Nasruddin – Dummkopf oder Weise?

Mulla Nasruddin – Dummkopf oder Weise?

Nasruddin ist der Mensch, der sich einerseits seiner Herkunft aus dem Ewigen bewusst ist und dadurch Zugang zur ursprünglichen Weisheit besitzt und sich andererseits als Teil dieser vergänglichen Natur empfindet mit all ihren Fehlern und Schwächen.

Die Nasruddin-Anekdoten besitzen eine tiefere Ebene. Wir lachen über sie, über die Torheit und Einfalt der anderen, bis wir bemerken, dass wir auch über unsere eigene Dummheit lachen.

„Wie alt bist du, Mulla?“

„Vierzig.“

„Aber dasselbe hast du gesagt, als ich dich vor zwei Jahren gefragt habe.“

„Ja, denn ich stehe stets zu dem, was ich gesagt habe.“

Nur ein Witz? Als Europäer würden wir das wahrscheinlich so sehen. Ganz anders im Orient und da besonders im Sufismus. Dort werden solche Erzählungen sehr gerne als Lehrgeschichte genutzt.

Eine besonders beliebte Figur solcher Legenden ist Mulla Nasruddin (auch: Nasrudin, Nasreddin). Er taucht in der gesamten arabischen und persischen und zentralasiatischen Welt auf und fast jeder Muslim zwischen Marrakesch und Peking kennt seine Anekdoten.

Auf dem Umschlag des Büchleins Die fabelhaften Heldentaten des weisen Narren Mulla Nasrudin von Idries Shah, liest man:

„Meister lächelnder Weisheit und liebenswürdigste Schelmenfigur der Weltliteratur. Humorvolle und hintergründige Geschichten über die schönsten Narrheiten des großen Meisters verdeckter Spiritualität, die dem Leser augenzwinkernd den Spiegel vorhalten – und ihm so die Augen für das Wesentliche öffnen.“[i]

So entdecken wir in der obigen Geschichte einen Menschen, der in der Vergangenheit gefangen ist, und nicht auf die aktuelle Gegenwart reagieren kann. Ihm entgeht die Wahrheit des Augenblicks, weil er sich nicht von alten Standpunkten lösen kann, die schon längst überholt sind.

Alle Nasruddin-Anekdoten besitzen diese tiefere Ebene. Wir lachen über sie, über die Torheit und Einfalt der anderen, bis wir bemerken, dass wir auch über unsere eigene Dummheit lachen.

Wenn wir an diesem Punkt mit Heiterkeit reagieren können, ist das immerhin schon mal ein Zeichen, dass wir uns mit einigem Abstand betrachten können. Wir nehmen uns nicht mehr ganz so ernst, sondern gestehen uns zu, Fehler zu machen, nicht perfekt zu sein.

Ein Mensch, der voller Ehrgeiz seine egozentrischen Ziele verfolgt, hat in den allermeisten Fällen keinen Humor. Er muss dann mit Ärger und Gegenwehr antworten, wenn ihm jemand den Spiegel vorhält.

Bei den Sufis ist der Esel das Symbol für das störrische Ego, das seinen eigenen Willen durchsetzen will und oft nicht das macht, was sein Herr mit ihm beabsichtigt. Es ist jedoch nicht sinnvoll, dieses Ego zu töten, denn wir brauchen es, um in dieser Welt existieren zu können.

Eine schöne Geschichte macht das deutlich:

Mulla Nasruddin erzählt seinem Nachbarn, dass er gerade dabei ist, seinem Esel das Fressen abzugewöhnen. „Stell dir doch einmal vor, was man dadurch sparen kann. Ich werde bald ein reicher Mann sein.“

Nach ein paar Tagen trifft er seinen Nachbarn wieder auf der Straße.

„Und, Mulla? Hast du deinem Esel das Fressen schon abgewöhnt?“

„Ach, ich hatte so ein Pech“, antwortete dieser, „gerade als er es kapiert hatte, ist er gestorben.“

 

Es gibt Hunderte von Eselgeschichten von Mulla Nasruddin, worin viele der Eigenarten unseres Egos wunderbar sichtbar werden.

Eine möchte ich noch erzählen:

Mulla Nasruddin reitet verkehrt herum auf seinem Esel, also mit dem Gesicht zum Hinterteil.

Verwundert beobachten ihn die Dorfbewohner. „Aber Mulla, warum reitest du denn verkehrt auf deinem Esel?“ fragen sie neugierig.

Darauf antwortet Mulla Nasruddin: „Ihr irrt! Ich reite richtig herum. Der Esel läuft nur falsch herum.“

Wenn wir diese Geschichte unter dem Gesichtspunkt des Gesagten betrachten, sehen wir, dass es – gegen allem äußeren Anschein – unser Ego ist, das in die falsche Richtung unterwegs ist. Unser inneres Geistwesen, der Mullah, der Meister, schaut immer in die richtige Richtung.

Darum wird der spirituelle Pilger oft ein paradoxes Verhalten an den Tag legen, das von anderen mit Unverständnis und Argwohn erwidert wird.

Deswegen wird ein Derwisch auch immer als ein Narr betrachtet. Aber er kümmert sich nicht darum, was andere von ihm denken. Er tut das, was ihm der Geist im jeweiligen Moment eingibt, auch wenn es, äußerlich gesehen, noch so absurd ist.

Die Geschichte mit Nasruddin als Bettler macht das deutlich:

An Markttagen stellte sich Nasruddin oft an die Tür zur Moschee, um zu betteln. Doch immer, wenn ihm die Leute zwei Geldstücke zur Auswahl anboten – ein größeres und ein kleineres – nahm er das Kleinere.

Als die Leute das eine Weile beobachtet hatten, sagten sie zu ihm: „Mulla, warum nimmst du denn nicht das große Geldstück? Dann hast du in kürzerer Zeit das Doppelte verdient.“

„Das mag stimmen“, sagte Nasruddin, „aber wenn ich jedesmal das größere nehme, werden die Leute aufhören mir etwas zu geben. Sie wollen doch eigentlich beweisen, dass ich verrückter bin als sie. Und dann hätte ich gar kein Geld mehr.“

Die Gedankengänge und Motivationen eines Strebenden auf dem geistigen Weg sind für den auf die stoffliche Welt Ausgerichteten undurchschaubar und unverständlich.

So nimmt ein Derwisch oft die Rolle des Unerleuchteten ein, um eine Wahrheit noch eindrucksvoller darzustellen.

Es gibt eine schöne Anekdote, die den oberflächlichen Glauben an Ursache und Wirkung in Frage stellt:

Als der Mulla eines Tages durch eine schmale Gasse ging, fiel ein Mann von einem Dach – ihm genau auf den Kopf. Der Mann blieb unverletzt, aber Nasruddin musste ins Krankenhaus gebracht werden.

„Welche Lehre zieht ihr aus diesem Ereignis, Meister?“ fragte ihn ein Schüler.

„Hüte dich vor dem Glauben an das Unvermeidliche, auch wenn Ursache und Wirkung unvermeidlich scheinen. Und nimm dich in acht vor theoretischen Fragen wie: wenn ein Mann vom Dach fällt, wird er sich das Genick brechen?

Er fiel – aber mein Genick ist gebrochen.“[ii]

Warum gefallen mir diese Nasruddin-Geschichten so gut?

Nasruddin betrachtet seine eigenen und die Fehler der anderen mit Heiterkeit. Er will nichts verändern, es geht ihm nur um Selbsterkenntnis. Er kann die Ereignisse aus einer bestimmten Distanz heraus betrachten und geht spielerisch damit um.

So öffnen sich Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, die vorher nicht bemerkt wurden, weil der Blick zu einseitig war. Nichts muss sein – alles darf sein.

Nasruddin hat keinerlei Schuldgefühle wegen seiner Dummheit und tadelt auch niemanden. Er versucht nicht, etwas zu verstecken, sondern zeigt seine Unwissenheit offen vor aller Welt. Es erheitert ihn, wenn er bei sich selbst und anderen Verhaltensweisen entdeckt, die ihm völlig verrückt vorkommen.

Nasruddin ist der Mensch, der sich einerseits seiner Herkunft aus dem Ewigen bewusst ist und dadurch Zugang zur ursprünglichen Weisheit besitzt und sich andererseits als Teil dieser vergänglichen Natur empfindet mit all ihren Fehlern und Schwächen. Mit den Augen der Ewigkeit kann er lächelnd auf die Unvollkommenheit und Narrheit dieser stofflichen Welt herabblicken und sie liebevoll mittragen.

Er kann alles annehmen und will nichts vermeiden. Freude und Leid gelten ihm gleichviel. Er ist nicht mehr Sklave seines Egos mit all seinen Forderungen und Bedürfnissen und nimmt es nicht mehr ganz so ernst.

So erhebt er sich über den Ernst des Lebens in die Heiterkeit und Liebe der Kinder Gottes, die sich im Strom des Lebens geborgen wissen.


[i]      Idries Shah, Die fabelhaften Heldentaten des weisen Narren Mulla Nasrudin, Verlag Herder 2013

[ii]    Aus: Idries Shah, Die Sufis, Eugen Diederichs Verlag 1982, S. 59

Alle anderen Geschichten sind in leicht abgewandelter Form dem Buch Die fabelhaften Heldentaten des weisen Narren Mulla Nasrudin“ von Idries Shah entnommen

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Datum: April 20, 2025
Autor: Maria Amrhein (Germany)
Foto: laughing-Bild von Dean Moriarty auf Pixabay CCO

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