Macht und Bewusstsein in Beziehungen. Vom Schöpferischen und Neuschöpferischen – Teil 2

Vom innersten Wesenskern strahlt Liebe aus. Sie führt zu verschiedenen Phasen im Prozess der Schöpfung und Bewusstwerdung. Im indischen Mythos von Shiva und Shakti werden sie bildhaft dargestellt. Darin können wir zugleich Entwicklungsstufen in unseren Partnerschaften erkennen.

Macht und Bewusstsein in Beziehungen. Vom Schöpferischen und Neuschöpferischen – Teil 2

(Zu Teil 1)

Schöpfung und Bewusstwerdung

Der Mythos von Shiva und Shakti zeigt uns die aufeinander folgenden Phasen der Schöpfung und des Bewustwerdungsprozesses im Zusammenwirken von männlicher Kraft und weiblicher Macht.

Am Anfang ist Einer – Shiva, der transzendente All-Eine.

Sein immerwährendes Brahman-Sein bedeutet: grenzenloses Bewusstsein. Es ist das Eine ohne ein Zweites. Noch ruhen alle kreativen Prozesse. Sie liegen noch inaktiv in ihm. Die Gottheiten beten zu ihrer „schlafenden“ Energie, dass sie sich in die Welt einbringen und eine konkrete Gestalt und Wirkkraft annehmen möge. So wird Sati geboren.

Dann sind Zwei – Shiva und Shakti/Sati – Bewusstsein und Macht. Aus der formlosen Unendlichkeit des Einen nimmt die Schöpfung über das Prinzip der Unterscheidung Gestalt an. Das höchste Bewusstsein teilt sich in zwei komplementäre Aspekte, die gemeinsam kreativ tätig werden und viele Namen haben: Shiva und Shakti, Purusha und Prakriti, Geist und Materie, Bewusstsein und Energie. Die Schöpfung beginnt, wenn sein bewusster Wille es so entscheidet und sie sich als Kraftstrom in Ihm erhebt. Dann löst sie sich aus seiner Ruhe und beginnt ihren Weltentanz: Shiva und Shakti vereinen sich. Er gibt sich hingebungsvoll in ihre Hände.

Denn Er will Welten werden, in denen Er sich selbst in Trillionen von Formen freudevoll genießen kann, und Sie ermöglicht ihm die Verwirklichung dieses Wunsches. Als Seine ausführende Gestaltungskraft wird Ihre unerschöpfliche Energie zur Göttlichen Mutter des Kosmos, zu Seiner weltenkonzipierenden und –gebärenden Macht.“ (*Thole 2015)

Das Göttliche versinkt in der Natur

Aus der Zwei werden Viele – Sati bewirkt die Entfaltung der Natur. Shaktis pulsierende Macht führt zur Entfaltung der gesamten Natur. Sie bringt immer neue Formen hervor, von den feinsten Anfängen über die verschiedenen Stufen der psychologischen Innenwelten bis hin zur dichtesten Stofflichkeit. Aus ihrer Sicht ist alles das uranfängliche All-Eine, das sich in der Welt als Zwei-in-Einem zum Ausdruck bringt. Aber ganz allmählich hüllt sie ihn immer mehr ein mit ihrer Formenvielfalt, so dass von seinem bewussten Sein immer weniger durch diese „Verpackung“, hindurchdringen kann. Shiva ist irgendwann einmal in Shaktis Produkten nicht mehr offen-sichtlich. Jetzt ist er es, der in ihr schläft.

Parvati bewirkt die Befreiung und Vollendung

Die Vielen werden zum Einen – Parvatis Weg zu Ihm.

Die sich auflösende Liebesekstase von Shiva und Sati/Shakti erhält eine Fortsetzung, denn mit Parvati wird der Schöpfungsprozess zu seiner Erfüllung geführt.

Auf die Formwerdung muss die Bewusstwerdung folgen, damit die Partner sich wieder ebenbürtig sind. Die Shakti-Kraft wirkt also auf zwei Ebenen. Während Sati vorwiegend die Naturebene der Weltenmutter symbolisiert, repräsentiert Parvati die hohe Ebene der all-bewussten Mahashakti […] Sie ist die höchste Herrin, die durch keine Mechanismen der Natur in ihrem Wirken gebunden ist und die Macht hat, das begrenzte Bewusstsein des Einzelwesens über den Weg einer größeren Bewusstwerdung wieder in die Erfahrung der All-Einheit zu führen. (*Thole 2015)

Was uns das göttliche Paar in der mythologischen Erzählung vorlebt, ist eine Art „Blaupause“, die sich bis in unser alltägliches Zusammenleben hinunter transformieren möchte.

Das ist der Knoten, der die Sterne aneinander bindet:

Die Zwei, die eins sind, bilden das Geheimnis aller Macht.

Die Zwei, die eins sind, sind auch in den Dingen Macht und Recht.

(*Sri Aurobindo).

Das Drama von Abhängigkeit und Befreiung findet auch im Menschen statt

Auch in der Partnerschaft spielt das Thema Macht eine entscheidende Rolle. Es ist so etwas wie der „Klebstoff“ jeder Beziehung, dies aber nur, wenn wir in intensiver Schattenarbeit unreife kindliche und pubertäre Machtimpulse durchschauen lernen.

Wie bei Shiva und Shakti ringen unentwegt abhängige und unabhängige Anteile in uns. Aus der frühesten Kindheit resultiert unsere fundamentale Bedürftigkeit. Je weniger die elementaren ersten Bedürfnisse in der Beziehung zur Mutter und zum Vater gestillt werden konnten, umso mehr werden wir später in der Paarbeziehung unsere Bedürfnisse auf den Partner projizieren.

In der weiteren Entwicklung, vor allem aber in der Pubertät, kann es uns dann nicht schnell genug gehen, selbstständig und unabhängig zu werden. Wir unterliegen dann eher einem Wahn des Unabhängig-Werden-Wollens (vgl. * Dittmar 2015). Erwachsenwerden besteht jedoch nicht nur aus einem Gewinn an Unabhängigkeit. Viel wichtiger ist eine Zunahme an Beziehungsfähigkeit – indem wir lernen, ein weit verzweigtes Beziehungsnetzwerk aufzubauen. Wir brauchen einander. Wir brauchen Beziehung, ja wir können lernen, überhaupt beziehungsfähig zu werden.

Dazu ist es erforderlich, dass beide Partner auf Augenhöhe versuchen, sich gegenseitig in ihren unabhängigen und abhängigen Teilen zu zeigen und die Verletzlichkeit und die Angewiesenheit aufeinander wirklich zuzulassen. Wir können erkennen, dass es überhaupt nichts bringt, das eigene Interesse gegen das des Partners durchzusetzen. Damit würden wir zugunsten einer kurzfristigen Bedürfnisbefriedigung nur die Beziehung schädigen.

Indem unsere Verletztheiten und Verletzlichkeiten immer bewusster werden, legen wir unseren Schutzpanzer ab und geben unserem innersten Potential die Gelegenheit sich zu offenbaren. Eine Durchlässigkeit zu unserem WIRKLICHEN SELBST – so wie wir „gemeint“ sind – kann sich einstellen. In dieser schrittweisen Öffnung können wir in Berührung kommen mit einer WIRKLICHKEIT, die hinter und über allem ist – mit einem Raum, einer Lebendigkeit, einer Fülle, einer Verbundenheit jenseits aller Vorstellungen.

Diese Offenheit nach innen dürfen wir als Prozess der SELBST-Ermächtigung sehen. Indem wir die unreifen Persönlichkeitsanteile der Bedürftigkeit und der zwanghaften Unabhängigkeit in uns schrittweise erkennen, können sich die Identifikationen mit diesen Ich-Anteilen lockern, vielleicht auch lösen.

Immer ungehinderter kann die vom innersten Wesenskern ausstrahlende Macht der Liebe nach außen treten und wirken. Diese Macht strahlt weit über die Partnerschaft hinaus bis in das Innerste der Materie. Sie wird auch die Erde zu einer „Neuen Erde“ machen. So stimmen wir uns ein auf das göttliche Wirken – auf Shiva und Parvati.

 

Literatur:

Dittmar, Vivian: beziehungsweise – Beziehung kann man lernen, edition es, München 2015

Sri Aurobindo: Savitri, Buch I, Canto 4

Thole, Ela: Die Göttliche Shakti, Bielefeld 2015

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Datum: Mai 19, 2021
Autor: Burkhard Lewe (Germany)
Foto: wal_172619 auf Pixabay CCO

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