Lauschen und leben

Philosophie in Zeiten der Bedrängnis

Lauschen und leben

Zuhören ist die am meisten vernachlässigte Sprachkompetenz, schrieb ich vor ein paar Monaten[1]. Darauf erhielt ich viele Zuschriften. Ist es nicht seltsam, dass das Zuhören so wenig geübt wird? Jede Beziehung zwischen Menschen beginnt mit Zuhören [2],[3],[4]. Eine Begegnung gewinnt nur dann an Kraft, wenn wir uns gegenseitig mit offenem Herzen zuhören. Während Sie zuhören, versetzen Sie sich für einen Moment in die Lage des anderen und nehmen auf, was er oder sie zu sagen hat. Während dieses Augenblicks der Selbstvergessenheit kann man alles Mögliche lernen und seine Einsichten verändern. Das macht für mich das Zuhören oft reicher als das Sprechen.

Diejenigen, die sich zu Wort melden, wiederholen im Grunde nur, was sie bereits wissen. In diesen Krisenzeiten scheint sich dies noch zu verstärken, und die Menschen fangen sogar an, sich gegenseitig zu übertönen. Wer die „Unterhaltungen“ in den sozialen Medien verfolgt, kann nur zu dem Schluss kommen, dass die Menschen den unbändigen Drang haben, sich mit ihren eigenen „Forschungen“ zu profilieren und die anderen mit ihrer eigenen unanfechtbaren „Wahrheit“ zu übertrumpfen. Dieses Phänomen ist vielleicht auch so etwas wie der Durchbruch der Wassermann-Werte an diesem Punkt, an dem alles Verborgene enthüllt wird. Um es mit den Worten der Bibel zu sagen:

Denn nichts ist verborgen, das nicht offenbar werden wird, und nichts ist geheim, das nicht bekannt werden und an den Tag kommen wird. [5]

Anderen zuzuhören und die eigene Wahrheit in Frage zu stellen, wird im gesellschaftlichen Miteinander manchmal zur Schwäche erklärt. Das ist bemerkenswert, denn gerade durch Zuhören kann man Meinungen ändern, und es kann Wachstum stattfinden. Es ist erfrischend, das zu erleben. Ich kann es Ihnen empfehlen.
Warum nutzt der Mensch sein Talent zum Zuhören so wenig?

Von dem Moment an, als ich sprechen konnte, wurde mir geheißen, zuzuhören“ (From the moment I could talk I was ordered to listen), singt der britische Sänger Cat Stevens in dem wunderschönen Lied „Father and Son“ [6], in dem der Sohn seinem Vater beim Verlassen des elterlichen Umfelds ein Lied widmet. Von Kindheit an scheint Zuhören mit Gehorsam und stundenlangem, gelangweiltem Zuhören verbunden zu sein. Aber fast gleichzeitig singt Stevens von einem „anderen“, einem zweiten Zuhören:

Ich lausche dem Wind in meiner Seele. (I listen to the wind upon my soul.)
Hier scheint sein Zuhören gleichsam in die Sphären der Seele überzugehen. Darauf deutet die Bibelstelle bei Lukas hin:
So seht nun darauf, wie ihr hört. [7]

Das Wort „wie“ ist hier wichtig. Es geht nicht nur darum, DASS man zuhört, sondern auch, wie. Wer mit dem irdischen, natürlichen Sinnesbewusstsein und Verstand zuhört, dem hilft das als Kind dieser Erde nur, diese Welt besser kennenzulernen. Aber Sie haben auch ein Ohr für die inneren Botschaften Ihres wahren Wesens erhalten. Diesen können Sie auch lauschen, um die Erkenntnisse zu vertiefen, die Sie aus der Welt des Geistes erhalten.

Man kann also das Wort des Unnennbaren entweder mit irdischem oder geistigem Bewusstsein hören. Es wäre schade, wenn das spirituelle Bewusstsein verkümmern und dauerhaft vom „normalen“ Verstand versklavt werden würde. Deshalb ist jeder Mensch eingeladen, dieses spirituelle Bewusstsein in Verbundenheit weiterzuentwickeln, ihm zu lauschen und es immer stärker werden zu lassen, auch und gerade in Zeiten der Krise [8]. Das Ergebnis ist ein strahlendes Leben.

Ein poetisches Beispiel für das Zuhören
Der Nimwegener Dichter Pé Hawinkels besaß eine beispiellose Energie und schrieb, redigierte und übersetzte in seinem intensiven Leben von fünfunddreißig Jahren eine Vielzahl von Texten. Es heißt, dass er so sehr an seiner Schreibmaschine hing, dass er oft mit Pflastern an den schmerzenden Fingern dasaß und tippte.

Zu den zahlreichen Veröffentlichungen von Hawinkels gehören neben Lyrik und Prosa auch Übersetzungen von Büchern der Bibel (Hesekiel und Kohelet) und von Werken von Friedrich Nietzsche, Theodor Fontane, Herman Hesse und Thomas Mann, unter anderem. Er schrieb auch zahlreiche Artikel über Jazz- und Popmusik.

In seinem Gedicht „Wann immer ein Wort erklingt“ (Telkens klinkt een woord) gelingt es dem Dichter, eine durchdringende Botschaft des Zuhörens zu vermitteln:

Das Licht ist erloschen, die Hoffnung gestrandet,
wir nähren uns von Asche.
Der Tod verdrängt, doch brennt der Schmerz,
und nichts ist mehr so, wie es war.
Doch immer wenn ein Wort erklingt
in dem neue Zukunft strahlt;
gib es einem, der zuhört,
der seine Chancen nicht aus Angst verspielt,
sondern lauscht.
Das Kreuz wird blühen wie eine Rose,
und niemand geht im Dunkel verloren.
Und wer das Leben mit offnen Ohren gewählt,
der verleiht dem Wort eine neue Kraft
und lauscht.
Pé Hawinkels (1942-1977) [9]


[1] Dick van Niekerk, Geboren door het oor van Maria (deutscher Titel?)
[2] Pierau V., Leiderschap in luisteren (Führen duch Zuhören) (Makkum NL 2019, 302 p.)
[3] Tomatis A., Het bewuste oor (Das bewusste Ohr) (Katwijk 2006)
[4] Constas, Nicholas, “The ear of the virginal Body”: The poetics of Sound in the School of Proclus, chapter five, in: Proclus of Constantinople and the Cult of the Virgin in Late Antiquity, (Leiden Boston 2003), 273-313
[5] Lukas 8:17
[6] Cat Stevens, Father and Son, 1970, Cat Stevens Father & Son 1971
[7] Lukas 8:18
[8] Dieser Artikel gehört zurSerie ‘Filosofie bij Rampspoed’ (Philosophie in der Katastrophe) in der niederländischen Printausgabe von LOGON, 2022-3
[9] Pé Hawinkels, Drie Gezangen voor de Veertigdagentijd (Drei Gesänge für die Fastenzeit) in: Verzamelde Gedichten (Gesammelte Gedichte), De Stiel, Nijmegen 1988

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Datum: November 17, 2022
Autor: Dick van Niekerk (Netherlands)
Foto: Giselaatje on Pixabay CCO

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