Träume
Jahre ist es her – ja, fast zwei Generationen –, dass mich die Suche nach der „Welt hinter der Welt“ ergriff. Ich trug in meiner Kindheit eine Ahnung in mir, der ich keinen Ausdruck geben konnte. Ich wollte sie auch gar nicht ergreifen; sie zog einfach über mich hinweg oder durch mich hindurch, so wie die Wolken am Himmelsgewölbe, die mir wie lebende Wesen vorkamen.
Oft lag ich im Gras und schaute nach oben. Die Wolken so nah und doch so fern. Die dünne Schicht, in der unser Leben abläuft, ist so schmal, so winzig, bevor sie in das Weltall übergeht. So, oder so ähnlich fühlte ich es durch mich hindurchziehen, denn es war noch kein ausgeprägter Gedanke, der mein Weltbild bestimmte.
Bücher- und Bilderwelten
Doch dann erlebte ich – knapp 13 Jahre jung – eine tiefgehende Erschütterung. Ich hatte eine gute Zeit in der Stadtbücherei unserer kleinen Stadt. War zum Buchfresser geworden; alle zwei bis drei Wochen acht, zehn oder auch 15 neue Bücher mussten es schon sein. Ich tauchte in die unterschiedlichsten Welten ein. War Detektiv, Abenteurer, Held. Alles war aufregend für mich, bis ich das Buch Momo von Michael Ende erwischte. Es war ein ganz besonderes Buch: bezaubernd, heldenhaft und verstörend zugleich.
Das ist jetzt über 46 Jahre her, aber dieser Moment ist mir heute noch sehr gegenwärtig. Ich habe danach über eineinhalb Jahre kein Buch mehr lesen können und habe dann auch nur sehr langsam wieder neue Buchwelten betreten. Ich kannte auch keinen Menschen um mich herum, mit dem ich die Eindrücke dieses Buches hätte teilen können. Eine neue Wirklichkeit hatte mich ergriffen, aber sie blieb in mir verborgen. Ja, irgendwie eingeschlossen – und arbeitete doch weiter in mir, im Geheimen.
Ich muss dazu noch anmerken: es gibt für mich fast keinen Unterschied zwischen der um mich herum erlebten Wirklichkeit und den Geschichten und Stories in Büchern und Filmen. Wenn ich einen Film anschaue, dann bin ich ganz und gar der Film. Wenn ich ein Buch lese, bin ich das Buch, lebe, leide und freue mich mit den Protagonisten. Ganz häufig tauche ich wie ein Apnoetaucher aus großer Tiefe wieder an die Oberfläche.
Ist das weltfremd? Vielleicht. Ich kenne diese krasse Trennung der Wirklichkeiten nicht, auch wenn man mir sie über die Jahre hinweg immer wieder eingetrichtert hat.
Obwohl ich in die Welt der Intellektualität und des wissenschaftlichen Arbeitens eingeladen und in ihr verankert wurde, hat sich in mir eine Art Bilderbewusstsein entwickelt. Bilder steigen in mir auf wie farbige Seifenblasen, die wieder zerplatzen und durch neue Bilderformen und Assoziationen ersetzt werden. Ein permanenter Reigen immer wieder neu geschöpfter Bilder. Manchmal perlen sie wie Bläschen in einem Wasserglas nach oben, dann wieder lassen sie sich Zeit und entstehen wie in Zeitlupe, entwickeln sich in aller Ruhe und erst, wenn sie fertig „gemalt“ sind, wagen sie es, sich vorsichtig und würdevoll zu zeigen. Ab und zu steigen aber auch Bilder auf, die wie in Nebel getaucht scheinen; ich kann mich nicht direkt auf sie fokussieren, sie bleiben im Unscharfen und sinken wieder hinab, so als ob sie sich nicht zu erkennen geben wollen. Ist ihre Zeit noch nicht gekommen?
Spiritueller Weg
„Nach einer nicht suchenden Suche“ bin ich bereits früh mit spirituellen Lehren in Verbindung gekommen und dabei auch mit der Idee des Rosenkreuzes.
Mir ist klar geworden, dass geistige Impulse einen Ausdruck in Menschen suchen, die sich dazu vorbereitet haben. Höher schwingende Sphären übertragen sich in niedriger schwingende und strahlen in die Welt aus. So kommt es zu ständigen Veränderungen im Innern wie im Äußeren.
Feinstoffliche Welten werden präpariert und bilden die Brücke, über die das Oben das Unten erreicht. Dahinter schwingt die große tiefgreifende Idee, dass die immer neue Wirklichkeit in uns lebendig zum Ausdruck kommen will.
Eine Struktur, ein seelisches „Gebäude“, ein Konzept hat nur dann seine Berechtigung, wenn wir es leben. Dazu war ich bereit, dazu bin ich eingetaucht in die Verknüpfung mit der Essenz des Rosenkreuzes, mit Menschen, die ein gleiches oder ähnliches Ziel haben. Ich war bereit, mein ganzes Leben in diese von mir gefühlte und erkannte Wirklichkeit zu stellen.
Über die Jahre habe ich, wie so viele andere um mich herum, die Feststellung gemacht: es gibt ein inneres unsichtbares Geschehen – einen lebendigen Ausdruck des wahren Seins –, und es gibt die feinstofflichen Strukturen, die als Formen errichtet sind, damit das Innere Gestalt annehmen und sich ausdrücken kann.
Ein Glasperlenspiel?
Eines Tages kam mir wie aus heiterem Himmel der Gedanke, dass ich, dass wir als Gruppe das „Glasperlenspiel“ bis in alle Einzelheiten perfekt beherrschen. Ich war zutiefst erschrocken und konnte es anfänglich kaum ertragen, diesen Gedanken weiter auszudeuten.
Das Glasperlenspiel ist ein äußerst feinsinniger Roman von Herrmann Hesse. Der Protagonist dieser ergreifenden Erzählung ist Josef Knecht. Er trat in eine Lebensgemeinschaft ein, die sein Leben bis in alle Einzelheiten bestimmte. Der Höhepunkt eines jeden Jahres war das Glasperlenspiel. Josef Knecht erfasste das Spiel in seiner Vollständigkeit. Er spielte mit den Glasperlen so raffiniert, so besonders und einmalig, dass alle um ihn herum fasziniert und begeistert waren.
Das gelebte Glasperlenspiel umfasst Werte wie Gelassenheit durch Meditation, Engagement für Musik, Heiterkeit, achtsamen Umgang mit den Mitmenschen, das Loslassen von Amt und Würde, die Einheit von Natur und Kunst.[1]
Josef Knecht wurde gefeiert und bejubelt – nur er selber war nicht begeistert von seiner Meisterschaft. Sie bedeutete ihm nichts, obwohl er sich doch danach gesehnt hatte, das Spiel perfekt und mit großer Hingabe zu beherrschen. Denn es enthält ja die hohen Werte unseres Lebens. Josef Knecht aber erkannte: Das ist es nicht! Das reicht nicht aus!
Das wundervolle Mandala muss weggewischt werden
Dieses „Gruppengebäude“ kann man mit einem Mandala vergleichen. Einem unglaublich feinsinnigen Mandala, das mit viel Energie, Liebe, Freude und Hingabe durch die Teilhaber entstanden ist. Doch dann kommt der Punkt, an dem du feststellst: Dieses perfekte Mandala muss weggewischt werden. Es verdeckt die Wirklichkeit!
Das ist einerseits ein Schock und doch wiederum nicht, denn alle in der Gruppe kennen das hermetische Axiom: „Alles empfangen. Alles preisgeben. Um dadurch alles zu erneuern“.
Immer ist es das Feuerelement in uns, unser tiefes Suchen, das nach höheren Dimensionen verlangt, als sie unsere jetzigen Gedankengebäude, Strukturen, Mechanismen und fixierten Räume bieten können.
Ich stand plötzlich vor der Realität meiner persönlichen Strukturen und Konzepte und sah: Ja, ich habe die hohe Idee vor mich gestellt – und habe mich in ihr gesonnt, wie Jan van Rijckenborgh es einmal formulierte. Aber lebe ich sie auch? Findet sie wirklich Ausdruck in meinem Leben?
Diese Wahrnehmung machte mich fortan wacher und ich beobachte mich und andere aufmerksamer. Da war einerseits die Gemeinschaft und die Hinwendung an ein neues Sein.
Andererseits musste ich feststellen, dass entscheidende Entwicklungen in mir außerhalb der gemeinschaftlichen Strukturen stattfanden.
Ein Schritt ins Offene
Ich erkannte, dass ich meine inneren Entwicklungen in die Bereiche des gemeinsamen Seelenfeldes projiziert hatte, in denen ich mich wähnte. Nun aber entdeckte ich mein inneres Feuer in neuen Dimensionen.
Und jetzt stehen wir im Jahr 2021 bereits über ein Jahr in der Corona-Krisenzeit. Die Masken hindern uns daran, frei zu atmen. Und doch sehe ich aktuell die Chance, in einen unerhört neuen Atmungsprozess einzutreten, der alte Begrenzungen aufreißt. Die Frage ist: Kann ich auf meinem inneren Weg bereits selber atmen oder brauche ich noch Sauerstoffflaschen? Bin ich genügend geweitet, ist mein inneres Maß genügend gestärkt, um eine größere Weite und Intensität des Wirklichen, des Universellen in mich aufzunehmen?
Ein Schritt ins Offene hat sich in mir angebahnt. Wir stehen in der Eigenverantwortung – und in der Mitverantwortung. Jeder lebt für sich und für die große Menschheitsfamilie.
(wird fortgesetzt in Teil 2)
[1] siehe dazu https://www.hermann-hesse.de/archiv/2012/11/05/das-glasperlenspiel