Die Frage „Wie kann man Gott denken?“ beinhaltet zwei Themen. Das erste lautet: Wie müsste ein Denken beschaffen sein, das in der Lage ist, Gott zu erfassen? Und das zweite: Von welcher Art Göttlichkeit ist Gott?
Die Fragen mögen gewagt erscheinen, doch – sind sie es wirklich für Menschen, denen es darum geht, die anscheinend unverrückbaren Mauern des alltäglichen Lebens und der Wahrnehmung niederzureißen? Für sie sind Fragen dieser Art vielleicht sogar wesentlich, denn sie betreffen den Kern des menschlichen Lebens und seiner Bedeutung.
Im Heute des 21. Jahrhunderts, mit seinem individualisierten und rationalen Bewusstsein und seinem postmodernen Skeptizismus, ist an die Stelle der Allmacht Gottes unsere planetare Techno-Wissenschaft getreten – und wir haben die Bedeutung des Göttlichen von diesem Ausgangspunkt aus neu zu erforschen.
Was geblieben ist, ist der Hintergrund des Absoluten. Und wie schon manche große Lehrer in der Vergangenheit kommen auch wir heute zu dem Ergebnis, dass wir nicht sagen können, was das Göttliche ist, sondern allenfalls, was es nicht ist. Nach 2000 Jahren religiöser und kirchlicher Kultur spüren mehr Menschen als je zuvor, dass Gott nicht anthropomorph sein und man sich deshalb auch kein festes Bild von ihm machen kann. Immer weniger Menschen glauben an einen personifizierten Gott, der autoritär wirkt und nur über Vermittler erreichbar ist. Immer mehr suchen jedoch einen direkten Zugang zum Göttlichen. Sie sehnen sich danach, den Archetyp wiederzubeleben, das Spiegelbild Gottes, das im innersten Kern eines jeden Menschen vorhanden ist.
Diese Menschen sind nicht zufrieden mit bloßen Erklärungen, Predigten, Vorträgen oder Kursen; sie erstreben auch keine Initiation durch ein äußeres Geschehen. Sie sehnen sich vielmehr nach dem „Geist“, ihre Seelen verlangen nach Erneuerung. Die Gesundung einzelner Aspekte der Seele ist ihnen nicht genug; sie wünschen sich eine fundamentale Veränderung, eine Transformation ihres essentiellen Wesens, eine Transfiguration, etwas wirklich Neues. Sie spüren, dass das Göttliche eine Kraft ist, eine Energie, ein Strom der Erneuerung, ein Licht, etwas, das sie zu sich zieht.
Sie gelangen sie zu der Erfahrung, dass das, was sie sich anfangs als eine höchste Abstraktion vorgestellt hatten, allmählich zu einer Wirklichkeit wird. Der unbestimmte, namenlose Gott erhebt sich. Es kommt zu einer inneren, lebendigen Beziehung zu der „Idee“, die am Anbeginn der Schöpfung steht.
Der Begriff „Abstraktion” erweckt die Vorstellung eines Abstands zwischen uns selbst und der Idee. So verhielt es sich auch zunächst mit der Idee des Vater-Mutter-Schöpfers. Doch die immer neue Vertiefung in sie hat etwas verändert. Sie hat einen Sinn für das Göttliche in uns heranwachsen lassen; und er ermöglicht es, sich dem Göttlichen zu öffnen, es für gegeben anzunehmen und es schließlich sogar zu empfinden, zu erkennen, zu denken. Es wird in uns zur Wirklichkeit.
Ein Schritt im Bewusstsein
Wirklich ist für einen Menschen das, was bis in sein persönliches Bewusstsein gelangt und dort als etwas Reales erfahren wird. Wir wollen daher unsere Anfangsfrage etwas umformulieren: „Können wir uns Gott als wirklich und konkret vorstellen?“ Das Bewusstsein ist Teil des menschlichen Wesens. Kann sich Gott in ihm und damit im Wesen des Menschen manifestieren?“
Die Antwort lautet: Ja, das Göttliche kann sich hier manifestieren. Das ist sogar eine Notwendigkeit, sagen die Rosenkreuzer. Wenn die Zeit dafür reif ist, kann und wird dies jeder Mensch erfahren, doch es geschieht nicht von selbst. Es bedarf bewusster Vorbereitung und innerer Arbeit.
In unserer Zeit ist das Göttliche für die meisten Menschen ein abstraktes Konzept. Viele Kirchen verschieben die Auferstehung des Menschen und die Erfahrung des Göttlichen auf einen unbekannten Augenblick in der Zukunft, auf ein Irgendwann nach dem körperlichen Tod.
Diese Sicht schließt eine aktuelle „Fleischwerdung des Wortes” aus, eine „Manifestation Jesu“ als seelische Entwicklungsstufe im menschlichen System, eine strukturelle, fundamentale Erneuerung und eine Auferstehung im eigenen Körper. Das Suchen nach dem Göttlichen kann zu einem blinden Umherirren um einen Berg werden, in dem eine Schatzkammer verborgen liegt, deren Eingang verschlossen bleibt. Demgegenüber führt die innere Erfahrung des Göttlichen zu dem „täglichen Wandel mit Gott“, von dem in den Schriften die Rede ist.
Bis zu einem gewissen Grad gehört die verschlossene Tür zu dem Zustand, in dem wir uns alle befinden. Jedenfalls so lange, wie wir uns weigern „zu lauschen“ und stattdessen an einer vagen Vorstellung oder einem abstrakten Ideal festhalten. Wir überspielen dann den Ruf, der uns zu notwendigen Schritten nach innen drängt.
Unser Denken kann sich aber wandeln. Wir können alte Gedankengebäude, lang gehegte „Tempel von Gefühlen“ und eingeübte Verhaltensmuster Schritt für Schritt auflösen. Neue „Tempel“ können entstehen, die offen und weit genug sind, um geeignete Gefäße für das Göttliche zu sein. Die Impulse des Logos folgen ihrem eigenen Gesetz. Wir können lernen, uns für sie zu öffnen und ihnen gemäß zu handeln. Wir können Gott denken, sobald es möglich wird, dass er unser Denken erfüllt, sobald das Göttliche also in uns aufersteht.
Der Lobgesang des Hermes
Damit kommen wir zur zweiten der oben aufgeworfenen Fragen: Von welcher Art Göttlichkeit sprechen wir? Wo ist Gott? Innen oder außen? Die Antwort finden wir im Lobgesang des Hermes Trismegistos[1]:
Wer könnte Dich Deiner Würde gemäß preisen?
Wohin sollte ich mich wenden mit meinem Lob?
Nach oben? Nach unten? Nach innen? Nach außen?
Es gibt keinen Weg, keinen Ort, kein einziges Geschöpf außerhalb von Dir.
Alles ist in Dir, alles ist aus Dir.
Du gibst alles und nimmst nichts,
denn Du besitzt alles und es gibt nichts, was Dir nicht gehört.
Wann sollte ich Dich loben, o Vater?
Es ist unmöglich, Deine Stunde und Deine Zeit zu erfassen.
Warum sollte ich Dein Lob singen?
Wegen der Dinge, die Du gemacht hast?
Oder wegen der Dinge, die Du noch nicht gemacht hast?
Wegen der Dinge, die Du geoffenbart hast?
Oder wegen derer, die Du noch verborgen hältst?
Warum sollte ich Dich denn loben,
als ob ich mir selber gehörte
oder etwas Eigenes hätte,
das außer Dir besteht?
Denn Du bist alles, was ich bin.
Du bist alles, was ich tue.
Du bist alles, was ich spreche.
Es gibt nichts, was Du nicht bist.
Du bist alles, was geworden ist,
und alles, was nicht geworden ist.
Der vernünftige nous (Geist),
der erschaffende Vater,
der wirkende Gott und
das Allgute, das alles erschafft.
Der feinste Teil der Luft ist die Seele.
Der feinste Teil der Seele ist der nous (Geist).
Der feinste Teil des nous ist Gott.
[1] Corpus Hermeticum, aus dem Altgriechischen von Beate Krzyzan, DRP Rosenkreuz Verlag, Birnbach 2014, S. 72; Jan van Rijckenborgh, Die Ägyptische Ur-Gnosis und ihr Ruf im Ewigen Jetzt, 2. Teil, Rozekruis Pers, Haarlem, Kap. 33