Es gibt wohl kaum ein unschuldigeres, unbekümmerteres und freudigeres Naturgeschehen als das morgendliche Vogelkonzert in den mitteleuropäischen Breiten. Welch eine quirlig- fröhliche Stimmenvielfalt! Wie berührend sind die Strophen der Amsel, die sie oben vom Hausdach in die Welt hineinsingt, wie inniglich der Lichtfaden-Gesang des Rotkehlchens, wie fröhlich weckend das rufende Singen der Kohlmeise. Der Gesang der Gartengrasmücke purzelt munter aus dem dichten Weißdornbusch ebenso wie das kindlich-einfallsreiche Sprudeln des Gelbspötters … Jede Vogelart fügt aus voller Kehle und unbeschwert ihren Teil zum Ganzen bei. – Kaum aber, dass wir uns über dieses tägliche Frühlingsereignis Aufklärung verschaffen wollen, geraten wir in die Meerenge zwischen Skylla und Charybdis. Das ist ein geradezu klassisches Erlebnis bei Vogelexkursionen: Entweder tritt bei der Suche danach, warum die Vögel denn so etwas machen, das nüchterne biologische Verstandesdenken auf; oder aber das Gemüt ist so berührt, dass es vor lauter Sorge um diese schützenswerten Wesen die Frage nach dem „Warum“ des Vogelkonzertes aus dem Auge verloren hat.
Zweifacher Schiffsbruch bei Skylla und Charybdis
Wie gesagt, auf der einen Seite lenkt uns eine allzu biologische Auffassung vom rechten Erkenntnis-Fahrwasser ab: Es ist Frühling, die Lebens- und damit auch die Liebeskräfte ziehen wieder ein in die Natur. Die Pflanzen wachsen und die Vögel singen. Das Männchen sucht sein Weibchen, der Nachwuchs wird großgezogen. Auch die scheinbar eng umgrenzte Lebewelt der kleinen Singvögel ist wieder abgetaucht in die Natur des Daseins. Auch die Vögel folgen wieder ihren Trieben in Fortpflanzung, Nahrungssuche, Nestbau und Territoriums-Verteidigung. Auch diese unschuldigen Wesen kommen um ihre Hormone nicht herum. … Auf der Suche nach dem Geheimnis des Vogelgesanges lassen wir uns – von uns selbst meist unbemerkt – durch einen Biologismus auf eine abwegige Fährte bringen. Ja, wir verniedlichen dabei sogar die Natur („Auch die kleinen Vögelchen folgen ja nur ihrer Natur“) – und reduzieren damit unbedachter Weise auch uns selbst auf den Naturmenschen, der das Frühjahr nach der langen Winterkälte und -dunkelheit vor lauter Trieb nach Lebenslust kaum erwarten kann.
Auf der anderen Seite der Meerenge zieht uns die Bedrückung durch die wachsende, ja schreiende Not der Natur in ihren Bann. Seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat die europäische Vogelwelt ca. 600 Millionen Einzelvögel verloren, etwa ein Sechstel der gesamten europäischen Vogelpopulation.[1] Parallel damit ging eine ebenso besorgniserregende Abnahme der Klangvielfalt des Vogelgesanges in Nordamerika und Europa.[2] … Man könnte diese Schreckensmeldungen noch lange fortsetzen.
Damit aber sind wir auch auf dieser Seite der Meeresenge von unserem Vorhaben abgekommen, Erhellung und Aufklärung in das Wunder des Morgenkonzertes hineinbringen zu wollen. Sowohl die biologistische Betrachtungsweise als auch das Drama des Bestandschwundes lenken uns ab von der Betrachtung des ursprünglichen und ganzheitlichen Erlebens des Morgenkonzerts. In beiden Fällen ist das morgendliche Vogelkonzert nur zu einem bloßen Anlass geworden, über weitere, andere (wenn auch naheliegende und durchaus besorgniserregende) Themen nachzudenken. In beiden Fällen vermochten wir es nicht, zwischen Skylla und Charybdis hindurchzukommen. Wir haben doppelten Schiffbruch erlitten.
Nachklang des Sternenglitzerns und Sonnen-Begrüßungs-Fest
Wie aber kann das mittlere, zwischen den beiden Abirrungen hindurchführende, Fahrwasser gefunden werden? – Wegleitend hierfür kann die Maxime Goethes sein, sich an die Phänomene, an das „Faktische“[3] zu halten und die „Data der Beurteilung“,[4] die Einsichten der Erhellung, mithin also die Erklärung, aus dem Kreis der Phänomene selbst zu nehmen.
Blicken wir in diesem Sinne nochmals neu auf das morgendliche Vogelkonzert. Wann findet dieses Konzert eigentlich statt? – Im Übergang von der Nacht zum Tag! Die erklingenden Stimmen sind hohe glitzernde, vielfältige Pfeiftöne.
Man stelle sich im Gegensatz dazu vor, es würden blökende Schafe oder muhende Kühe den Morgen begrüßen. Wie viel seelisch ungebundener und wie viel reiner klingt doch da das Konzert der Singvögel! Ihre Stimmen verweben sich dabei zu einem Klangteppich, der sich schließlich zu einem regelrechten Klangdom über uns und um uns herum aufbaut – wie ein Nachklang des Sternenglitzerns am nächtlichen Firmament. Ihr jubilierender Charakter und das gleichzeitige Aufhellen der Welt ringsum verwandeln diesen Nachklang mehr und mehr zu einem Jubelfest für den baldig erfolgenden Aufstieg der Sonne über den Horizont.
Ein Zeichen der Götter
Ein Nachklang des Sternenglitzerns, ein Konzert zur Begrüßung der Sonne! Welch ein Zeichen der Natur bzw. der Götter! Ein Zeichen in der morgendlichen Erdenwelt, das uns in ähnlicher Weise berührt wie die horizontnahe Venus im Verein mit der Mondsichel am tiefblau-orange-glühenden Abendhimmel! Das Zeichen spricht mehr als alle astronomischen Erklärungen und räumlichen Vorstellungen über Planeten und Gestirne. Man steht da – und staunt über die berührende Schönheit dieses Anblickes, dieses Ereignisses, dieser Zeichenspur.
Venus und Mondsichel, das Morgenkonzert der Vögel: von den Göttern in die Welt gestellt, auf dass wir von ihnen wissen, auf dass wir das Staunen nicht vergessen, auf dass wir das Wundern nicht verlernen.
Stimmen des Kosmos
Ist es denn nicht tatsächlich wunderlich genug, dass man bei dem Konzert in der Dämmerung keinen einzigen Vogel zu sehen bekommt? Man hört nur Stimmen. Macht man sich erlebend diese Gegebenheit klar, dann entsteht in dieser Aufdämmerung der Nacht zum Tag unvermeidbar der Eindruck, dass freischwebende Stimmen ertönen. Und noch wundersamer: Zuerst hört man diese Stimmen immer (Ausnahmen bestätigen die Regel) aus der horizontenen Ferne. Und das, ganz gleich, wo man steht! Auch ein – von meinem Standort aus betrachtet – in der Ferne Stehender, auch er hört die Stimmen um sich herum zunächst in der weiten Ferne.
Allmählich rückt das Konzert immer näher, baut sich mehr und mehr auf. Es wird fülliger, reichhaltiger, variabler, dichter und verwobener. Schließlich spannt sich ein ganzer Klangdom über uns auf. Man selbst fühlt sich mehr und mehr wie in einen Zauber erhoben – und erlebt sich (hoffentlich) mehr und mehr beglückt. Schließlich kann es scheinen, als wären vom Umkreis, aus dem übersinnlichen Kosmos Stimmen zu uns durchgebrochen, um dieses morgendliche Zeichen der Götter in die Welt zu bringen.
Die unsichtbare Hand
Aber auch dieses Wunder geht einmal wieder vorüber. Der Klangzauber flaut ab, lässt nach, lässt die Segel fallen. Übrig bleiben nur noch vereinzelte Sänger – und wir selbst, die sich in der nüchternen Welt des Arbeitsalltages wiederfinden. Die unsichtbare Hand, die alle Stimmen zu einem Fest in der Schwebe zwischen Himmel und Erde, zwischen Nacht und Tag erhoben und gehalten hat, diese Hand hat sich wieder in ihre Abwesenheit zurückgezogen.
Für die eine oder andere Vogel-Art nähert sich diese Hand tagsüber wieder, wenn sich zum Beispiel die Amsel bei einem heranziehenden lauen Sommerregen aufgerufen fühlt, den Dachfirst zu ersteigen, alles irdische Geschäft – von der Nahrungssuche bis zur Territoriumsverteidigung – unter sich lässt, sich nur noch aufwärts zum Singen getrieben fühlt. Dann ist für sie auch eine Hand wieder da, die sie erhebt, für die sie singt. Und für viele Vogelarten, die das Morgenkonzert mitgetragen haben, ist auch der Abend wieder solch ein Moment der Erhebung.
Im Jahreslauf zieht sich die erhebende Hand teils gänzlich zurück, etwa ab Johanni (24. Juni), wenn der Vogelgesang verstummt und dann der einzelne Vogel tatsächlich auch nicht mehr zu singen vermag. Er und auch wir müssen warten, bis es ihn wieder ergreift, bis es ihn in Stimmung versetzt, bis es ihn wieder in die Schwebe zwischen Himmel und Erde erhebt. Das ist für manche Arten im Herbst der Fall, für die allermeisten Arten dann erst wieder mit dem Neubeginn des Jahres, mit dem Aufstieg der Sonne aus der Winternacht hin zum Sommertag.
Sinnstiftung
Es scheint, dass wir auf dem eingeschlagenen Wege dem Wunder und dem Wesen des Vogelgesanges etwas nähergekommen sind. Viel ist ja allein schon dadurch gewonnen, dass wir eine Ahnung davon bekommen, worin das Wunder besteht – zum Beispiel der Eindruck, dass Stimmen wie aus einem unsichtbaren Himmelsdasein zu einem irdischen Erklingen kommen. Wir sind dafür ganz im Bereich der Phänomene verblieben (Vogelgesang) und haben den Kontext (Tageslauf und Jahreslauf; Ort des Singens) aufgesucht, in dem sie erscheinen. Dadurch fangen die Phänomene an, als Schriftzeichen der Götter aufzuleuchten, ja vielleicht sogar auch schon etwas von ihrer tieferen Bedeutung zu verraten (Erhobensein, Nachklang des Sternenglitzerns, Begrüßung der aufgehenden Sonne). Wie viel gehaltvoller – in einer solchen Weise betrachtet – doch dann die Welt sein kann!
Dank des Autors: Der Artikel geht auf den langjährigen Forschungsaustausch mit Wolter Bos zurück, der auch zu dem vorliegenden Artikel einige wesentliche Ergänzungen beigesteuert hat.
Weiterführende Literatur:
Wolter Bos, Hans-Christian Zehnter: Warum singen Vögel? – Eine Alternativstudie, Zürich 2018
Wolter Bos, Hans-Christian Zehnter: Waarom zingen vogels?, Amsterdam 2019
Rudolf Steiner: Die Welt der Vögel. Herausgegeben und kommentiert von Hans-Christian Zehnter, Basel 2007
Rudolf Steiner: Die Welt der Tiere. Herausgegeben und kommentiert von Hans-Christian Zehnter, Basel 2015
Walter Streffer: Die Magie der Vogelstimmen, Stuttgart 2003
Walter Streffer: Klangsphären, Stuttgart 2009
Hans-Christian Zehnter: Vögel – Mittler zweier Welten, Dornach 2008
[1] Alexander C. Lees et al.: State of the World’s Birds. Annual Review of Environment and Resources, Nr. 47/2022: 6.1–6.30.
[2] C.A. Morrison et al.: Bird population declines and species turnover are changing the acoustic porperties of spring soundscapes. Nature Communications, Nr. 12/2021: 6217; doi.org/10.1038/s41467-021-264881-1.
[3] „Das Höchste wäre, zu begreifen, dass alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.“ Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), Sprüche in Prosa 165, Maximen und Reflexionen 488.
[4] Data der Erklärung: Der Mensch soll „die Maßstäbe der Erkenntnis, die Data der Beurteilung dem Kreise der Dinge nehmen, die er beobachtet“. Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832): Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt.