Er ging durch die Straßen, blickte in die Gesichter und in die Wolken. In allem erkannte er sich selbst.
Menschen, Tiere und das Sonnenlicht, Schatten, Schmerz und Freude: all das bist du, du bist Schöpfer und Zerstörer, ewig durch dich selber schreitend.
Um fünf vor zwölf wachte Gregor auf. Die Sonne drückte heiß und gleißend auf die Fenster und die Vorhänge bewegten sich langsam im Lufthauch. Draußen hörte er Jubel, Heiterkeit und Musik. Das Fest war in vollem Gange, überschwänglich und laut. Er zog sich an und stürzte hinunter, auf die Straße, in die euphorische Menge unbekannter Menschen, die mit bewundernden Ohs und Applaus die vorbeiziehenden Wagen begrüßten. Nach einem goldenen Sonnenwagen, mit gelb-weißen und orangenen Blumen gefüllt, kam Phaeton.
Phaethon, Sohn des Sonnengottes, bestieg den kostbaren und reich verzierten Sonnenwagen. Doch bald gerieten die Pferde im Viergespann außer Kontrolle und rasten auf die Menge zu. Der Wagen verließ die Fahrstrecke, Phaeton stürzte und die Menschen flohen wild durcheinander. Kurz darauf versuchten Polizei und Krankenwagen, die Katastrophe in den Griff zu bekommen.
Dann sprach Ovid, der den ehrgeizigen Phaeton schon kannte, über Eigensinn und Größenwahn, die das Feuer entfesseln:
„Überall dort, wo die Erde am höchsten ist, wird sie vom Feuer ergriffen, bekommt Spalten und Risse und dörrt aus, weil ihr die Säfte entzogen sind. Das Gras wird grau, samt seinen Blättern brennt der Baum, und das trockene Saatfeld liefert seinem eigenen Untergang Nahrung. Große Städte gehen mit ihren Mauern unter, und der Brand legt ganze Länder mit ihren Völkern in Asche.“
Gregor floh vor dem Feuer nach Westen, außer Atem, durch die Stadt. Bei Sonnenuntergang zogen dichte Wolken auf und verdeckten fast die rotglühende Sonne. In die Tiefe, wie die Sonne am Horizont, hastete Gregor die Treppe hinunter zur U-Bahn und konnte gerade noch durch die zufahrende Tür schlüpfen. Lange Stunden fuhr er durch die Nacht, vor sich hin dösend, während dunkle Gestalten sich um ihn her bewegten.
Wie der ägyptische Sonnengott Re mit seiner Sonnenbarke im Westen am Horizont in die Nacht fährt, so gelangte Gregor ins Dunkel, in die Nachtwelt seiner Seele. Er reiste auf den Bahnen des Untergrundes, auf denen nur die Seele reisen kann, getragen von unbekannten Kräften und Wesen des Universums.
Am nächsten Morgen berührte ihn sanft die Morgenröte und froh klang das Lied der Vögel. Während er sich erhob, sog er dankbar die frische Morgenluft ein.
Er ging durch die Straßen,
blickte in die Gesichter und in die Wolken.
In allem erkannte er sich selbst,
Menschen, Tiere und das Sonnenlicht,
Schatten, Schmerz und Freude,
all das bist du,
du bist Schöpfer und Zerstörer,
ewig durch dich selber schreitend.
In der Bibliothek ruhte er sich aus. Das weite blaue Kuppelgewölbe wurde vom Tageslicht erleuchtet durch Dachluken und dazwischen vielen Lampen wie Sterne. Wieder stieg der Sonnengott Re in seiner Sonnenbarke in die Höhe. Wärme berührte die Herzen der Wesen. Der Jubel und die Katastrophe des gestrigen Tages klangen in Gregor nach, doch fühlte er sich befreit von einer lauten närrischen Welt und gleichzeitig in Frieden damit, dass sein eigenes Leben närrisch war. Ein Narr, und selig. Selig?
Die Bücher sprachen zu ihm, er hörte und verstand. Darüber hinaus tauchte er zu den unsichtbaren Sternen in die Weite des Universums, in lautlos klingende Harmonie. „Selig sind die geistig Armen, ihrer ist das Himmelreich.“
Still saß er da, offen für das Wunder eines unfassbaren Geistes und seiner Schöpfungen. Gregor wusste von der Sonnenseite des Menschenlebens, wie es sich anfühlt, am Zenit der Selbstverwirklichung zu stehen, eine Position einzunehmen. Und er wusste von den Schattenseiten und dem Schmerz der Nacht.
Worte Hölderlins ertönten aus dem Nichts: “Es ist wunderbar, wie der Mensch nichts zu Stande bringt, wenn er alles gleichgültig ansieht, und ebenso nichts bewirkt und fördert, wenn er sich verkrümmt, dass er also, um zu leben und tätig zu sein, beides vereinigen muss, Trauer und Hoffnung, Heiterkeit und Leid.”
Die Lehrmeister: Heiterkeit und Leid, Trauer und Hoffnung, Gregor kannte sie. Ergreift er die Hand des einen, so umfasst ihn auch die Hand des anderen.
„Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“
Wer es wagt, der Barke des Sonnengottes Re zu folgen und Spiegel seines Lichtes zu sein, wer es wagt, mit seiner Lebensbarke die dunkle Wirklichkeit der irdischen Nacht zu durchschiffen und Spiegel ihrer Dunkelheit zu sein, dem enthüllen die Dämonen ihre Namen. Er erlöst sie und mit ihnen sich selbst und die Welt. Erst einmal wird er zerstückelt, wie Osiris. In den liebenden Armen von Isis gelangt er jedoch, wie Osiris, zu seiner Ganzheit.
Seligkeit
Gregor saß inmitten der Bücher und ihre Worte sprachen in ihm, wurden zu Meißeln und gestalteten ihn. Er ließ es zu. “Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen.“ Die Kräfte der Nacht und die des Tages wurden eins in seiner Seele. Die Weite des Universums sprengte seine Grenzen.
Sanftmut lässt den Schmerz zu: Lüge und Täuschung, Liebe und Verlust, Trauer und Sehnsucht. Das Herz übergibt seine Last dem All. Gregor ließ sich tragen vom Meer des Lebens, ließ sich von den Wellen erfassen wie die Muschel am Meeresstrand.
Die Göttin Maat begleitet den Sonnengott Re auf seiner Barke. Sie ist der Kompass, die Kraft des universellen Ausgleichs. Maat spricht im Gewissen. „Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“
Gregor öffnete die Augen. Er spürte das Keimen in seinem Herzen, in jeder Körperzelle strömte unendliche Willens- und Gedankenkraft durch ihn hindurch. Sein bisheriges Dasein war Vorbereitung. Wofür ?
„Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“
Er dachte an die Menschen, die er liebte und geliebt hatte, und ihre Gesichter wurden zu Millionen, die auf der Erde strahlten. Liebe ist Licht und heiter. Heiterkeit? Wie viele Gesichter sie hat! Übermut, Begeisterung und Leidenschaft, Hoffnung im Niedergang, Trost in der Nacht, Morgenröte eines neuen Tages. Wer könnte ihr Geheimnis beschreiben?
„Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.“
Er fühlte sich klein, weil sein Leben so groß geworden war, dass er sich darin verlor.
„Selig sind, die Frieden stiften.“
Er ahnte seinen Auftrag. Der Sonnenbarke folgen, durch Tag und Nacht.
Dann verstummten die heilsamen Worte, und Baulärm erfüllte die Räume der Bibliothek. Vermummte Männer hatten eine Antenne auf dem Dach installiert. Gregor ging langsam hinaus, ohne zu fliehen, ohne Trauer über den Verlust der Weisheit und der Schönheit der Bibliothek. Er musste in die Werkstatt, in seine Schmiede.
Schwitzend ließ er seinen Hammer wirbeln und die Funken sprühen. Feuer und Eisen fügten sich seinen Gedanken. Ein kleines Mädchen kam herein.
„Was machst du da?“
„Ich schmiede ein Tor.“
„Wofür ist das Tor?“
„Es wird ein Gartentor.“
„Kannst du ein Männchen schmieden?“
Gregor sah das Mädchen an, das vertrauensvoll seine Augen auf ihn richtete.
„Ich werde es versuchen, komm übermorgen wieder.“
Seitdem besuchen Gregor viele Kinder und er schmiedet viele Männchen. Das Schönste ist ihr Lächeln und jeden Tag kämpft er darum, und jedes Mal, wenn er ein Lächeln auf das Gesicht einer kleinen Figur zaubert, weiß er, dass das nächste schon auf ihn wartet.
Seid fröhlich und jubelt.
Ihr seid das Salz der Erde.
Ihr seid das Licht der Welt.