Alle Weltreligionen haben einen gemeinsamen Kern. Sie sind befreiende Handreichungen, als Kenntnis und Kraft. Zwei dieser Lehren, die keinerlei historische Gemeinsamkeiten haben und dennoch einige grundlegende Aspekte des Befreiungsweges in ähnlicher Weise betonen, sind die hermetischen Lehren und der Zen-Buddhismus.
Die Texte, die dem Weisen Hermes Trismegistos zugeschrieben werden, wurden vor ca. zweitausend Jahren in Alexandria verfasst. Ungefähr ein Jahrtausend lang waren diese Texte der westlichen Welt fast unbekannt. In der Renaissance wurden sie dank der Zusammenarbeit des Mäzens Cosimo de Medici und des Philosophen Marsilio Ficino einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Heute sieht man in der hermetischen Weisheit meist etwas Fremdes und Exotisches. Gerade der Begriff hermetisch, der eine Bedeutungsverschiebung erlebt hat, zeigt das: hermetisch ist für uns Heutige gleichbedeutend mit „verschlossen“ und „unzugänglich“. Dabei könnte er bedeuten: befreiend, in eine höhere Weisheit hineinführend.
Diese Lehre sagt viel über das menschliche Wesen in all seiner Komplexität aus. Sie beschreibt den Menschen und seinen spirituellen Weg aus der Perspektive des Ewigen. Es geht um ein geistiges, erleuchtetes Bewusstsein, das mit seinem Urgrund eins ist. Personifiziert wird es PYMANDER genannt. Doch Pymander ist ungreifbar, es sei denn, er erwacht im Menschen. Wer Pymander in sich erfährt, ist verändert, und erscheint doch den Außenstehenden wie zuvor.
Zen verfährt in gewisser Weise ähnlich, wenn es die Unmöglichkeit, das Bewusstsein in die Erleuchtung zu überführen, auf eindringliche Weise postuliert und seinen Schülern nachgerade alle Werkzeuge, sich dieses Unbekannten zu bemächtigen, aus der Hand schlägt. Die Erleuchtung gleicht einem Sprung von der Klippe. Doch nach dieser umstürzenden Erfahrung „befindet sich die Nase noch über der Oberlippe“, wie viele Zen-Texte betonen.
Der Zen-Buddhismus entstand in China und hatte seinen Höhepunkt in Japan. Er durchdrang schließlich die Kultur des gesamten Fernen Ostens und allmählich – ab Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts – wurde er auch im Westen bekannt. Das zentrale Ziel des Zen ist das Erlangen von satori, also der Erfahrung, die Gautama Buddha in seiner Erleuchtung machte. Alles, was über satori geschrieben wurde, läuft darauf hinaus, dass es unerklärbar, unbeschreibbar und unbegreiflich ist.
Daher können sich diejenigen, die auf diskursivem Weg mehr über Satori erfahren wollen, nur auf die Aussagen der Zen-Meister verlassen, die bereit waren, über ihre eigenen Erfahrungen zu sprechen. Einer dieser Berichte findet sich in Alan Watts‘ Vom Geist des Zen[1]:
“Als ich herumblickte und hinauf- und hinuntersah, erschien mir das ganze Universum mit seinen vielen Sinnesobjekten ganz anders; was vorher abscheulich war, zusammen mit Dummheit und Leidenschaften, sah ich nun als nichts anderes als den Ausfluss meiner eigenen innersten Natur, die in sich hell, echt und durchsichtig blieb.“
Dieser Bericht zeigt uns, dass das satori die Erfahrung ist, in der der Sucher seine tiefere Natur erlebt, die von einigen buddhistischen Traditionen auch „Buddha-Natur“ genannt wird: Sie ist das, was sich inmitten des unaufhörlichen Fließens der Existenz gleichbleibt. Sie ist auch das Universelle, das hinter aller Erscheinung steht. Wer dorthinein eintaucht, für den haben Urteile wie „gut und schlecht“ keine Bedeutung mehr. So sind die Zen-Kôans zu erklären, die postulieren, der Buddha sei ein „Scheißstock“. Soll damit gesagt werden, der Buddha sei schmutzig? Soll gesagt werden, er sei nützlich, um sich auf der (spirituellen) Toilette zu säubern? Die Wahrheit, auf die diese Worte hindeuten, geht jedoch über alle Erklärungen hinaus; sie muss erfahren werden.
Pymandrische Landschaften und der Sprung von der Klippe
Der Name Hermes Trismegistos bedeutet der „dreimal Große“. Dazu erklärt Marsilio Ficino[2], Hermes sei der größte der Priester, der Philosophen und der Könige. Ob es je einen Menschen dieses Namens gab, dazu gibt es unterschiedliche Überlieferungen. Wichtig ist, dass die dreifache Größe des Hermes auf das Zusammenklingen von Herz (Religion), Haupt (Philosophie) und Leben (die Macht des Königs) hinweist. Dazu wollen diese Schriften verhelfen.
Wie oben, so unten.
Wie innen, so außen.
Wie im Großen, so im Kleinen.
Diese Worte stehen in der hermetischen Tabula Smaragdina, der „smaragdenen Tafel“. Sie weisen auf den Urgrund, der in allem wirkt, der das Große und das Kleine vereint, das Untere und das Obere zusammenbindet. Sie deuten auf einen Urgrund, der von Worten und Erklärungen nie erfasst werden kann, in den der Mensch jedoch eintauchen kann, bis das Große und das Kleine ineinander aufgegangen sind.
So deutet Sprache auch hier auf etwas hin, das erfahren werden muss, um es begreifen zu können, das uns verwandeln kann, bis die Unterschiede von Groß und Klein, Oben und Unten in einer wirklichen Einheit aufgehoben sind.
Auf dem Weg dorthin, nach der ersten Berührung durch das Eine, identifizieren wir uns vielleicht mit dem Oben und dem Großen. Weil alles eins ist, ist das Große dem Kleinen gleich. Die Seele und das erkennende Bewusstsein meinen, sich schon in dieser überwältigenden und umfassenden Einheit zu befinden. Man schaut dann vielleicht auf die herab, die das noch nicht erkannt haben, die „dort“ noch nicht angekommen sind. Oder das Erlebnis der Einheit wird nur auf die Seele bezogen, und der äußere, körperliche Mensch erst recht mit dem Unten, dem Kleinen, dem Minderwertigen identifiziert – ganz entgegen der ursprünglichen Berührung. Beide Male wird die Einheit verfehlt: im Zusammenwirken mit den anderen, oder im Erleben des eigenen Wesens.
Unser Bewusstsein als Sucher kann die Einheit nicht fassen. Es kann sich aber der Einheit auf dem Pfad hingeben. Das ist ein langer Weg, der uns vom Urteil und vom Teilweisen in ein bewusst ausgehaltenes Nichtverstehen und Nichtkönnen und dadurch in eine große Transformation führt.
Wie die heiligen Texte aller Zeiten zeigen, gleichen unsere Erlebnisse der Erfahrung eines jungen Mönchs am Beginn seines Weges. Gemäß einer Zen-Weisheit sind für den Novizen am Anfang seines Lernens Berge Berge, Bäume sind Bäume, und Menschen sind Menschen. Dann hören die Berge auf, Berge zu sein, Bäume hören auf, Bäume zu sein und Menschen sind keine Menschen mehr. Der Mönch erkennt, dass er nichts wirklich versteht und beginnt, an seinen Wahrnehmungen und seinem Weltverständnis zu zweifeln, was auch zunächst notwendig ist! Erreicht der Mönch satori, so sind Berge wieder Berge, Bäume sind wieder Bäume und Menschen sind wieder Menschen. Aber welch ein Unterschied, wenn alles aus der Einheit des Urgrundes erlebt wird!
Die Brücken des alten Verstandes sind abgebrochen, der Sucher ist über das Meer des Nichtwissens und Nichtverstehens hinweggegangen. Der Weg zur Einheit führt jedoch, wie die kompromisslosen Texte des Hermes und des Zen zeigen, nur über die Akzeptanz des Unvollkommenen, der eigenen Unwissenheit, und über die Hingabe an einen Weg, dessen Ziel nie erfasst, sondern nur erlebt werden kann.
Ein Mann, unbeweglich am Ende einer hundert Fuß langen Stange –
tatsächlich, er hat den Pfad betreten, aber noch ist er kein echter:
Am Ende der hundert Fuß langen Stange soll er noch ein Stück weiter gehen,
denn dann ist das gesamte Universum (…) sein eigener Körper.[3]
Wachse auf zu maßloser Größe, entsteige allen Körpern, erhebe dich über alle Zeit, werde Ewigkeit. Dann wirst du Gott verstehen.
Lass den Gedanken dich durchdringen, dass dir nichts unmöglich ist, betrachte dich als unsterblich und fähig, alles zu verstehen, alle Kunst, alle Wissenschaft, die Art all dessen, was lebt.
Werde höher als alle Höhen und tiefer als alle Tiefen.[4]
[1] München 2008
[2] in der Vorrede zu seiner lateinischen Übersetzung des Buches „Pymander“
[3] Kôan aus D.T. Suzuki: Das Zen-Kôan – Weg zur Erleuchtung, Freiburg im Breisgau 1996, Seite 236
[4] Corpus Hermeticum, zweites Buch „Pymander zu Hermes“, Verse 79-81, zitiert in: Jan van Rijckenborgh, Die ägyptische Ur-Gnosis und ihr Ruf im ewigen Jetzt, Band 1, Haarlem 1991, Seite 221