Fast alle religiösen Gemeinschaften in der sogenannten westlichen Welt erleben heute offenbar einen Rückgang an dauerhaften Mitgliedern[1]. Wenn wir uns der Frage nach der Bedeutung spiritueller Gruppen im Heute nähern wollen, scheint es zentral zu sein sich, zunächst über die Gründe der verringerten Anziehungskraft zu festen religiösen Institutionen und spirituellen Gruppen auf Menschen im Klaren zu werden. Wir möchten damit beginnen, vier mögliche Gründe dafür vorzuschlagen:
Der erste hier aufgeführte Grund lautet, dass es heute in den westlichen Ländern – trotz der aktuellen Sondersituation – eine nie dagewesene gesellschaftliche Sicherheit gibt, die mit psychologischer Sicherheit und weitreichenden persönlichen Handlungsmöglichkeiten einhergeht. [2] Diese Situation eröffnet dem Drang nach Individualität im Menschen mehr und mehr Raum. Das Erleben und Ausleben von Individualität wiederum führt psychologisch zu einer stark verringerten Anziehung zu festen, kollektiven spirituellen Gemeinschaften und Narrativen, die in der Regel eine gewisse Vereinheitlichung mit sich bringen.[3]
Des Weiteren ist es so, dass, während dem Einzelnen noch vor 20 Jahren nur wenige Gruppen bekannt und zugänglich waren, heute potenziell jede spirituelle Gruppe der Welt online mit ein paar Klicks erreichbar ist. Es zeigt sich daher ein online sichtbares stufenloses Spektrum religiöser Gruppen und Weltanschauungen, wodurch das einstmalige Alleinstellungsmerkmal der jeweiligen Gruppe – wie es noch im „analogen“ Zeitalter erschien – im heutigen Informationszeitalter verschwimmt. Es gibt daher heute weniger deutlich sichtbare Gründe dafür, sich einer konkreten Gemeinschaft anzuschließen und ein gleichzeitiges Übermaß an Auswahl. Das führt psychologisch dazu, dass man sich eher für keine der Optionen entscheidet[4].
Ein dritter Grund – der damit einhergeht – könnte sein, dass religiöse Institutionen im heutigen Informationszeitalter ihr Monopol religiösen Wissens und seiner Auslegung, das sie noch im letzten Jahrhundert innehatten, verloren haben. Wissen ist heute nicht mehr zentralistisch organisiert und an Institutionen gebunden, sondern dezentral überall und zu jeder Zeit online abrufbar. Der Mensch kommt immer mehr in Situationen, in denen er sich selber das Wissen aneignet und aneignen kann, das ihn interessiert und das er benötigt. Auch auf dieser Ebene verlieren spirituelle Gemeinschaften und Institutionen also an Bedeutung.
Ein letzter Punkt könnte zudem die zunehmende gesellschaftliche und psychologische Dominanz der modernen Wissenschaft sein. Sie führt dazu, dass Menschen überholte oder inkonsistente Weltanschauungen vieler religiöser Gemeinschaften ablehnen und Ansätzen wie „Glauben“, „spirituellen Autoritäten“ und fest gegebenen Weltanschauungen grundsätzlich kritischer gegenüberstehen.
Was ist daher die Zukunft religiöser Gemeinschaften, und was ist im Heute die eigentliche Aufgabe einer spirituellen Gruppe?
Gemeinsam ergründen, frei von Vergangenheit
Wenn wir gemeinsam herausfinden wollen, was die Bedeutung und das Potenzial einer – im tiefsten Sinne des Wortes – spirituellen Gruppe ist, so müssen wir uns dieser Frage vollkommen unvoreingenommen nähern: frei von allen Annahmen, allem Glauben, aller Erzählung, aller Tradition, aller Vorstellung, aller Vergangenheit. Ist uns das möglich? Denn wir werden der schöpferischen Dimension, die im Potenzial der Gruppe liegt, nur gerecht, wenn wir erlauben, dass unsere Frage uns über alles Bekannte und alles Gedachte hinausführt. So dürfen wir also nicht mit dem Bekannten beginnen. Erst dadurch kann bereits der erste Schritt vollkommen neu sein. Der erste Schritt ist das Stellen der Frage.
Wenn wir uns also dieser Frage stellen, dann tun wir das nicht auf Basis der Spekulation oder der Ableitung aus Wissen. Wir tun es auf Basis der unumwundenen Lebendigkeit dieser Frage. Und so stehen wir alle gemeinsam auf demselben Grund des lebendigen Nicht-Wissens und des Fragens.
Wenn wir uns auf dieser Ebene tatsächlich begegnen, dann vermögen wir wohl wie aus einem Geist zu fragen. Und so erhebt sich diese Frage nicht in vielen getrennten Einzelnen, sondern sie erhebt sich im Leben selbst, im Raum, der sich im Miteinander eröffnet.
Das tiefste Gemeinsame einer Gruppe
Darin erkennen wir, dass der tiefste gemeinsame Grund einer Gruppe nicht ihr Wissen, ihre Meinungen oder Narrative sind, sondern die Einfachheit gemeinsamen Ergründens im Nicht-Wissen. In der Einfachheit des lebendigen Nicht-Wissens ist die oberflächliche Trennung zwischen den Individuen hinweg genommen und die Gruppe wird zu ihrer gemeinsamen Essenz zurückgeführt.
Bei einer Frage, die aus Nicht-Wissen geboren wird, zu verweilen und sie zu ergründen in reinem Gewahrsein, ohne sie zu beantworten, hat immense Kraft. Es ist reine Schönheit, wenn eine Gruppe diese Einsicht vollkommen klar in ihrer Mitte stehen hat. Jedoch natürlich nicht als ein erlerntes Wissen, sondern als strukturelle Qualität, die in jedem einzelnen Teilnehmer und daher in der Mitte der Gruppe gewachsen ist, durch unmittelbares Erkennen im Ergründen. Ein Ergründen, das auf gleiche Weise dem Grund des Nicht-Wissens und der stillen Beobachtung entspringt.
Der Theologe und Philosoph Meister Eckhart (1260-1328) macht dazu einen interessanten Kommentar in seiner Predigt Vom Unwissen. Und obwohl er sich hier eher auf den einzelnen Menschen zu beziehen scheint, gelten seine Worte auch für eine Gruppe von Menschen, oder gar die Menschheit:
Wenn der Mensch ein inwendiges Werk wirken will, so muss er all seine Kräfte in sich ziehen, wie in einen Winkel seiner Seele, und muss sich verbergen vor allen Bildern und Formen, und da kann er dann wirken. Da muss er in ein Vergessen und in ein Nichtwissen kommen. Es muss in einer Stille und in einem Schweigen sein, wo dies [ewige] Wort gehört werden soll. Man kann diesem [ewigen] Wort mit nichts besser nahen als mit Stille und mit Schweigen: dann kann man es hören und alsdann versteht man es ganz in dem Unwissen. Wenn man nichts weiß, dann zeigt und offenbart es sich. [5]
Wenn wir also auf diesem Grund stehen, können wir als Gruppe von Menschen fragen, was die Bedeutung einer spirituellen Gruppe im Heute ist. Dann haben wir einen vollkommen empfänglichen Geist, einen ungebundenen Geist, der keine Angst davor hat, dass die lebendige Bewegung der Antwort, die sich aus der Frage im Innersten gebiert, einer eigenen Anschauung widersprechen könnte. In der Tat ist ein solcher Geist frei von jeder Anschauung. Das bedeutet, dass die Möglichkeit, sich durch Wahrheit bedroht fühlen zu können, innerlich in reinem Gewahrsein geendet hat.
So wir im gemeinsamen Ergründen nun so weit gelangt sind, können wir fragen: Was ist die Bedeutung einer wahrlich spirituellen Gruppe im Heute?
Wenn wir diese Frage stellen, so erkennen wir, dass die Antwort darauf nicht im Bereich des Inhaltlichen liegt. Wir erkennen, dass es darauf nur eine fließende, lebendige, wortlose Antwort gibt im Geistigen, an der der Mensch Anteil erhalten kann. Diese Antwort drückt sich nicht innerhalb gewisser Grenzen aus. Sie ist eine ganzheitliche Bewegung. Eine Gruppe, die in der Lage ist, diese Frage zu stellen, ist wie ein Ohr, wie ein Resonanzkörper, der empfänglich ist. Und in diesem Empfänglichsein, in diesem Hören, in dieser Resonanz, setzt sich die Wahrheit der Antwort auf einer gewissen Ebene unmittelbar in Kraftwirkung und also Handlung um. Die damit verbundene schöpferische Energie wird frei und wirkt aus ihrer eigenen zeitlosen Qualität heraus auf alle anderen Ebenen des Seins.
Meister Eckhart führt dazu in derselben Ansprache weiter aus:
Denn so grenzenlos Gott im Geben ist, so grenzenlos ist auch die Seele im Vernehmen oder Empfangen. Und wie Gott im Wirken allmächtig ist, so ist die Seele ein Abgrund des Nehmens, und darum wird sie mit Gott und in Gott überformt. Gott soll wirken und die Seele soll empfangen, er soll in ihr sich selbst erkennen und lieben, sie soll erkennen mit seiner Erkenntnis und soll lieben mit seiner Liebe […].
(wird fortgesetzt in Teil 2)
[1] Birgit Weidt (2018), Ist keine Religion die neue Religion? Online verfügbar unter: https://www.psychologie-heute.de/gesellschaft/artikel-detailansicht/39607-ist-keine-religion-die-neue-religion.html, letzter Zugriff: 07.05.2021
[2] Yuval Noah Harari, Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen, C.H. Beck, München 2018
[3] Interview vom 28.07.2012 mit Prof. Dr. Christoph Bochinger: Menschen suchen sich eigene Wege zur Religion, Online verfügbar unter: HYPERLINK „https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-spirituelle-wanderer.1278.de.html?dram:article_id=216476“, letzter Zugriff: 07.05.2021
[4] Siehe dazu auch das Paradox-of-Choice (zu viele Entscheidungsalternativen behindern die Entscheidungsfindung)
[5] Meister Eckhart, Predigt 2 – Vom Unwissen