(Teil 3)
Hoffnung
Der lebendige Brunnen, der einem Dorf in einem Märchen entsprungen zu sein scheint, steht im krassen Gegensatz zur Wüste Sahara. Die beiden ziehen Wasser empor. Der Flaschenzug singt und die Sonne flimmert in dem bewegten Wasser im Eimer – ein Brunnen des Lichts, eine Quelle der Hoffnung, die aus dem Glauben erwächst. „Ich habe Durst nach diesem Wasser“, sagt der Kleine Prinz, und er soll als Erster trinken. Nachdem auch der Pilot seinen Durst gestillt hat, erinnert ihn der Protagonist an sein Versprechen, seinem Schaf einen Maulkorb zu malen, damit es die Rose nicht frisst. Das Bild entsteht – unvollständig, wie sich später herausstellt. Der Pilot ahnt inzwischen, dass der Kleine Prinz geheime Pläne hat. Er erfährt, dass der Jahrestag bevorsteht, an dem der Kleine Prinzen auf der Erde angekommen ist, was eine perfekte Gelegenheit darstellt, zu seiner Rose auf seinem Asteroiden zurückzukehren. Da er seine Reise in der Nähe des Brunnens antreten will, verbringt er dort die Nacht.
Am nächsten Tag sieht der Pilot den Kleinen Prinzen auf der alten Steinmauer (Symbol für den Schritt von der Hoffnung zur Liebe) in der Nähe des Brunnens sitzen und hört, wie er mit einer giftigen Schlange spricht – derselben Schlange, der er bei seiner Ankunft auf der Erde begegnet ist. Seine Rückkehr nach Hause ist nur mit der Hilfe der Schlange möglich. Es ist eine Feuerprobe für ihn, die ihm Angst bereitet: Er muss sterben („Es wird so aussehen, als wäre ich krank…, ein bisschen, als stürbe ich.“), und zwar an dem Giftschlangenbiss. Der Pilot kann den Kleinen Prinzen von seinem Plan nicht abbringen. Er bereitet sich ebenfalls auf die Heimreise vor, da es ihm gelungen ist, den Motor seines Flugzeugs zu reparieren – eine Synchronizität.
Die Lehren der esoterischen Tradition verkünden seit langem die Wissenschaft vom „Goldenen Tod“ und vom „Sterben zum Leben“. Es findet statt, wenn ein Mensch sein irdisches Ich zurücklässt, „tötet“, das heißt, sich von seinen weltlichen Lasten und Ketten trennt. „Ich kann diesen Leib da nicht mitnehmen. Er ist zu schwer“, sagt der Kleine Prinz. Der physische Tod ist eine Analogie zum eigentlichen „Tod“ unseres Erdendaseins, aber beides kann zusammenfallen. Hier gibt es Anklänge zum Mysterium von Golgatha in den Evangelien. Man muss sich tief mit dem Wesen der Kreuzigung befassen, um die großartige Auferstehung so vollständig und kathartisch wie möglich mitzuerleben.
Die letzten Worte des Kleinen Prinzen betonen seine Verantwortung gegenüber seiner Rose. Dann stellt die sonnenfarbene Schlange – mit einem Aufblitzen von Gelb – ihr heilendes Gift für den kleinen Mann bereit, der die Erde hinter sich lassen und nach Hause gehen will. Denn für den Kleinen Prinzen ist der Schlangenbiss aufgrund seiner Unschuld und Reinheit ein „liebevoller Kuss“ (nach Mikhail Naimy). Ohne ihn könnte die mystische Auferstehung nicht stattfinden.
Der Kleine Prinz geht nicht nur nach Hause zu seinem Asteroiden, sondern er betritt zugleich das Reich der Liebe.
Liebe
Jahre nach den Ereignissen berichtet der Pilot von zu Hause: „Aber ich weiß gut, er ist auf seinen Planeten zurückgekehrt, denn bei Tagesanbruch habe ich seinen Körper nicht wiedergefunden. Es war kein so schwerer Körper …“
Wenn die Dunkelheit (Angst, Zweifel, Trostlosigkeit) verschwindet und die Sonne an einem neuen Tag in der „Wüste“ scheint, wiederholt sich das Wunder der Evangelien: Der Körper des Auferstandenen verschwindet von der Erde. Einst, in den Evangelien, aus einer Höhle, jetzt beim Kleinen Prinzen aus der nächtlichen Wüste. Dies ist das Zeichen für die Verklärung, das „Sterben zum Leben“.
Das für den Kleinen Prinzen gezeichnete Schaf spielt eine rätselhafte Rolle in der Erzählung. Als der Protagonist zu Beginn im Morgengrauen auf den Piloten gestoßen war, hatte er ihn mit den Worten geweckt: „Bitte… zeichne mir ein Schaf!“ Die überraschende Bitte, ausgesprochen an einem unerwarteten Ort, zu einer unerwarteten Zeit und von einem überraschenden Wesen, war ein Weckruf für den schlafenden Mann. Sie rüttelte ihn auf aus seinem Traum, seinen Gedanken, seinen „Lieblings“-Problemen und führte ihm vor Augen, dass es geheimnisvolle Perspektiven des Lebens gibt.
Das Schaf, das „eingesperrt“ ist oder sich in einer Kiste versteckt, ist ein Bild für den Kleinen Prinzen selbst. So ist es nicht verwunderlich, dass ihm die Zeichnung gefällt. Das Schaf ist das früheste Symbol für Jesus Christus (das „Lamm Gottes“). So wie das zahme, arglose Tier bei den Zeremonien im Alten Testament geopfert wird, so wird Jesus Christus im Zusammenhang mit dem Wunder der Auferstehung geopfert.
Der Kleine Prinz seinerseits opfert sich für seine Rose. Diese magische Blume symbolisiert die Tiefe seines Herzens, die „Rose“ des Herzens – die Rose.
Aber warum hat er Angst, dass das Schaf – Symbol für ihn selbst – bei seiner Rückkehr seine Rose fressen wird? Zu dieser Angst gesellt sich eine weitere: der Zweifel, der im Epilog der Erzählung vom Piloten ausgeht. Er stellt fest, dass er vergessen hat, an dem gezeichneten Maulkorb den Lederriemen hinzuzufügen, so dass er nutzlos ist.
Wenn der Kleine Prinz vergisst, seine Rose unter der Glaskugel zu verschließen, kann das Schaf sie in einer Sekunde auffressen. Er selbst ist eine Bedrohung für das Kostbarste, was er besitzt. Auf seiner Wanderung durch die Wüste hatte der Kleine Prinz – als „Lamm“ – Angst, dass er sich wieder mit seiner Rose streiten könnte, weshalb er um die Zeichnung bat. Er weiß, er muss sich im Zaum halten. Er muss das rechte Maß finden für seine Zuwendung und Hingabe an die Rose, auf dem Weg seiner Verwandlung.
Der Pilot, der die Phase des Glaubens noch nicht durchlaufen hat, fällt immer wieder in den Unglauben zurück. Er denkt manchmal mit Optimismus, manchmal mit Verzweiflung über die Frage des Maulkorbs nach. Und er stellt die Frage:
„Schaut den Himmel an. Fragt euch: Hat das Schaf die Blume gefressen oder nicht? Ja oder nein? Und ihr werdet sehen, wie sich alles verwandelt …“
Und so lässt uns die offen endende Geschichte des Kleinen Prinzen in den Himmel und in uns selbst blicken. Sie verlässt uns nie und zwingt uns, über unser Verhältnis zu unserer eigenen „Rose“ nachzudenken. In diesem Sinne ähnelt die Geschichte den Schlussformeln von Volksmärchen, die den Leser oder Zuhörer dazu auffordern, die Botschaft des Märchens innerlich in seinem Leben zu nutzen.
Man muss an die Offenbarung glauben,
wie einer, der nicht weiß und keine Erfahrungen hat,
erst glauben muss, um zu wissen und zu erleben. […]
Wo es keine Reaktion gibt,
hört die Aktion unweigerlich auf. […]
Aber je mehr Glauben wir haben, desto mehr Offenbarungen kommen,
oder Wahrheiten, die im Dunkeln verborgen waren,
entfalten sich nun, und können nur durch unser Vertrauen gedeihen.
Karl von Eckartshausen