Das Herz wird licht und leicht und schöpferisch – Eine Reise durch die fünf Kammern des Herzens

Das Herz wird licht und leicht und schöpferisch – Eine Reise durch die fünf Kammern des Herzens

Der Weg der Sufi-Mystiker durch die Mysterien des Innersten.

Das Gemüt ist die Seele Gottes, und es ist imstande, alles zu tun, was es will, so sagt Hermes Trismegistos im 13. Hermetischen Buch.[1] Alle menschlichen Körper werden durch das „Gemüt“ bewegt. Das Gemüt ist die göttliche Kernstrahlung, die vom Mittelpunkt des Mikrokosmos aus wirkt. Diese Kernstrahlung wendet sich an das Herz des Menschen und verursacht dort eine Bewegtheit. Die Strahlung dieses Kerns beseelt in einem gegebenen Augenblick das Herz, und der Mensch wird dann auf diese Beseelung reagieren.

Die zentrale Frage aber ist: Besitzt das Herz eine Offenheit für die Kernstrahlung des Gemütes? Oder ist es versteinert, unfruchtbar, verschlossen? Ob wir diese Lichtstrahlung in unser Herz einlassen, ob wir bereit sind, uns von ihr ganz grundlegend verwandeln zu lassen, das können wir als einen Weg, als eine Reise, als einen Prozess von zunehmender Herz-Öffnung andeuten.

In diesem Artikel werden wir den Sufi-Mystikern bei ihrer sogenannten Reise durch die fünf Kammern des Herzens folgen, denn hier werden Stationen eines universellen Weges beschrieben, der über alles religiös Begrenzte hinausweist.

 Jeden Augenblick dringt von allen Seiten
der Ruf der Liebe auf uns ein.
Willst du mit uns gehen?
Dies ist nicht die Zeit, zu Hause zu bleiben,
sondern hinauszugehen und sich selbst dem Garten zu schenken.[2]

So beginnt einer der größten Gesänge Rumis. Alles beginnt mit dem Lauschen …, dem Lauschen des Reisenden auf den Ruf der Liebe. Seine Seele erwacht zu dem Wunder seiner wahrhaft vollkommenen Natur, antwortet auf den Ruf der Liebe, der ihm aus allen Richtungen des Kosmos entgegenströmt …

Nun beginnt eine Reise nach innen, eine Reise im Herzen. Sie enthüllt das Geheimnis aller Geheimnisse. Denn das Herz ist der Sitz unserer göttlichen Natur und enthält unser gesamtes schöpferisches Potential. Das Paradoxe ist nur, dass uns unsere göttliche Essenz, unser inneres Einssein mit Gott, verborgen ist. 70.000 Schleier haben sich – so sagen die Sufis – zwischen die menschliche Seele und ihren göttlichen Geliebten geschoben.

Der Weg zur inneren Wahrheit führt – so erklären die Sufi-Lehren – durch die fünf Kammern des Herzens. Jede dieser Kammern hat eine spezielle spirituelle Qualität.

Die erste, äußerste Kammer wird QALB genannt.

Sie wird als aktiv beschrieben und mit der Liebe und der Sehnsucht in Verbindung gebracht. Ihre Farbe ist gelb. Rumi schreibt:

Das Brennen des Herzens ist, was ich will.
Dieses Brennen, das Alles ist.
Wertvoller als ein weltliches Reich,
denn es ruft Gott im Geheimen in der Nacht.[3]

Die Reise heimwärts beginnt also mit der Sehnsucht im Herzen, zu Gott zurückzukehren. Sie kann ein seltsames Gefühl von Unzufriedenheit mit unserem Leben hervorrufen. Wir erreichen nicht das, was wir wollen. Nichts scheint stimmig zu sein, nichts erfüllt uns. Das Erwecken der Liebe und Sehnsucht ist eine dynamische, ja eine turbulente Erfahrung. Diese Liebe verbrennt und reinigt. Sie zerstört und bringt gleichzeitig eine unendliche Süße mit sich. Das Herz wird dabei gereinigt von den Aspekten des Ego, den Begierden, den verzerrten Wahrnehmungen, den Schatten. Wenn wir mit unserem Sehnen gelebt und geblutet haben und genug von unseren Unreinheiten verbrannt ist, öffnet sich in uns:

Die zweite Kammer des Herzens trägt den Namen „Geist“, RUH.

Ihre Farbe ist rot. Im  Gegensatz zur aktiven Eigenschaft der ersten Kammer hat die zweite Kammer eine Qualität der Ruhe, des Friedens und der Stille. Dieses Licht im Herzen gehört Gott an. Die Sehnsucht des Herzens gehört ihrer essenziellen Natur auch Gott an. „Es ist Seine Sehnsucht nach Sich Selbst, die in uns brennt.“ [4]

In der zweiten Herzkammer beginnt sich die Geburt des Göttlichen zu vollziehen, und sie geschieht unerwartet und kommt in Ruhe und Stille. Der Mystiker Kabir schreibt:

Ich habe etwas so Seltenes gefunden, etwas so Wundervolles,
dass niemand seinen Wert ermessen kann.
Es ist farblos und Eins;
es ist ewig und unteilbar;
die Wogen des Wandels überspülen es niemals;
es erfüllt jedes Gefäß.
Es hat kein Gewicht; es hat keinen Preis;
niemand kann es je bemessen;
niemand kann es zählen,
es ist nicht zu erkennen durch Rede oder Erörterung.
Es ist nicht schwer und es ist nicht leicht […].
Ich lebe in ihm, es lebt in mir,
und wir sind eins, wie Wasser vermischt mit Wasser.
Wer es kennt, der kann niemals sterben. –
Wer es nicht kennt, der stirbt immer wieder.[5]

Der Geist beginnt nun von innen her auf uns zu wirken. Was immer uns in unserem Leben geschieht, dieses Licht und seine Stille bleiben. Vielleicht ist es unter der Oberfläche verborgen, doch es ist immer gegenwärtig, denn es gehört dem Göttlichen an.

Der Geist öffnet uns für die dritte Kammer des Herzens, für SIRR.

Ihre Farbe ist weiß. SIRR heißt auch: das „Geheimnis“, denn in dieser Kammer des Herzens erfahren wir das größte Mysterium der Schöpfung, dass wir eins sind mit Gott. Es gibt nichts außer Gott. Die Dualität von Liebendem und Geliebtem hat sich aufgelöst:

Wessen Geliebter bist Du?’ habe ich gefragt,
Du, der Du so unerträglich schön bist?
Mein eigener’, antwortete Er,
denn Ich bin Eins und Allein,
Liebe, Liebender und Geliebter,
Spiegel, Schönheit und Auge.’[6]

 

Unser Geliebter, nach dem wir uns so gesehnt haben, ist sehr intim in unserem Herzen. Er ist unser Gefährte, unser Freund, Er ist immer bei uns. Auch wenn wir allein gelassen werden, ist Er doch bei uns. Für diese Erfahrung der Einswerdung muss allerdings ein Preis gezahlt werden: die Auflösung des Ego. Denn unser Ego-Selbst ist ja verantwortlich dafür, dass wir uns als getrennt erleben. Der Preis der Liebe ist unser kleines Selbst, unser Ich. Und diesen Preis bezahlen wir manchmal mit Schmerzen, mit Leiden. Bis sich eines Tages der Schmerz legt und an seine Stelle die geheime Begegnung mit dem Geliebten, SIRR, das große Geheimnis, getreten ist. Die Sufis sagen, solange man noch nicht in diesen Ozean der Einheit getaucht ist, ist man noch kein echter Sufi. Man ist dann nur ein Reisender auf der Straße der Absicht. Aber wenn dieses Mysterium erweckt worden ist, beginnt die wahre Transformation. Nicht die Veränderung des Ego, sondern die Wandlung der Seele, die mit dem tiefen Erkennen der Einheit Gottes erfüllt wird. Und dieses Geheimnis ist ein Geschenk, es ist durch keinerlei Anstrengung, Streben und Vorsatz zu erlangen.

In der dritten Herzkammer beginnen wir, die Einheit überall um uns herum zu entdecken. Wir beginnen, die äußere Welt mit der Innigkeit Liebender und den Augen der Einheit zu sehen. Es geht nicht um unsere Anstrengungen, unsere Dramen, unsere Meinungen. Es geht darum, die Dinge in der Welt in unserem Alltag so zu sehen und zu erleben, wie sie wirklich sind. Wir sind mit allen Lebewesen, mit dem gesamten Kosmos auf innige Art verbunden und erkennen immer stärker unsere Verantwortung für alles und jeden. Doch die Reise durch das Herz geht weiter. Nach der Kammer von SIRR kommt:

 Die vierte Kammer des Herzens ist Arkanum, KHAFI,

ihre Farbe ist schwarz. Ihre Eigenschaften sind: Negation, die Aufhebung und Auslöschung, das Nichts. In der vierten Kammer des Herzens geschieht eine noch tiefere Auslöschung, als wir sie bereits in der dritten Kammer erlebt haben. Es ist eine so vollkommene Auflösung, dass nichts übrig bleibt, kein Gefühl von Selbst, kein Bewusstsein der Einheit – nichts … Es ist, als würde man von einem Schwarzen Loch aufgesogen, das alles verschluckt, sogar unser Licht. Rumi sagt:

Du bist ein Feuer ohne Stelle,
in dem alle Stätten verbrennen,
ein Strudel des Nirgendwo,
der mich tiefer und tiefer ertrinken lässt.[7]

In dem Ur-Nichts verliert sich alles. Keine Spur vom Pilger bleibt. In der vierten Kammer des Herzens, der Kammer des Nicht-Seins, herrscht ein kalter und brutaler Wind, der sogar die Geheimnisse der Einheit fortfegt. Sie ist die wahre Heimat der Mystiker, derer, die „verloren“ sind in der Gemeinschaft jener, die „in Gott verloren“ sind. Ein Mystiker ist jemand, der stirbt.

Die vierte Kammer des Herzens hat eine nahezu unmenschliche Qualität. Anfangs kann sie Furcht und Verlassenheit auslösen. Wer kann diese Leere, dieses schwarze Nichts aushalten? Viele Menschen auf dem spirituellen Weg schrecken davor zurück. Aber in dieser Kammer sterben alle Formen, fallen alle Lasten ab … und eine unvorstellbare Freiheit bleibt. Die Wirklichkeit kann geahnt werden, die in der Leere wartet. Kommt man dann wieder in die Welt, bringt man das Wissen vom Nichts mit, das in allem und um alles herum ist wie der Raum zwischen den Sternen und in jedem Atom. Und man fühlt die Macht dieses Nichts. Man weiß, dass es wirklich ist. Es gibt nichts als das Nichts.

Jenseits der völligen Auslöschung in der Leere Gottes gibt es noch einen weiteren mystischen Zustand:

Die fünfte Kammer des Herzens wird AKHFA genannt.

Diese Kammer hat die Qualität von umfassender Synthese. Ihre Farbe ist grün. Sie gehört zur Vernichtung und Vollendung. Für den Sufi ist Grün die Farbe der absoluten Wahrheit.

Die Reise heimwärts wird manchmal als Aufstieg auf den Berg Qaf beschrieben, auf dessen Gipfel sich ein smaragd-grüner Felsen befindet, wo die Mitternachtssonne aufglänzt. Dieser letzte Zustand des Herzens übersteigt völlig unsere Vorstellungskraft. Mit unserem Bewusstsein können wir nichts darüber sagen. Es ist das Unnennbare und das Unkennbare Gottes. Es ist die Ur-Wirklichkeit und das Endstadium der mystischen Reise.

Dies sind die Stationen der Reise durch die Kammern unseres Herzens, durch die wir unser wahres Selbst entdecken können. Nicht jeder macht die ganze Reise bis zur letzten Kammer, AKHFA. Die beiden letzten Kammern sind besonders schwer zugänglich, aber sie sind als Potential in jedem Menschen vorhanden. Entscheidend für alles Weitergehen auf der Reise ist die Kraft unserer Sehnsucht. Wenn wir uns nach dem Göttlichen sehnen, zieht das Licht unserer Sehnsucht das Licht des Geistes an.

Vom Inneren der Sonne geht die göttliche Kernstrahlung aus. Unsere zentrale Aufgabe liegt darin, immer offener für „unsere“ innereigene Essenz zu werden, so dass das schöpferische Potential, das im Inneren der Sonne liegt, im Menschen und auf dem Planeten Erde zur Entfaltung kommen kann.

In der heutigen Zeit entwickelt sich immer klarer ein Bewusstsein dafür, dass die innere Essenz in uns, die innere Essenz der Erde und auch die göttliche Essenz der Sonne auf innige Weise miteinander verbunden sind. Im gesamten Universum gibt es nur zwei: den Liebenden und den Geliebten. Gott liebt Seine Schöpfung, und die Seele liebt Gott. Die Liebe strömt durch ein offenes Herz zur gesamten Schöpfung hin, zu den Menschen, zu den Bäumen, den Tieren und den Mineralien. Die ganze Welt ist eine Liebende, die auf den Geliebten wartet.

Wir sind als Einzelne und als Gemeinschaft dazu aufgerufen, in der Herzensstrahlung des Gemütes auf einfache und ganz unspektakuläre Weise anwesend zu sein, mitten im Leben, mitten im Alltag. Jede unserer Handlungen, mag sie auch äußerlich noch so profan aussehen, ist dabei von Bedeutung. Mit einem geöffneten Herzen können wir in jedem Augenblick eine Durchlass-Station, ein Transformator des göttlichen Lichtes sein.

 


[1] 13. Hermetisches Buch, Vers 17, aus: J. van Rijckenborgh, Die Ägyptische Urgnosis, Band 4, Haarlem 1985, S. 9
[2] Mevlana Dschellaluddin Rumi, zit. nach: Andrew Harvey und Eryk Hanut, Der Duft der Wüste, Zwickau 2003, S. 27
[3] Mevlana Dschellaluddin Rumi, zit. nach: Llewellyn Vaughan-Lee, Fragmente einer Liebesgeschichte, Bern 2012, S. 41
[4] A.a.O., S. 44
[5] Kabir, zit. nach Andrew Harvey und Eryk Hanut, a.a.O., S. 77
[6] Fakhruddin Iraqi, Divine Flashes, zit. nach: Llewellyn Vaughan-Lee, a.a.O., S.1
[7] Mevlana Dschellaluddin Rumi, zit. nach: Llewellyn Vaughan-Lee, a.a.O., S. 54
[8] Najm al-Din Kubras, zit. nach Andrew Harvey und Eryk Hanut, a.a.O., S. 69

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Datum: März 19, 2024
Autor: Burkhard Lewe (Germany)
Foto: 5 Räume des Herzens-RA Kosnick CCO

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