Vier Interviews über das wahre Selbst Teil 4: Peter Herrle (Rosenkreuzer, Deutschland)

"Das wahre Selbst ist die unergründliche Identität des Menschen. Für mich ist es die Quelle der Inspiration."

Vier Interviews über das wahre Selbst Teil 4: Peter Herrle (Rosenkreuzer, Deutschland)

LOGON: Der spirituelle Weg führt zum wahren Selbst. Was bedeutet das wahre Selbst für Sie?

Herrle: Das wahre Selbst liegt in der Tiefe jedes Menschen verborgen. Im Gegensatz zu den Wandlungen, die wir in unserer Biografie erleben und erlebt haben, ist es die unergründliche Identität des Menschen. Leider ist es vielen Menschen unbekannt, denn es entzieht sich einem rationalen Zugang und ist verdeckt durch Scheinidentitäten, die wir uns im Laufe unseres Lebens aufbauen. Wir müssen danach suchen und es erforschen. Für mich ist es die Quelle der Inspiration.

Wer ist der Mensch, bevor das wahre Selbst realisiert wird?

Derek Parfit[1] schockierte vor über 30 Jahren die Welt mit der Forderung, man solle den Glauben an eine feste Identität des Menschen fallen lassen. Tatsächlich kann man die Identität als ein Bündel von Reflexen, kulturellen Vereinbarungen und Ererbtem sehen, das eine stabile Identität vermissen lässt. Dennoch liegt genau in dieser Konstruktion das große Versprechen des Menschseins: über sich hinauszuwachsen, sich als Teil eines Kosmos und der Erde zu erkennen und dadurch sein wahres Selbst und seine wahre Identität als Mensch zu verwirklichen.

Wer ist der Mensch danach? Geht es um ein Erwachen oder um eine Wesensveränderung, oder …?

Es geht um Wesensveränderung. Der Mensch ändert sich permanent. Ein 70-Jähriger ist nicht derselbe, der er mit 10, 20 oder 40 war. Das ist normal. Die Frage ist aber, ob und inwieweit sich während meines Lebens eine besondere Art von Veränderung durchsetzt, die ich als Bewusstwerdung des wahren Selbstes bezeichnen möchte. In diesem Selbst drückt sich der (göttliche) Geist aus. Dadurch wird mein Leben anders, meine Beziehung zur Natur und zu den Menschen anders. Das ist echte Wesensveränderung.

Kann man etwas dazu sagen, wer den Weg eigentlich geht?

Das wahre Selbst existiert nicht für sich selbst, sondern für die Realisierung, für andere, man könnte sagen für seine „Offenbarung“. Das Abstrakte braucht ein Konkretes, in dem es sich ausdrücken kann und erfahrbar wird. Sein Weg führt in das Konkrete in die „Ver-wirklichung“ hinein. Das ist aber nur möglich, wenn der Mensch in seinem Leben Platz dafür schafft, wenn – wie es im Tao Te King heißt – ein Gefäß dafür da ist. Dieser Raum muss geschaffen und gepflegt werden, denn er wird andauernd von allen möglichen Zielen, Ängsten und Erwartungen besetzt. Diesen Raum zu schaffen, ist Aufgabe und Weg des sterblichen Menschen.

Wie schätzen Sie die Bedeutung der Realisierung des Selbstes für das tägliche Leben ein? Wie für die Menschheit allgemein?

Alle großen Religionen und zahllose spirituelle Lehrer haben zu ihrer Zeit in ihrer Sprache auf diesen Weg nach Innen, der gleichzeitig nach Außen führt, hingewiesen. Religion als ein Konzept, das Lebenserfüllung in einen unerreichbaren Himmel oder in die ferne Zukunft projiziert, nährt nur Phantasien. Es ging und geht immer um die Verknüpfung mit dem täglichen Leben. Wenn es stimmt, dass letztlich Wesensveränderung das Lebensziel ist, dann ist das tägliche Leben nicht nur die Nagelprobe für inneres Wachstum, sondern auch die wahrnehmbare Manifestation eines Lebens aus dem wahren Selbst.

Peter Herrle

Peter Herrle, Prof. Dr., geboren 1947, unterrichtete internationale Urbanistik und Architektur an der TU Berlin und der Tongji-Universität in Shanghai. Er forschte unter anderem über den Zusammenhang zwischen Architektur und kultureller Identität und ist Berater internationaler Organisationen und Nichtregierungsorganisationen. Der geografische Schwerpunkt seiner Tätigkeit liegt in Asien. Er ist Mitglied der internationalen spirituellen Leitung des Goldenen Rosenkreuzes.

 

 


[1] Derek Antony Parfit (1942-2017) war ein britischer Philosoph, der am All Souls College der University of Oxford forschte. Parfits Schwerpunkte waren Fragen der personalen Identität, der normativen Ethik und der Moralbegründung (Wikipedia).

 

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Datum: Juni 13, 2019
Autor: Carin Rücker (Germany)
Foto: Pixabay CCO

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