Unten auf der Seelen Grund, wo alles Leben ewig schweigt,
kann ich die wahren Träume sehen, wie Luft aus Wassertiefen steigend.
Irgendwo tief in mir bin ich ein Kind geblieben,
in den Seelenräumen träumend, kann diese Träume lieben[i]
Der Geist der Erde ist so etwas wie eine Idee, die hinter diesem Planeten steht. Aus dem Weltall betrachtet, ist er wie eine wunderschöne Perle anzusehen, auf deren Oberfläche allerdings schon an vielen Stellen die Zerstörung durch den Menschen sichtbar wird. Eigentlich ist der Planet, von außen betrachtet, ein harmonisches Ganzes, und doch steckt so viel Spannung in seiner Geschichte und Entwicklung. In den Büchern des Hermes Trismegistos, einer Sammlung von Texten, die wahrscheinlich aus dem Beginn unserer Zeitrechnung stammen, gibt es das Buch des Poimandres. Er belehrt Hermes über die Ursache der Entstehung der Welt. Poimandres ist ein Brennpunkt, der im Bewusstsein eines Menschen aufflammen kann, der seine zwei Seiten miteinander verbindet. Zwei Seiten, Zeit und Ewigkeit, deren Widersprüchlichkeit und Spannung größer nicht sein könnte. An Anfang dieses Buches heißt es
„Nachdem Poimandres dies gesagt hatte, verwandelte er sich in seiner Gestalt, und sofort lag alles mit einem Schlag offen vor mir, und ich habe eine unendliche Vision; alles ist Licht, ein klares und angenehmes, und mich ergriff ein Verlangen danach, als ich es sah. Und kurz darauf war eine Finsternis da, die nach unten strebte, in einem Teil (des Lichtes) entstanden, furchtbar und schrecklich, in Krümmungen gewunden, wenn ich es so bildlich sagen darf. Danach verwandelte sich, wie ich sah, die Finsternis in eine feuchte Natur, die unsagbar verworren war und Rauch wie von Feuer aufsteigen ließ und einen unaussprechlich jammervollen Laut von sich gab. Dann war ein unartikuliertes Schreien von ihr zu hören, soweit man das mit einer Stimme vergleichen kann.
[…] Aus dem Licht näherte sich ein heiliger Logos der Natur, und helles Feuer sprang aus der feuchten Natur nach oben in die Höhe; geschwind war es und schnell, zugleich aber voller Kraft, und die Luft folgte dem Pneuma, leicht wie sie war, indem sie von Erde und Wasser bis zum Feuer aufstieg, so dass es schien, dass sie an ihm hinge. Erde und Wasser blieben aber für sich allein, miteinander vermischt, so dass man [die Erde] infolge des Wassers nicht sehen konnte. Bewegt waren sie durch den pneumatischen Logos, der darüber hin schwebte, so dass man es hören konnte.“ [ii]
In diesem kleinen Teil des Textes liegt die ganze Idee, der ganze Geist der Erde verborgen, in dem alles darauf drängt, im Menschen erkannt und bewusst zu werden. Denn so wie dieses Bild für die Erde in ihrer Zweifachheit gilt, so zeigt es zugleich auch die Doppelnatur des Menschen.
Diese kleine Schöpfungsvision macht deutlich, wie sich Licht in einem langwierigen Entwicklungsprozess aus etwas Dunklem und Schwerem löst. Es bildet in einem weiteren Differenzierungsprozess vier Eigenschaften aus. Sie spannen einen Schöpfungsraum auf, ein Raum-Zeit-Kontinuum, in dem Leben sich entwickeln kann. Die Bilder, die der Visionär beschreibt, vermitteln von dieser Welt kein harmonisches Bild. Klang, Form und Bewegung vermitteln eher das Gefühl einer Qual, in der sich die Entwicklung und Geschichte vollziehen. Die Ausrichtung geschieht von außen durch Kräfte, die nur induktiv, also indirekt auf diese Welt und ihre Geschichte einwirken können. Diese induktiv wirkende Kraft vermag vier Kräfte aus der dunklen Masse zu differenzieren, die Poimandres Erde, Wasser, Feuer und Luft nennt. Es sind wahrscheinlich nicht die Bereiche, die wir heute als solche bezeichnen. Es sind eher philosophische Prinzipien, die als grundlegende Kräfte in einer materiellen Welt wirken. Die verlangsamende Kraft der Erde, die Form ermöglicht, die Beweglichkeit des Wassers, die Veränderung erzeugt, die aufwärtsstrebende Kraft, die jede subtile Idee sichtbar werden lässt und das formauflösende Feuer, das die Idee endgültig wieder freisetzt. Das ist stark vereinfacht, da jedes der vier in seiner Wirksamkeit in abgeschwächter Form auch die anderen drei beinhaltet.
Diese Welt nun wurde notwendig, da der Mensch, als Ebenbild Gottes geschaffen, auch alle Bereiche der göttlichen Natur erfahren musste.
Mit dieser Welt wurde dem Menschen die Möglichkeit eröffnet, sich in der Materie mit einem materiellen Körper zu bekleiden, sich in ihr zu verlieren, um sich, nach vielen, manchmal schmerzhaften Erfahrungen, in seinem ursprünglichen Wesen wiederzufinden. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn im Neuen Testament in Lukas 15 wirft ein Schlaglicht auf diese Thematik. Wer sein Leben dafür gibt, dass er wirklich alle Aspekte des Lichtes, und darunter auch die Dunkelheit, nicht meidet und seine Erfahrungen macht, der erlebt, dass er dem Licht aufgrund seines innersten Wesens nie verloren gehen kann. Das Licht, in diesem Fall sein Vater, kann ihn nicht abweisen, da das bedeuten würde, sich selbst abzuweisen. Dieser Sohn, der verloren gegangen ist und zurückkehrt, wird dadurch zum wirklichen Ebenbild Gottes. Denn er kennt alle Aspekte der Schöpfung, die das Licht auch kennt. Das Band, das der verlorene Sohn bei seiner Rückkehr erfährt, kann also niemals reißen. Es ist die Liebe, die als innerstes Wesen in ihm wohnt und zugleich auch das innerste Wesen des Vaters ist.
Die geistige Idee der absoluten Einheit ist im Kern der Erde, im Kern des Menschen und im Wesen Gottes verborgen und wird durch die Erfahrung, die jeder Mensch in seinem Leben macht, Schritt für Schritt wieder frei. Dieser Weg hat eine Besonderheit, die im „Seelenkleid“ der Erde verborgen liegt. Es gibt Mythen, die davon erzählen, dass der Mensch, als er die Erde betrat, sein Seelenkleid am Rande der Zeit zurückließ.[iii] Damit verlor er auch die Gabe, eine Besonderheit der Erde, die gesamte Polarität zwischen Zeit und Ewigkeit, zu umfassen, und die Erde wurde für ihn zu einem Ort des Vergessens. Das Geistseelenkleid, das ihn einmal davor schützte, sich vollkommen mit dem materiellen Aspekt der Erde zu vereinen, schützte ihn nicht mehr. So wurde er in die Lage versetzt, all die Erfahrungen mit den Aspekten Gottes zu machen, die ihm vorher verwehrt waren. Er stieß die Türen zu den dunkelsten Räumen der Erde auf, machte seine Erfahrungen, musste an seiner Halbheit leiden und suchte immer etwas, von dem er vergessen hatte, was es war.
Die Mythen berichten weiter von Briefen, von Botschaften, die ihn erreichen und von einer Zeit erzählen, in der er als vollkommener Mensch lebte. Diese Botschaften wecken dunkle Erinnerungen, erzeugen Sehnsucht. Poimandres erzählt von einem heiligen Logos, der sich der Welt nähert und das Feuer an sich zieht, das in der feuchten Natur verborgen liegt. Die Erde verschließt es, hält dieses Feuer verborgen und erkrankt und leidet an ihm. Der heilige Logos setzt es wieder frei, lässt dem schlafenden Menschen neue Flügel der Morgenröte wachsen, mit denen er sich erhebt bis an den Rand der Zeit, wo sein abgelegtes Kleid auf ihn wartet.
So trennen sich beim Menschen mit Hilfe der Erde Geist und Seele für die tiefsten Erfahrungen (die jedem Lichtwesen verwehrt sind), um ihn sodann als Ebenbild Gottes gesunden zu lassen. Die geistige Idee der Erde ist es, die gnostische Sicht von hell und dunkel, von gut und böse zu einem festen hermetischen Zusammenhang von Zeit und Ewigkeit zu verflechten, mit Erfahrungen, die eine erneute Entflechtung vielleicht verhindern. In der gnostischen Trennung entsteht ein verzehrendes Feuer, in dem sich die Materie transformiert. Wenn das Feuer alle Materie vollkommen in seinen Ursprung zurückverwandelt hat, wird es wieder zu einem reinweißen Licht. So läuft die Entwicklung, die hinter dem Geist der Erde steht, über das feurige Orange, das sich nach längerem Brennen zu Gold wandelt und dann zu einem weißen Licht vollendet.
[i] Peter Maffay, Tabaluga oder die Reise zur Vernunft 1983, Das Lied von Nessaya
[ii] Die siebzehn Bücher des Hermes Trismegistos, Freimaurer Verlag Leipzig 2011
[iii] https://www.anthroweb.info/erweiterungen/quellen/perlenlied.html