Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine redigierte Mitschrift eines Vortrages, der am 28.9.2019 bei einem Symposium der Stiftung Rosenkreuz in Bad Münder gehalten worden ist.
Begriffe und Ideen können den Blick lenken
Was hier vorliegt, sind zwei unterschiedliche Urteilsformen. Einmal wird ein gegebener Sachverhalt beurteilt und das andere Mal wird dieser Sachverhalt überhaupt erst in das Blickfeld gerückt. Herbert Witzenmann verdeutlicht diesen Unterschied, indem er von einem urteilenden und einem blicklenkenden Begriffsgebrauch spricht. [1] Begriffe und Ideen sollen nicht als Urteilsformen an die Erfahrung herangetragen werden, da sie, solange dies geschieht, allein sich selbst, ihren eigenen Inhalt in der Erfahrung manifestieren. Goethe verwendet demgegenüber die Ideen als ein Medium, als ein Organ der Anschauung:
Eine Idee über Gegenstände der Erfahrung ist gleichsam ein Organ, dessen ich mich bediene, um diese zu fassen, um sie mir eigen zu machen. [2]
Im Lichte einer jeweiligen Idee kann eine entsprechende Erfahrungsqualität sichtbar werden. Hierzu ist dann eine Art Reduzierung der Vorstellungs- bzw. der Urteilsbildung nötig. Damit im Gegenzug Ideen blicklenkend verwendet werden können, ist eine Steigerung der Ideenbildung nötig. In dem Maße, wie bei der Urteilsbildung Enthaltsamkeit geübt werden muss, in dem Maße ist im Falle der Blicklenkung eine Ideengenerierung von Nöten. Die derart im Hinblick auf die Erfahrung gebildeten Ideen mischen sich aber nicht trübend in die Eigenart der Erfahrung ein, sondern machen im Gegenteil diese erst sichtbar. Man sieht allein das, wofür man einen Begriff hat, was aber nicht heißen muss, dass allein die Begriffe gesehen werden.
Die Eigenarten der Erfahrungswelt werden sichtbar
Im Lichte der blicklenkend eingesetzten Begriffe werden nicht Urteile über die Erfahrung geworfen. Das Subjekt enthält sich gerade des Urteils. Es werden aber die Eigenarten der Erfahrungswelt sichtbar, was heißt, dass sich das Objekt im Lichte der auf sie gerichteten Begriffe selbst beurteilt. Man kann in diesem Fall – wie es Goethe tut – von einem Versuch oder Experiment sprechen. Es werden Begriffe nicht urteilend, sondern lediglich versuchsweise an die Erfahrung herangetragen. Der Erkennende fällt kein Urteil. Er beobachtet, wie die jeweilige Erfahrung sich im Lichte der von ihm generierten Begriffe selbst beurteilt.
Goethes Erkenntnismethode beinhaltet im Sinne des Ausgeführten:
1. eine Urteilsreduzierung,
2. eine Ideengenerierung,
3. einen blicklenkenden Ideengebrauch und
4. ein Urteilsexperiment.
Durch diesen Vorgang zeigt sich die qualitative Eigenbestimmung der Einzelerfahrung. Dies ist ein erster Schritt im Goetheschen Erkennen. Es ist damit aber noch kein Zusammenhang, nichts Gesetzlich-Verbindendes zwischen den Erfahrungen gefunden. Um diese Ebene zu erreichen, vollzieht Goethe einen weiteren Schritt.
Die Natur in ihrer Bewegtheit begleiten
Er spricht hier von einer Vermannigfaltigung bzw. Wiederholung der Erfahrung. Die Erfahrung wird in ihrer Eigenart, in den verschiedenen Weisen ihres Erscheinens vergegenwärtigt. Sie wird neben andere Erfahrungen gestellt. Die aufmerksame Kraft des Erkennenden taucht somit ganz in die Erfahrung ein. Insbesondere für die Erkenntnis des Organischen ist es nötig, sich in die Prozessualität des Lebendigen zu begeben. Es heißt bei Goethe:
Das Gebildete wird sogleich wieder umgebildet, und wir haben uns, wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschauen der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiel, mit dem sie uns vorgeht. [3]
Auf diese Weise begleitet die ideelle Aktivität des Erkennenden die Bewegung der Natur selbst.
An den Produktionen der Natur geistig teilnehmen
Es ist ein Wiederholen, Begleiten und Nachahmen der Naturerscheinungen, ähnlich dem Einüben eines Musikstückes. Zunächst werden einzelne Töne angeschlagen. Mit der wachsenden Fähigkeit kann flüssiger gespielt werden. Die Töne begeben sich dabei in einen melodiösen Zusammenhang. So wie die Melodie eines Musikstückes nicht durch den Musiker in dasselbe hineingetragen wird, sondern in dem Zusammenhang der Töne selbst begründet liegt, so wird der Zusammenhang der Erfahrungen, das Naturgesetz nicht durch den Erkennenden in die Erfahrung projiziert, sondern mit dem wachsenden Fortschritt seines Erkenntnisbemühens innerhalb der Erfahrungen mitvollzogen. Goethe spricht davon, dass man sich zur geistigen Teilnahme an den Produktionen der Natur würdig mache.
Ronald Brady beschreibt diesen Prozess wie folgt:
Sein Versuch, eine „geistige Teilnahme“ am Verlauf der Metamorphose in der Natur zu erreichen, führte ihn zu Übungen der Imagination …, durch die er versuchte, die Bewegung zwischen den Formen zu verfolgen. Das Ziel dieser Untersuchungen war es, die Art und Weise zu beobachten, in der das Gesetz – „das Ewige“ – in das „Vergängliche“ eintrat, etwas, von dem er erwartete, es durch seine eigene intentionale Aktivität zu verfolgen (welche Aktivität seine Teilhabe an der Aktivität der Natur darstellte). [4]
In der Natur das eigene Geistige wahrnehmen
Dies ist eine neue Stufe des Erkennens. Die ideelle Bewegung des Erkennenden stimmt mit den Bildeprozessen der Natur überein. Der Erkennende vollzieht geistig die Prozesse, die die Natur reell aufbaut. Die Erkenntnis dringt derart zu dem Schöpfungsgrund der Natur vor. Indem er diesen Schöpfungsgrund ideell anschaut, erblickt er zugleich sein eigenes geistiges Tätigsein in diesem Schöpfungsgrund. Er vollzieht demnach dasjenige, was die nachkantische Philosophie – insbesondere Schelling und Fichte – gesucht haben: eine intellektuelle Anschauung. Er erblickt seine eigene geistige Aktivität als übereinstimmend mit dem Schöpfungsgrund der Natur.
Zusammenfassung
Goethes wissenschaftliche Methode, die er selbst als anschauende Urteilskraft bezeichnet, lässt sich zusammenfassend wie folgt beschreiben:
1. Anschauende Urteilskraft bedeutet die Umwandlung des Urteilsvermögens in ein Organ der Anschauung – Blicklenkung.
2. Anschauende Urteilskraft bedeutet die Anschauung der Selbstbeurteilung der Erfahrungen – Experiment.
Dr. Jost Schieren studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte und ist seit 2008 Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Waldorfpädagogik und Leiter des Fachbereichs Bildungswissenschaft an der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn. (https://de.wikipedia.org/wiki/Jost_Schieren)
[1] Vgl. Herbert Witzenmann, Ein Weg zur Wirklichkeit. Bemerkungen zum Wahrheitsproblem: „Man kann nämlich Begriffe nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in blicklenkender Bedeutung anwenden.“ (A.a.O. S. 22 f). Vgl. ferner Herbert Witzenmann, Sinn und Sein. Der gemeinsame Ursprung von Gestalt und Bewegung. Zur Phänomenologie des Denkblicks. Ein Beitrag zur Erschließung seiner menschenkundlichen Bedeutung. A.a.O.
[2] Goethe in einem Brief vom 28.8.1796. In: Hamburger Ausgabe Briefe Bd. 2, S. 237
[3] Goethe, Die Absicht wird eingeleitet. In: Frankfurter Ausgabe Bd.24, S.392
[4] Ronald H. Brady, Form and Cause in Goethe’s Morphology. In: Frederick Amrine (Hrsg.), Goethe and the Sciences. A Reappraisal. Springer 1987. S. 283 (“His attempt to achieve a `spiritual participation` in the operation of plan metamorphosis led him to exercises of imagination … by which he attempted to follow the movement between forms. The goal of these investigations was to observe the manner in which the law – ´the eternal´ – entered into the ´transitory´, something which he expected to trace through his own intentional activity (which activity constituted his ´participation´in the activity of nature.)”)
Dr. Jost Schieren studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte und ist seit 2008 Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Waldorfpädagogik und Leiter des Fachbereichs Bildungswissenschaft an der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn. (https://de.wikipedia.org/wiki/Jost_Schieren)