Im Reich der Seele sind wir frei – Teil 1

Etty Hillesums Tagebuch (1914-1943)

Im Reich der Seele sind wir frei – Teil 1

Etty Hillesum lebte von 1914 bis 1943.[1]

Man braucht seine Unruhe und Traurigkeit nicht zu verstecken, man muss sie tragen und ertragen, aber man sollte sich ihnen nicht vollständig überlassen“[2],

so schrieb sie am 11. Juni 1942 in ihrem Kriegstagebuch. Eine Aufforderung, die wohl für jede Krisenzeit gilt. Aus dem Tagebuch leuchtet das spirituelle Porträt einer Gott suchenden jungen jüdischen Frau.

Etty Hillesum verfasste es in Amsterdam, unweit des  Ortes, an dem Anne Frank ihr berühmtes Tagebuch schrieb. Auch ihr Tagebuch wurde zum Welt-Bestseller.

Etty war eine lebensfrohe Endzwanzigerin. Sechs Jahre lebte sie in dem vornehmen Haus in der Gabriel Metsustraat 6. Sie stellte sich ihrem aufgewühlten Gefühlsleben, nahm sich selbstkritisch unter die Lupe – und erfuhr enormes inneres Wachstum.

Ebenso offen wie über ihre Spiritualität schrieb sie über ihre Sexualität, über ihr Ringen mit den Sehnsüchten und Verzichten. Vor allem aber zeugt sie von ihrer immer intensiver werdenden Beziehung

zum Allertiefsten in mir, das ich der Einfachheit halber Gott nenne.

Das Tagebüch legt ein eindrucksvolles Zeugnis von einer Entwicklung ab, die in Schmerzen durchlebt und doch mit einer aus dem Innersten stammenden Freude getragen wurde. Etty erlangte innere Befreiung. Die Eintragungen gleichen Mosaiksteinen, die vor einem makabren Hintergrund leuchten: den ständigen Bedrohungen und rücksichtslosen Verfolgungen in ihrer unmittelbaren Umgebung, denen auch sie schließlich zum Opfer fiel. Am 30. November 1943 wurde sie in Auschwitz ermordet.

Erst im Jahre 1980 erschien ihr Tagebuch unter dem Titel Het verstoorde leven (in der deutschen Übersetzung: Das denkende Herz). Es erregte nicht nur in den Niederlanden sondern auch international große Aufmerksamkeit. Die Tiefe ihrer Erfahrungen und Einsichten wurde zunächst allerdings kaum erkannt. Die Presse sprach von einer “unorthodoxen Frau”, die sowohl intellektuell wie auch sinnenfroh veranlagt gewesen sei. Aber bald darauf erkannte man ihre Geisteskraft, den Tiefgang ihrer Gedanken und die Reichweite ihrer Seelenregungen. Man stieß an vielen Stellen des Tagebuches auf Lebensweisheiten, für die sich der soziale Rahmen erst Jahrzehnte später bilden sollte.

Ihre ureigene innere Suche nach den unveräuβerlichen Werten des Daseins – frei von jeglicher Kirchenbindung – passte in die achtziger Jahre, in denen sich die Individualisierung weiter fortsetzte und man sich mehr und mehr von überkommenen Werten löste.

Etty Hillesums Bedeutung wuchs in den Folgejahren. Man begann, von ihr als der “Heiligen vom Museumplein” zu sprechen.[3] Auch errang sie einen festen Platz in der niederländischen Literatur. Ihre Tagebücher wurden in Dutzende  von Sprachen übersetzt. Die deutschsprachige Ausgabe von Das denkende Herz erlebte 2019 ihre 29. Auflage. In ihrem Geburtsort Middelburg wurde ein Studienzentrum errichtet, das sich mit den unterschiedlichen Perspektiven ihre Werke befasst.

Am Beginn ihres Tagebuchs formulierte Etty Hillesum ihr Lebensprogramm:

Ich fasse den festen Entschluss, mein ganzes Leben dem Streben nach jener Harmonie, Demut und wahren Liebe zu weihen, die ich in meinen besten Momenten verspüre.

Etty grenzt die wahre Liebe ab gegenüber der Liebe, die aus Selbstsucht entsteht,  die Gegenseitigkeit verlangt und Erwartungen hat. Wahre Liebe baut nicht auf Wechselseitigkeit, sie beruht auf Hingabe und erwartet nichts. Es ist eine Liebe, die aus der Seele fließt und sich auf Seelisches richtet. In der bedrohlichen Situation, in der sich Etty befindet, stoβen edle Bestrebungen wie diese jedoch auf schwerwiegende Hindernisse:

Ich habe noch keine Grundmelodie. Es gibt noch keine feste innere Strömung in mir. Die Quelle, aus der ich gespeist werde, versandet immer wieder, und außerdem denke ich zu viel.

Je intensiver und demütigender aber ihre Erfahrungen werden, umso stärker wachsen ihre Einsichten und seelischen Kräfte:

Um zu demütigen, braucht es zwei: einen, der demütigt und einen, den man demütigen will, vor allem: der sich demütigen lässt. Fehlt es an Letzterem, ist der Betroffene also immun gegenüber jeder Demütigung, so verdampfen die Versuche ins Nichts.

Nach und nach fühlt sie sich immer weniger als Beobachterin ihres inneren Wachstums, sondern identifiziert sich frohgemut damit. Sie erlebt die Schritte ihrer geistigen Reifung. Ihren Schreibtisch nennt sie “den schönsten Platz der Welt”.  Die Suche nach ihrer “tiefsten Tiefe” wird zum Schwerpunkt ihres Lebens. Nichts kann sie hiervon abhalten, auch nicht ihre bewegte, subtil geschilderte, fast synchron bestehende Liebesbeziehung zu zwei Männern.

„Einen unordentlichen Schreibtisch voller Bücher und Papiere, der allein mir gehört, werde ich immer dem idealsten und harmonischsten Ehebett vorziehen.“

Der Schreibtisch ist für sie der Ort, an dem sie das Mysterium erlebt, der Ort, an dem sie mehr vernimmt, als sie ist. Man mag an Lao tses Worte denken: „Der Weise wohnt immer am richtigen Ort.“

Am Ende legt Etty nüchtern Zeugnis von der wahren Liebe ab, indem sie ihre Seelenlicht durch alle Feindschaft hindurch leuchten lässt. Sie kann einem Gestapo-Offizier, der sie zurecht weist, Verständnis und überpersönliche Liebe entgegenbringen.  

Denn nur so kann der Glaube an die Menschheit und an die Zukunft bewahrt werden …

Etty wird verhaftet und zunächst in ein Lager nach Westerbork gebracht. In der Baracke überdenkt sie inmitten vieler Frauen das Elend und die Aussichtslosigheit ihrer Situation. Sie schreibt am Ende ihres Tagebuchs:

Dann lasst mich das denkende Herz der Baracke sein.

Ein Denken aus dem Herzen heraus, ein Denken aus de Liebe, das Erkenntnis und Tröstung mit sich bringt.

Etty Hillesum war bereits in ihrer Jugend tief eingetaucht in die Weltliteratur. Sie ließ sich von zahlreichen Schriftstellern, Dichtern und Philosophen inspirieren. Fast liebkosend nannte sie sie ihre “edelsten Geister”. Sie studierte die Bibel (vor allem das Matthäusevangelium und die Paulusbriefe) und las niederländische Autoren wie Vestdijk, Van Eeden und Verwey, russische Autoren wie Dostojewski, Puschkin und Schubart und deutsche Schriftsteller und Dichter wie Rilke, Jung und Buber. Auch die Mystiker Thomas von Kempen und Franz von Assisi spielten für sie eine Rolle. Sie zitierte aus ihren Werken, vertiefte sich in ihre Seelenwelt und leitet den Leser unmerklich in ein geistiges Pantheon, in dem er sich selbst vergessen kann.

Die Bibel lag auf dem Schreibtisch stets neben ihr. Matthäus war ihr beliebtester Evangelist. Je näher das dramatische Ende ihres Amsterdamer Aufenthalts heranrückte, um so mehr wurde Matthäus für sie zum Brennpunkt der Weisheit und des Trostes Christi. In ihrer immer bedrückender werdenden Situation erwies sich dieses Evangelium als eine feste Stütze.  

“Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr denn die Speise? Und der Leib mehr denn die Kleidung? […] Darum sorget nicht für den andern Morgen, denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe. ” (Matth. 6, 25, 34).

Von Paulus übernimmt sie den bekannten Satz:

Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und lieβe meinen Leib brennen und hätte der Liebe nicht, so wäre es mir nichts nütze.” (1. Kor. 13, 3)

Sie vertiefte sich in diesen Satz auch im Hinblick auf einen anstehenden Besuch ihrers Vaters.

In diesem Text liegt eine Fundgrube für eine Sicht, durch die man edle Gefühle bekommen kann. Aber wenn es um die Praxis geht, um eine kleine Liebesbezeugung, schrecke ich schon zurück. Nein, hier geht es nicht um eine kleine Liebesbezeugung. Hier geht es um etwas sehr Prinzipielles, Gewichtiges und Schwieriges: es geht darum, die Eltern wirklich von innen her zu lieben. Das heißt, ihnen all die Schwierigkeiten zu verzeihen, die sie einem, allein durch ihre Existenz, bereitet haben: an Bindung, an Widerwillen, durch die Last ihres komplizierten Lebens, die sie dem eigenen, ebenfalls genügend schwierigen Leben noch hinzugefügt haben. 

Ettys Vater war Altphilologe und Gymnasialdirektor in Deventer, der Wiege der niederländischen spirituellen Erneuerungsbewegung Devotio Moderna. Duch ihn kam Etty dazu, sich mit dem Augustinermönch Thomas von Kempen (1380-1471) und seinem – wie man sagt – nach der Bibel meistgelesenem Buch De imitatione Christi (Die Nachfolge Christi) zu befassen. Thomas war  Leitfigur dieser urniederländischen mystischen Bewegung. Etty zitiert ihn wie folgt:

Je mehr einer in sich selbst gesammelt ist und je mehr bei ihm innerlich alles nur auf einen Gegenstand abzielt, desto mehr und höhere Dinge wird er ohne Mühe verstehen, weil er das Licht der Erkenntnis von oben herab empfängt. (Thomas von Kempen, 1.3.3)

Mit anderen Worten: das Innere darf nicht zersplittert sein und sich nicht auf allzu viele Dinge in der Außenwelt richten, sondern es soll sich auf ein einziges Ziel konzentrieren: die Gotteserkenntnis (die Gnosis).

Vater Louis wurde von der deutschen Besatzungsmacht zu Anfang des Krieges als Jude aus dem Amt entfernt. Zu seinem Abschied hielt er vor seinen Kollegen und Schülern eine ergreifende, historische Rede, die er mit den Worten des ehemaligen Deventer Leiters der Dovotio Moderna Geert Groote abschloss:

“Das Wichtigste ist für mich, dass ihr in geistiger Hinsicht froh seid.”

Hier zeigt sich die Gleichgestimmtheit mit seiner Tochter Etty. Auch sie versuchte, trotz aller Unterdrückung ihre innere Freiheit und ihren Frohsinn zu bewahren. Beide verdanken ihrem kraftvollen Seelenleben eine sprudelnde Heiterkeit. Beide bezeugen: Wer aus der Seele lebt, weiβ, dass das Licht in der Finsternis scheint. Der Anfangssatz aus der Nachfolge Christi klingt hier nach:

Wer mir nachfolgt, wandelt nicht in Finsternis, sondern wird das Licht des ewigen Lebens haben. (Joh. 8, 12)

(wird fortgesetzt in Teil 2)

 

 

 


[1] Dieser Aufsatz wurde verfasst zum 75sten Jahrestag der Befreiung der Niederlande, 5. Mai 1945 – 5. Mai 2020. Die ursprüngliche Fassung erschien in der niederländischen Ausgabe von LOGON, Jahrgang 1, Nummer 3, S. 42-49 (Haarlem 2020).

[2] Aus: Etty Hillesum, Das denkende Herz: Die Tagebücher von 1941-1943

[3] Das Museumplein ist ein groβer Platz in Amsterdam gegenüber dem Rijksmuseum, nahe der Gabriël Metsustraat, wo Etty wohnte.

 

 

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Datum: August 9, 2020
Autor: Dick van Niekerk (Netherlands)
Foto: Michel Boucly via Pixabay

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