Gibt es objektive Erfahrung?

Wie ein Wissenschaftler die Voudou-Religion erforschen wollte

Gibt es objektive Erfahrung?

Es ist eigenartig: immer wieder gehen wir davon aus, dass andere dieselbe Sicht haben wie wir selbst. Dabei zeigen uns doch die ständigen Meinungsverschiedenheiten und Konflikte, dass es nicht der Fall ist. Das führt zu der Frage: Ist es möglich, die Dinge aus der Perspektive unseres Gegenübers zu sehen? Oder ist die Disharmonie in unseren Beziehungen unvermeidlich?

Wir sehnen uns nach Frieden oder jedenfalls danach, den Disharmonien zu entgehen. Doch können wir über unsere subjektive Sichtweise hinauszuwachsen und etwas tatsächlich so erleben, wie es ein anderer erlebt? Können wir uns vollkommen in die Lage eines anderen hineinversetzen? Das wäre dann vielleicht eine Möglichkeit, die Dinge objektiver zu erkennen.

Vom Zombietum

Der kanadische Anthropologe und Ethnobiologe Wade Davis stand vor ähnlichen Fragen, als er die Religion des Voudou in Haiti wissenschaftlich beschreiben wollte. Er legte seine Erfahrungen hierzu in den Büchern The Serpent and the Rainbow [1] und Passage of Darkness [2] nieder. Davis konzentrierte sich auf den Ursprung des Zombietums. Es handelt sich dabei um einen quasi-mythischen Zustand von Bewusstlosigkeit, durch den jemand der Disziplinierung und Kontrolle durch einen anderen unterworfen wird. Der Betreffende ist physisch am Leben, hat aber kein eigenes Bewusstsein und wird durch andere beherrscht.

Davis ging daran, die Wirkstoffe zu identifizieren, die im Zombifizierungsprozess verwendet werden. Er überlegte, ob sie auch für andere Zwecke eingesetzt werden könnten. Dabei bemühte er sich um ein tieferes Verständnis der damit zusammenhängenden religiösen Phänomene. Das haitianische Voudou ist eine komplexe und zutiefst spirituelle polytheistische Religion, die aus einer Synergie von traditionellen westafrikanischen Religionen und dem römischen Katholizismus entstanden ist. Davis wollte nicht nur herausfinden, wie ein Voudou-Anhänger für die Zombifizierung anfällig wird, sondern auch warum.

Die Wirksamkeit der biologischen und biochemischen Komponenten der Zaubertränke ist ein wesentlicher Bestandteil des spirituellen Lebens, der Rituale und der Kultur der Voudou-Anhänger. Davis entdeckte, dass die eingenommenen Mittel zwar psychoaktiv wirken, dies allein aber nicht ausreicht, um das Phänomen der Zombifizierung zu erklären. Vielmehr sind die Voudou-Überzeugungen der Gläubigen ein integraler Aspekt der Wirksamkeit der Zaubertränke.

Vom Dilemma der Wissenschaft: Was ist Wahrheit?

Der Höhepunkt von Davis‘ Erfahrung war, als er vor dem Dilemma der modernen Wissenschaft, hier der Anthropologie und Ethnobiologie, stand. Er wollte mehr über das religiöse Leben wissen und nahm an Praktiken und Ritualen teil – und gelangte an eine für ihn unüberwindbare Schwelle: die Grenze zwischen Beobachten und Glauben, zwischen objektiver Betrachtung und subjektiver Erfahrung.

Er erkannte, dass er sich zwischen zwei unvereinbaren Optionen entscheiden musste: entweder außenstehender Beobachter zu bleiben, renommierter Anthropologe, oder seine Weltanschauung und Karriere hinter sich zu lassen und eine Einweihung in die Voudou-Religion zu erleben, um sie als wahrer Gläubiger von innen her zu erfassen.

Er hatte sich bereits auf eine Einweihung vorbereitet, als der Rat der Führer der Bizango-Gesellschaft ihm eine ernste Warnung übermittelte. Sein Vorgehen werde Konsequenzen haben. „Die Aufnahme in die Bizango-Gesellschaft zu vollziehen […] wäre ein unwiderruflicher Schritt. Ich wäre nicht länger ein Außenseiter, der sich frei bewegen kann, wohin er will. Ich würde Teil einer Matrix und durch Gelübde und Verpflichtungen an die anderen Mitglieder gebunden. […] Ich würde nicht nur eine Reihe von Prinzipien dokumentieren, wie sie von der Bizango-Führung gehandhabt wird; sondern miterleben, wie sie täglich in der Gemeinschaft umgesetzt werden.“

Davis erkannte, dass es unmöglich war, seine Studien als objektiver Beobachter fortzusetzen. Er scheiterte mit seiner Absicht, auf experimentelle Weise an einer Initiation in die Bizango-Gesellschaft teilzunehmen. Er begriff, dass eine Einweihung nur Selbstzweck sein kann und nicht Mittel zu einem anderen Zweck.

Davis’ Erfahrung und Darstellung wäre nur dann authentisch, wenn er jede Objektivität aufgegeben und sich voll und ganz in die Gemeinschaft eingebracht hätte, als echter Teilnehmer, ohne Rücksicht auf zeitliche Belange oder die Möglichkeit, wieder abtrünnig zu werden, und auch ohne den Gedanken, die Vodou-Erfahrungen und –Glaubenssätze eventuell einmal zu widerrufen.

Was zeigt dies dem spirituell Suchenden?

Dem spirituell Suchenden zeigen diese Beobachtungen und Erlebnisse des Wissenschaftlers zwei bedeutsame Dilemmas auf. Um einen spirituellen Weg oder ein Glaubenssystem so zu erleben, wie es jemand tut, der ihm wirklich folgt – das heißt, um die Weltanschauung und Lebenserfahrung eines wahren Gläubigen zu verstehen, kann der Suchende keinen Ausstiegsplan im Kopf haben. Man kann die Erfahrung eines wahren Gläubigen nur machen, wenn man wahrer Gläubiger ist. Der Glaube muss lebendig sein, ohne Vorbehalt, Einschränkung oder Begrenztheit.

Hinzu kommt, dass man selbst dann die Dinge nur aus der eigenen Perspektive erlebt, auf der Grundlage des eigenen karmischen Erbes und der eigenen Lebenserfahrung. Die Art und Weise, wie man eine neue Lebenseinstellung erfährt, hängt unweigerlich vom vorherigen Lebenszustand ab. Das bedeutet, dass Erfahrungen einzigartig sind, sie sind bezogen auf das Individuum, das sie macht.

Man kann also nicht aus dem eigenen Erfahrungsschatz heraus die Lebenserfahrung eines anderen gültig beschreiben.

Wer nicht ernsthaft und tief eintaucht in ein spirituelles Glaubens- oder Wissenssystem, wird dessen lebendige Wirklichkeit nicht erfassen. Die Wahrheit liegt nicht in der Lehre oder Erklärung eines spirituellen Weges. Sie muss lebendig erfahren werden. Denn wir sind lebendige Wesen und erfahren Wahrheit auf der Grundlage unseres Lebenszustandes – in ihrer Ganzheit, ihrer Ehrlichkeit und auch ihrer Vergänglichkeit.

Wenn wir uns also auf einen spirituellen Weg begeben, nur um zu erforschen, ob seine Lehren mit unserer eigenen Weltanschauung vereinbar sind, sollten wir nicht überrascht sein, wenn wir nicht mehr entdecken, was wir bereits zu wissen glaubten. Und wenn wir einen spirituellen Weg mit einem „Fluchtplan in der Tasche“ erforschen, sollten wir nicht überrascht sein, wenn wir ihn nicht so sehen oder erleben können, wie es unsere Glaubensbrüder tun.

Nach der Wahrheit zu suchen bedeutet, sich nicht anzumaßen, sie bereits zu besitzen oder auch nur eine konkrete oder theoretische Vorstellung von ihr zu haben. Man sollte nicht enttäuscht sein, wenn das, was man findet, wenig Ähnlichkeit hat mit dem, was man ursprünglich zu finden erwartete. Erst das Sich-Öffnen für das Unbekannte führt zu den tiefen Einsichten in den eigenen Erfahrungsweg und den eigenen Bewusstseinszustand. Dieser wandelt sich zum lebendigen Ausdruck der erlangten Wahrheit.

So stehen wir also vor der Situation, dass wir als individuelle, persönliche Wesen nicht in der Lage sind, objektiv gültige Wahrheit zu erlangen. Wir entdecken, dass die Wahrnehmung der Wahrheit von einem Individuum zum anderen verschieden ist.

Und als seelenbewusste Wesen entdecken wir, dass es nicht die Wahrheit selbst ist, die wir suchen oder finden, sondern das Bild von ihr, das wir in der Tiefe in uns tragen und das sich durch uns offenbaren will.

 

Literatur:

[1] Davis, P. W., Davis, W. (1985). The serpent and the rainbow. New York: Simon and Schuster

[2] Davis, W. (1988). Passage of darkness: the ethnobiology of the Haitian zombie. United Kingdom: University of North Carolina Press

 

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Datum: November 1, 2021
Autor: Joseph Murray (Australia)

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