„The most sublime act is to set another before you.“
William Blake[1]
Jeder Versuch einer Freiheitsphilosophie ist paradox. Verstehen wir Freiheit als Ungebundenheit, als die Abwesenheit von Fesseln, ist damit noch nichts gesagt über ihre Qualität. Sie kann in bloßem Egoismus oder schierer Exzentrik münden. Und wenn wir Freiheit anders herum positiv als ein Vermögen verstehen, uneingeschränkt zu handeln, kommen wir damit über den Makel grenzenloser Willkür nicht hinaus. Denn die freie Person ist potentiell die einsame Person, die in ihrer Partikularität zwar über ihre Wünsche oder Meinungen bestimmen mag, letztlich aber im Glanz absoluten Verfügenkönnens erstarrt – oder verrottet. Der Freiheitsaspekt der Ungebundenheit bedarf also eines ausgleichenden Prinzips. Aber reicht dafür die Einschränkung aus? Nein. Mit einem bloßen Begriff von begrenzter Freiheit könnten wir das formulierte Paradox, das Spiel von Willkür und Begrenztheit, nicht überschreiten.
Der uns interessierende Freiheitsbegriff beginnt da, wo wir uns diesem Paradox stellen. Das ist nicht ganz einfach, da ja die eigentliche Freiheit nicht die halbe Freiheit oder die geteilte Freiheit im Sinne eines Kompromisses ist. Doch verhilft es uns immerhin zum Bewusstsein von Freiheit, wenn wir ihre Grenzen spüren. Wie anders könnten wir etwas von ihr wissen, als wenn uns auch ihr Gegenteil zur Erfahrung würde? Offenbar hat Freiheit etwas damit zu tun, wie wir unsere Erfahrungen machen: sie sind selten grenzenlos. Aber auch, wie wir in der Welt wirken: es ist niemals unbegrenzt. Doch Grenzen lassen sich nicht nur vorfinden oder ziehen, sie lassen sich auch modifizieren, überschreiten oder auflösen. Hier, im Zusammenspiel von Erfahren und Wirken, taucht Freiheit deutlicher in ihrer Qualität auf. Denn sie gilt immer für eine Person. Eine Person, die sich der beiden konträren Elemente Erfahrung und Wirkung einerseits bewusst wird und sie zugleich andererseits zu gestalten vermag. – Wie also sind wir uns unseres Wirkens bewusst? Und wie geben wir unserem Wirken durch die Art unserer Bewusstheit Gestalt?
Von diesen beiden Fragen ging der damals 32-jährige Rudolf Steiner in seinem 1894 erschienenen Buch Die Philosophie der Freiheit aus.[2] Wie zwei Säulen, die nebeneinander stehen, werden die beiden Hälften des Buches durch diese Leitfragen markiert. Die aufsteigende erste Hälfte beschäftigt sich mit Fragen der Bewusstheit und des Erkennens und trägt den Titel: „Die Wissenschaft der Freiheit.“ Die zweite, absteigende Hälfte des Buches beschäftigt sich – von den gewonnenen Erkenntnisstandpunkten aus – mit Aspekten des Wirksamwerdens und trägt den Titel: „Die Wirklichkeit der Freiheit.“ Der Weg zur Freiheit ist durch die Komposition dieses Buches klar vorgezeichnet. Frei sind unsere Handlungen dann, wenn wir uns über ihre Motivationen im Klaren sind. Der Schlüssel zu freien Handlungen ist in einer subtilen Transformation unserer Bewusstheit zu finden: wir wenden uns um und beobachten denkend zugleich, wie unsere Entschlüsse entstehen. Das Material, auf das wir uns dabei stützen, ist also unser Denken. So wie wir es alltäglich erfahren, wenn wir denn eigens darauf achten.
Beginnen wir nun achtsam, uns dabei zu beobachten, wie unsere Bewusstseinsprozesse – und darin besonders unsere begrifflichen Denkprozesse – vor sich gehen, bemerken wir uns im Denken zugleich als tätig hervorbringend und frei beobachtend. Damit haben wir ein Feld betreten, aus dem freie Handlungen entspringen können. Jetzt gilt es, dieses Feld im Blick auf das Erscheinen freier Intuitionen, die zu Handlungen werden, zu erkunden. Es ist dies die eigentliche Arbeit des Buches. Eine Arbeit, die sich der Autor, Rudolf Steiner, gemacht hat, indem er seine Sätze wie das Protokoll seiner Denk-Beobachtungen notierte. Und die er zugleich voran brachte, indem er den Weg seiner Gedanken in einer Folge von Thesen entwickelte. Einer Arbeit, die für uns, alle Lesenden, darin bestehen mag, seine Beobachtungen nachzuvollziehen und sie als zutreffend oder nicht zutreffend zu beurteilen oder sie aus eigener Beobachtung zu modifizieren.
Aus dem bisherigen Gedankengang halten wir fest: In Steiners Philosophie der Freiheit ist das orientierende, dritte Prinzip der Freiheit in der Erfahrung des Denkens zu finden. Freiheit lässt sich dann verwirklichen, wenn wir von unserer Fähigkeit zu denken ausgehen. Denn wir sind, so Steiner, schon mit der Welt elementar verbunden, wenn wir denken. So, auf dieser Grundlage, wird unser freies Handeln nicht willkürlich, partikulär oder egoistisch sein. Im Denken ist uns das Prinzip der Verbundenheit gegeben. Es ist die Verbundenheit mit der natürlichen, der kulturell geprägten sowie der spirituell verstandenen Welt. Auch eine Verbundenheit mit anderen Personen besteht, so Steiner, durch das Denken. Denken führt uns aus dem Paradox der Freiheit hinaus, weil wir es mit einer universellen Region zu tun haben, in der es wegen ihrer umfassenden Allgemeingültigkeit keine wirkliche Partikularität geben kann. Freiheit auf dieser Grundlage müsste immer die Freiheit aller anderen mit einschließen.
Welche Verbindung zwischen Person und Person, zwischen Individuum und der Welt, so ist zu fragen, schafft dieses Denken wirklich? Bleibt es nicht vielmehr abstrakt-trennend und willenlos-intellektuell? Fehlt ihm nicht der Reichtum des Gefühls mit seinen vielen Facetten? Und schließlich: kann uns im Denken, diesem Hort des Universellen, wirklich etwas so Einzigartiges begegnen wie eine andere Person? Denken in diesem Sinn müsste logischerweise Gefühl und Wille in sich einschließen. Umgekehrt müsste es als Denken in Gefühl und Wille eintauchen und sich als solches diesen Elementen sogar angleichen können. In irgendeiner Form müsste Denken zur Empathie fähig sein. Denn genau das gilt es an der anderen Person zu beobachten, was dem Allgemeinbegriff nicht zugänglich ist: das ganz Besondere der Person, nennen wir es deren Ich. Wir begegnen dem Paradox der Freiheit in einer neuen, zugespitzten Form. Wie verhält sich Denken einerseits zu Gefühl und Wille? Wie verhält es sich andererseits zur anderen Person?
(wird fortgesetzt in Teil 2)
[1] Das Zitat stammt aus der Sprüche-Sammlung The Marriage of Heaven and Hell. Ich zitiere es nach Kae Tempests Essay Verbundensein, erschienen in der Reihe suhrkamp nova des Suhrkamp Verlages, Berlin 2021, übersetzt von Conny Lösch. Die englische Originalfassung erschien 2020 in London bei Faber & Faber unter dem Titel On Connection. Bei Zitaten gebe ich in Klammern zunächst die Seitenzahl der Übersetzung, nach einem Schrägstrich die des Originals im Text an. Das vorangestellte Motto lautet in der Übersetzung: „Die erhabenste Tat ist es, einen anderen vor sich zu setzen.“ (52/41)
[2] Das Buch des späteren Theosophen und Begründers der Anthroposophie erschien 1918 in einer ergänzten und deutlich überarbeiteten zweiten Auflage, auf die ich mich hier beziehe. Sie trägt folgenden Titel: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. Ich zitiere nach der 15. Auflage der Gesamtausgabe, Dornach 1987, mit dem Seitenverweis direkt nach dem Zitat in Klammern.