Eines wird sichtbarer. Die Verwandlung der Dinge … durch Wahrnehmung. Rainer Maria Rilkes Weg

Was gibt es Anderes, Großartigeres als Verwandlung? Sie ist ein Grundzug unserer Erfahrung. Die Schöpfung hat „horizontale Erfahrung“ mit der Wandlung, weil sie Wandel ist, sichtbar durch die Wirksamkeiten der Gezeiten und der Sinne. Verwandlung ist hier ein sinnlicher Prozess. Aber es gibt auch noch eine andere Verwandlung: die in das nicht Sichtbare. Beide Transformationsprozesse existieren in Koexistenz. Rainer Maria Rilke hat sie erforscht.

Eines wird sichtbarer. Die Verwandlung der Dinge … durch Wahrnehmung. Rainer Maria Rilkes Weg

 

Aktuell strahlt uns die Natur erneuernd entgegen und lenkt so die Aufmerksamkeit der Mensch- und Tierwelt auf sich. Die Verwandlung hat ganz offensichtlich begonnen, der Frühling entfaltet sich schöpferisch und scheinbar ganz ohne jegliches Maß. Eine Präsenz von etwas Neuem lässt sich wahrnehmen – aber, was ist diese Präsenz und welche geheimnisvolle Kraft bringt dieses Neue zum Ausdruck?

Es kann mit Sicherheit gesagt werden: Sehen ist so viel mehr als mit den bloßen Augen wahrzunehmen. Wirkliches Sehen ist mehrschichtig und aus diesem Grunde so unendlich viel. Zu Recht fragt sich Rilke:

Warum ist das so viel für uns: zu sehen?[1]

 Ich schaute an;

blieb das Angeschaute sich entziehend,

schaute ich unbedingter, schaute kniend,

bis ich es gewann.[2]

Ist wirklich alles miteinander verbunden? Wir sehen doch Vielheit!

Vom Einen

Dieses „Eine“, diese Einheit, welcher Art sie auch sein mag, bleibt in der Dinghaftig- und Unterschiedlichkeit unsichtbar. Das allem Gemeinsame kann man nicht sehen, darum erscheint Vielfalt vor dem Auge. Die tiefe Erkenntniserfahrung aber ist: Vielfältigkeit gibt es „im Grunde“ nicht, weil sie Zerstückelung bedeuten würde. Das Gemeinsame kann sich mitteilen, als innerliche Offenbarung, als eine Art inneres Sehen. Der Mensch schaut und das Angeschaute sieht zurück: so wie er schaut, so wird er angeschaut.

C. G. Jung: „Wer Einsicht hat, sagt Dschuang Dsi, der ‚gebraucht sein inneres Auge, sein inneres Ohr, um die Dinge zu durchdringen und bedarf nicht verstandesmäßigen Erkennens’. Damit wird offenbar auf das absolute Wissen des Unbewussten hingewiesen, das heißt auf das mikrokosmische Vorhandensein makrokosmischer Ereignisse.“[3]

Doch worum geht es beim Schauen?

Es geht um das, was ES mit uns macht und um das, was unser Schauen mit der Natur macht, denn unser Schauen bleibt nicht unbemerkt. Die Dinge selber wollen vom Menschen wahrgenommen werden. Sicher ist: Die Natur hat uns etwas zu sagen. Sie winkt uns zu und möchte unsere Aufmerksamkeit, ganz gleich, ob das Winken wahrgenommen wird oder nicht. All ihr Dasein, ihre Präsenz ruft: „Hallo, hier bin ich in meiner Überfülle, in meinem Übermaß!“ Sie drängt sich beinahe auf … .

Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen[4],

so heißt es in einem von Rilkes Gedichten. Ein maßvolles Dasein ist der Natur fremd. Sie ist maßlos und möchte in ihrer ganzen Fülle erfahren werden.

Dahinter verbirgt sich eine Absicht: Sie möchte sinnlich und übersinnlich wahrgenommen werden und stellt sich uns in, auf und an den Weg. Die Natur bietet uns etwas an und dies auf eine geheimnisvolle, subtile Weise. Im Grunde bietet sie sich selber an – und ganz nebenbei gesagt: der Mensch darf dies als persönliches Angebot annehmen.

Die Natur „türmt“ sich auf, so, dass man nicht an ihr vorbeikommt. Die Absicht können wir nicht erfassen, aber wir können uns ergreifen lassen  – aus der Ferne. Die Voraussetzung für eine solche Erfahrung ist: Der Mensch muss sich leer machen, offen sein. Ja, Offenheit wird impliziert. Die Natur kommt uns entgegen. Sie möchte uns ergreifen, und wir können es zulassen. Das bedeutet: ES geschehen lassen! Die Natur möchte berührt werden vom Menschen, innerlich erfasst werden. Sie braucht uns. Unsere Zuwendung!

Es mag eine Unglaublichkeit sein: Die Natur hat eine Erwartungshaltung an den Menschen, weil der Mensch die Fähigkeit hat, die Natur zu erfüllen.

Ja, die Frühlinge brauchten dich wohl. Es muteten manche

Sterne dir zu, dass du sie spürtest.[5]

Der Mensch betrachtet den Sternenhimmel, und die Unendlichkeit kann Besitz von ihm ergreifen, der eine gemeinsame Raum. Im Grunde erwacht im Wahrnehmenden die Ahnung einer Unendlichkeitsbetrachtung. Ein Jeder kennt das: „Licht in der Dunkelheit“, ein Freiheitsgefühl breitet sich aus. Das wirkt im Menschen, weil diese Betrachtung kein Alltagserleben ist. Es ist unbewusstes Wissen, kein Gefühl: Da ist ETWAS, das wir noch nicht begreifen, eine Ahnung von etwas Großem, das größer ist als wir selbst. Wir kommen uns klein vor. Doch dann geschieht es:

Der Mensch schaut in den Himmel, und der Himmel öffnet sich. Das Herz erfährt etwas „aus der Ferne“. Die Natur will mehr zeigen, mehr als das, was an ihr sichtbar ist. Sie dient uns als Spiegel: Das Übermaß zeigt uns selbst! Die Natur lebt aus unserer Seele. Wir sind nicht losgelöst von der Natur, sondern eins mit ihr. Eine Trennung gibt es nicht. Wir sind voneinander abhängig.

Die Natur spiegelt und offenbart uns das Seelische im sinnlich Erfahrbaren – und das Geistige: die Einheit.

„In einem weiteren Sinne benimmt sich eine Kultur ohne gesundes mythisches Bewusstsein der Umwelt gegenüber schädigend, ohne sich darüber im Klaren zu sein. Wir müssen eine direkte Verbindung mit der Natur spüren, indem wir die Pforten des mythischen Bewusstseins aufstoßen.“ [6]

„Wir müssen die Erde unbedingt mit offenen, träumenden Augen sehen.“ [7]

Die Transzendenz im Menschenherzen

Die Natur enthält die grundlegenden Elemente, die unsere Welt bilden. Unsere Sinnesorgane stehen in engem kognitivem Austausch mit der Natur. Sie ist also in ihrer Fülle stets Gegenstand der Erkenntnis für die Menschen. Kognition ist abgeleitet von lateinisch cognoscere und bedeutet so viel wie erkennen oder erfahren. Eine erkennende Wahrnehmung betrifft nun aber den Menschen und die Natur im Austausch gleichermaßen, ist nicht einseitig.

Seitdem der Mensch die Welt erblickt hat, erlebt er sich als mit der Natur verbunden. Das Übermaß des Daseins ist das Göttliche als ihr verborgener Aspekt, ist die Einheit von allem.

Uns heutigen Menschen offenbart sich zuerst die sinnliche Erfahrung. Sie ist der Grundstein für uns. Von der sinnlichen Erfahrung können wir weiter gehen zur übersinnlichen. Das Übermaß ist überweltlich, es geht über die Welt, die sinnlich wahrnehmbare, hinaus. Eine übersinnliche Erfahrung ist inneres Wahrnehmen, eine Erfahrung, die im Herzen beginnt.

Die Wahrnehmung des Herzens ist phänomenal in diesem Kontext: Die Natur hilft uns, drängt uns beinahe zu einer solchen Herzenswahrnehmung.

Was geht dabei vor?

Kommen wir dem Phänomen allmählich auf die Spur … .

Krishnamurti sagt: „Die Verwandlung dessen, was ist, findet nur statt, wenn keine Trennung, keine Zeit zwischen dem Seher und dem Gesehenen existiert. Liebe kennt keinen Abstand.“[8]

Wer kennt das nicht: Das Herz ist voller Erfüllung, so voll, dass wir seine Inhalte nicht verarbeiten können.

Was geschieht? Etwas spricht zu unserem Herzen. Aber: Was spricht? Wer ruft?

ES spricht an den, den ES zum Hören „auserwählt“.

Ist es der Ruf der Natur? Hören wir ihn, hören wir ES?

Was passiert da?

Geschieht eine Erhebung in „Sphären“?

Die Natur ist vergänglich und braucht uns in diesem Vergänglichkeitskontext. Sie wirkt in uns hinein und durch uns. Wir wirken wiederum durch sie. Das kann für sie erlösend sein, wenn wir sie „heiligen“ – durch das, was die Buddhisten als Ichlosigkeit, die Rosenkreuzer als Wirken aus der Seele bezeichnen.

Fakt ist: Die Natur gibt uns einen Auftrag. Welchen Auftrag?

Was erwarten die Dinge vom Menschen?

Rilkes Entdeckung

Rilke war ein großer Bewunderer des Schöpfungsausmaßes. Der Naturlyriker hat eine faszinierende Entdeckung gemacht: er hat den Auftrag an den Menschen verstanden und folgendermaßen zum Ausdruck gebracht:

Und diese, von Hingang

lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich,

traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.

Wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbarn Herzen verwandeln

in – o unendlich – in uns! Wer wir am Ende auch seien.

 

Erde, ist es nicht dies, was du willst: unsichtbar

in uns erstehn? — Ist es dein Traum nicht,

einmal unsichtbar zu sein? — Erde! unsichtbar! [9]

Obwohl wir Menschen als Teil der Schöpfung ebenso vergänglich sind, trauen die Naturgeschöpfe uns zu, ihr „Retter“ zu sein. Sie können sich im Menschen „erheben“.

Die Dinge wollen etwas. Und was?

Der Mensch soll die Dinge im Herzen verwandeln, in sich. Das ist ein Mysterium.

Wer wir am Ende auch seien.

Steht am Ende „Sein“? Was ist WIR?

Die Dinge – die Menschen – oder beide zusammen?

Was bedeutet Ende?

Der Erde, der Schöpfung, wird ein Wollen unterstellt: das Wollen, ins Unsichtbare erhoben zu werden. Die Erde, so wie wir sie wahrnehmen, wird in uns unsichtbar, weil wir sie in uns hinein „wahr-genommen“ haben. Als Wahrnehmungsorgan dient dabei, wenn es gut ist, die Seele. In ihr kann sich die Erde als sichtbare Gestalt auflösen, transformiert werden, bis hin zur Erlösung.

Die Erde träumt. Der Mensch, der weiß, was Träumen ist, wendet sich an sie. Rilke spricht der Erde die menschliche Eigenschaft des Träumens zu.

Ist es dein Traum nicht,

einmal unsichtbar zu sein? — Erde! unsichtbar!

Was gibt es Anderes, Großartigeres als Verwandlung? Sie ist ein Grundzug unserer Erfahrung. Die Schöpfung hat „horizontale Erfahrung“ mit der Wandlung, weil sie Wandel ist, sichtbar durch die Wirksamkeiten der Gezeiten und der Sinne. Verwandlung ist hier ein sinnlicher Prozess. Aber es gibt auch noch eine andere Verwandlung: die in das nicht Sichtbare. Beide Transformationsprozesse existieren in Koexistenz.

Denn des Anschauns, siehe, ist eine Grenze.

Und die geschautere Welt

will in der Liebe gedeihn.

Werk des Gesichts ist getan,

tue nun Herz-Werk

an den Bildern in dir, jenen gefangenen; denn du

überwältigtest sie: aber nun kennst du sie nicht.[10]

 

Fand es in mir Liebe vor? […]

Bilder, Zeichen, dringend aufgelesen,

hat es euch, in mir zu sein, gereut? [11]

Hier wird die Grenze der äußeren Sinneswahrnehmung überschritten: Das Sehen öffnet das Herz. ES in das Herz hinein lassen und agieren lassen, also im Herzen wirken lassen, das ist eine Ausdrucksform der Liebe. Hier geschieht der Übergang von der äußeren Anschauung zur Innenschau, denn die Dinge wollen innerlich erfahren werden.

Sie befinden sich in uns, … wo sie gefangen sind?

Der Mensch ist in seinem Denken gleichsam über die Dinge hinausgegangen und hat die Verbindung zu ihnen verloren. Und dennoch:

Gibt es nicht immer Zeichen und somit Berührungspunkte?

ES ist immer da, in uns. Und die Schöpfung spricht zu uns, und wir können Antwort geben.

Hat es euch, in mir zu sein, gereut?, so fragt die Schöpfung den Menschen. Wir können antworten, wortlos.

Durch beide zusammen erklingt die Frage: Fand Es in mir Liebe vor?

Oft ist es doch so:

„Unsere Augen sehen nur den Dunst, hinter dem sich das Wesentliche verbirgt, das wir eigentlich wahrnehmen sollten; und unsere Ohren hören nur ein Rauschen, das alles übertönt, was wir eigentlich mit unserem Herzen verstehen sollten.“ [12]

Ein jeder kann sich selbst fragen:

„Ist ES in mir, findet ES in mir Liebe vor?“          

Die Antwort wird sich möglicherweise deutlich offenbaren – in diesem Augenblick.

 


[1] Aus: Improvisationen aus dem Capreser Winter

[2] Aus: Waldteich, weicher, in sich eingekehrter

[3] C.G. Jung, Synchronizität, Akausalität und Okkultismus, München 1990

[4] Aus: Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen

[5] Aus: Duineser Elegien, Erste Elegie

[6] Paul Devereux, Die Seele der Erde entdecken, München 2001

[7] Paul Devereux,a.a.O.

[8] Krishnamurti, Vollkommene Freiheit, 5. Aufl., Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006, S. 253

[9]  Aus: Duineser Elegien, Neunte Elegie

[10] Aus: Wendung

[11] Aus: Waldteich, weicher, in sich eingekehrter

[12] Khalil Gibran

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Datum: Februar 8, 2022
Autor: Myriam Häntzschel (Germany)

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