So erfuhren sie als frühe Vorläufer geistiger Freiheit die Macht eines freien und selbstständigen Denkens. Die Zisterzienser – unter Führung von Bernard de Clairvaux – riefen auf zum Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen. Dies war der Beginn einer „Kultur der Verfolgung“
„Der Rebell wird vergessen und der Sieger schreibt die Geschichte“ (Ernst Bloch)
In einem der Bergdörfer in den Ausläufern der Pyrenäen im Tal der Ariège zeichnete ein Inquisitor im Jahre 1320 ein Gespräch auf, das er mit einer Katholikin namens Azaläis geführt hatte. Azaläis erzählte:
„Guillelme sagte, nah am Feuer stehend – und wir hörten es alle –, dass die Häretiker gute Menschen seien und dass sie es besser mit ihrem Glauben hielten, als wir Katholiken es mit unserem Glauben vermochten. Sie sagte auch, dass unsere Kirche sie verfolge, weil sie zu viel Macht habe und dass, wenn sie die Häretiker nicht verfolgen würde, diese zahlreicher wären als wir anderen“[1]
„Wo Freiheit ist, ist auch Macht“ (Michel Foucault)
Der Facettenreichtum von Macht und ihrer Wirkung hat im Leben der Katharer eine wesentliche Rolle gespielt – teils als Chance und teils als tragische Schicksalsverstrickung. Sie haben im Rahmen der Gegebenheiten des Mittelalters in ihrem Fühlen, Denken und Handeln Macht als Wechselspiel zwischen Licht und Finsternis wahrgenommen.
Es begann zur Jahrtausendwende …
Das römische Karolingerreich war auseinandergebrochen. Die freigesetzten Kräfte verursachten im Zusammenhang mit der Bilderwelt aus der Apokalypse des Johannes eine Angst- und Katastrophenstimmung. Man legte die Schrift so aus, dass im Jahr Tausend der Satan aus dem Verlies herauskommen und die Erde in Chaos versetzen werde. In dieser Zeit tauchten die ersten Katharer und gleichzeitig die ersten Scheiterhaufen in Europa auf (Orleans 1022, Montforte und Turin 1025).
Die Gregorianische Reform
Ab Mitte des 11. Jahrhunderts leitete die römische Kirche eine Reform ihrer religiösen Strukturen ein, die unter Papst Gregor VII als „Gregorianische Reform“ (1073–1085) eine Neuordnung des kirchlichen Christentums bewirkte. Es wurden neue Orden initiiert: Benediktiner (Cluny) und Zisterzienser (Citeaux), die in ihren isoliert liegenden Klöstern eine Spiritualität ohne Einbeziehung des Volkes lebten.
Der Papst vereinigte von nun an kirchliche und weltliche Macht als Stellvertreter Christi innerhalb der christlichen Welt, die er als „himmlisches Jerusalem“ bezeichnete. Diese päpstliche Theokratie legitimierte eine Ideologie des Kampfes.
Die Zisterzienser – unter Führung von Bernard de Clairvaux – riefen auf zum Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen. Bernard erstellte in diesem Kontext eine theoretische Rechtfertigung zur Verfolgung der Christen, die ihren Glauben anders praktizierten und die er als Häretiker bezeichnete: Dies war der Beginn einer „Kultur der Verfolgung“[2]
Von nun an gibt es zwei Kirchen:
„… eine, die flieht und verzeiht (Matthäus 10, 23) und eine, die besitzt und schändet; diejenige die flieht und verzeiht und die den rechten Weg der Apostel geht, sie lügt nicht und sie täuscht nicht; und die Kirche, die besitzt und schändet, das ist die römische Kirche“ (Pierre Authier, Bon Homme ). [3]
Der Mensch im Mittelalter des 13. Jahrhunderts
… unterschied sich grundlegend vom heutigen Menschen. Er konnte sich nicht als eine Einheit von Körper, Seele und Geist erleben. Sein Körper schien ihm einer fremden, diabolischen Macht anzugehören. Als Individuum war er reduziert auf eine Seele zwischen zwei Abgründen: Auf der einen Seite war da die satanische physische Welt, und auf der anderen Seite stand die göttlich-geistige. Für den normalen Gläubigen gab es zur letzteren keinen unmittelbaren Zugang, denn die Kirche stellte für ihn das Göttliche in dieser Welt dar, sie war der Vermittler. Sie unterdrückte seine eigenen geistigen Vermögen und seine Intelligenz. Die so destabilisierte Seele schwankte zwischen „überspannter Sensitivität und gefährlicher Emotionalität“ und konnte von einem Moment auf den anderen von mitfühlender Barmherzigkeit zu einem grausamen Zorn übergehen. [4]
„Bevor sich eine Wandlung in der Welt vollziehen kann, muss sie erst in der menschlichen Seele vollzogen werden“ (Tolstoi)
Die Katharer übernahmen in dieser kritischen Zeit eine leitende Aufgabe in der spirituellen Evolution des Menschen. Sie erlebten die Wirksamkeit des Christus in ihrer eigenen Seele und sahen sich als Nachfolger der Apostel. Sie gingen davon aus, dass Christus niemals in einem physischen Leib erschienen war, sondern als Kraft in seinem göttlich-geistigen Wort. So erfuhren sie als frühe Vorläufer geistiger Freiheit die Macht eines freien und selbstständigen Denkens. Ihre Seelen übernahmen in Eigenautorität die Rolle des Vermittlers zwischen Körper und Geist. Die Katharer ermöglichten den Gläubigen das Consolamentum – das einzige Sakrament ihrer Kirche, die Taufe des Heiligen Geistes durch Handauflegung. [5] Das Consolamentum war ein Einweihungsritual in den Orden der Kirche und auch ein Ritual, das den Sterbenden von seinen Sünden erlösen und seine Seele zu einem „guten Ende“ führten sollte: der ursprünglichen Einheit von Seele und Geist.
Die Aussicht auf ein „gutes Ende“, einen das Seelenheil ermöglichenden Tod, war die größte Sehnsucht der Menschen in der damaligen Zeit.
„Wir sind im Mittelalter […], alle glauben an Gott. Alle wollen ihre Seele retten. Das Wort „Kultur“ bedeutet also, Zugang zu dem Glauben zu bekommen, der rettend wirkt.“ [6]
„Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit“
– so nannten die Bons Hommes ihre Lebenshaltung (Bons Hommes, Bon Homme, bzw Bonne Femme wurden die Ordensbrüder/schwestern genannt. Nur die Inquisitoren sprachen von Parfaits, um sie von den Gläubigen zu unterscheiden). Sie lebten in Lebens- und Arbeitsgemeinschaften von Frauen und von Männern als Nachfolger der Apostel, in Maisons (offenen Klöstern), befolgten strenge Ordensregeln und pflegten zugleich einen regen Austausch mit den Menschen des Ortes. Denn die Maisons befanden sich inmitten von Ortschaften, Castra“. [7] Alle Klassenunterschiede des feudalen Systems schienen aufgehoben: man war „unter Christen“.
Die Maisons bildeten die Basiszellen des Katharismus. Sie waren nicht nur Wohn- und Arbeitsstätten der Ordensmitglieder, dienten nicht nur der Vorbereitung des Noviziats in den Orden, sondern waren auch Orte der Erziehung von Kindern und Jugendlichen und boten notleidenden Menschen Kost, Herberge, Krankenpflege und Hospizbetreuung. An den öffentlichen religiösen Zeremonien der Katharer konnten alle Menschen teilnehmen; von Häresie war hier lange Zeit keine Rede.
„Die Präsenz des Bons Hommes inmitten der intimen Vernetzung der Gesellschaft ist einer der starken Merkmale ihrer Kirchen, Garant ihres großen Erfolges.“ [8]
Die Katharer (dieses Wort wurde im Mittelalter nicht benutzt, sondern erst in der Geschichtswissenschaft im 20.Jh. eingeführt) hatten keine Kirchen oder Kapellen aus Stein oder Holz. Ihre Kirche bestand – wie auch die urchristliche – aus der um einen gewählten Bischof versammelten Gemeinschaft. Sie sagten „Es ist das Herz des Menschen, das die wahre Kirche Gottes ist.[9]
„Die Präsenz der Bonnes Femmes trug mit dazu bei, dass die Religiosität der Katharer tief im pochenden Herzen der Gesellschaft verankert wurde“ (Anne Brenon)
Die aristokratischen Feudalherren von Okzitanien waren den Katharern und ihrer Kirche wohl gesonnen. In der Regel antiklerikal gestimmt, hatten sie bald erkannt, dass sie mit den Katharern ein gemeinsames Interesse teilten.
Es ging beiden um den Erhalt der religiösen und kulturellen Freiheit des Landes. L´Occitanie, das heutige Languedoc, war eines der seltenen Länder, dessen Grenzen nur durch seine Sprache, la langue d`oc – die Sprache von Okzitanien, gebildet wurden. Damit einher ging eine hohe Kultur der Sprache (Poesie) und der Musik sowie menschliche Offenheit und religiöse Toleranz.
Gewiss ging es den Feudalherren auch um den Erhalt des Reichtums des Landes und ihres eigenen Besitzes. Sie selbst traten in der Regel nicht der Religion der Katharer bei. Doch sie entwickelten sich unter dem Einfluss ihrer Frauen und Familien, die sich von dieser Religion angezogen fühlten und den „neuen“ Glauben annahmen, zu den mächtigsten Schutzherren der Katharer – obwohl diese dem feudalen System gegenüber kritisch eingestellt waren. Dieser Erfolg, der den Katharern die Macht einer starken einheitlichen Gruppe gab [10], ist sicherlich vor allem der transparenten, flexiblen, dezentralisierten Struktur ihrer Kirche der Katharer zu verdanken, in der auch Frauen gleichberechtigt wirken konnten.
(wird fortgesetzt in Teil 2)
[1] Anne Brenon, Les Cathares, Paris 2007, p. 272
[2] Ibid., p. 46
[3] Ibid., p. 27/28
[4] René Nelli, La vie quotidienne des cathares au XIII siècle, Paris1969, p. 15/16
[5] Anne Brenon, Dico des Cathares, Les Dicos essentiels. Milan, S. 61
[6] Anne Brenon, Cathares – La contre-enquête, Paris 2008, S.84
[7] Anne Brenon, Dico des Cathares, p. 51
[8] Anne Brenon, Les Cathares, p. 86
[9] Anne Brenon, Dico des Cathares, p. 81
[10] Anne Brenon, Les Cathares, S. 86