1923 erhält er die Möglichkeit, dauerhaft nach Paris zu emigrieren. Dort wird er mit der Illustration der Toten Seelen von Nikolai Gogol beauftragt.
Als er auf Einladung eine Serie von Radierungen zur Illustration der Fabeln von La Fontaine beginnt, führt dies zu einem Aufruhr in Frankreich.
Wie konnte ein jüdischer Künstler dieses klassische französische Buch illustrieren? Zunächst waren die Franzosen schockiert über die Art und Weise, wie Chagall die Fabeln darstellte. Er untergrub ihre Erziehungsideale und ließ die Moral aus seinem Werk verschwinden. Doch nach und nach eroberte seine märchenhafte Arbeitsweise das Publikum. Die Neuauflage weckt sogar wieder ein internationales Interesse an den Fabeln.
Die Illustrierte Bibel
Das nächste Projekt von Chagall ist die Veröffentlichung der illustrierten Bibel.
Chagall reist nach Palästina und Syrien, um sich inspirieren zu lassen. Als Außenseiter kehrt er zurück, ein Fremder in dieser Welt, der im jüdischen Land mit einer Kunst konfrontiert wird, die ihm nicht zusagt. In seinem Geburtsland Weißrussland nicht mehr willkommen, fühlte er sich in seinem neuen Vaterland nicht verstanden und wurde von den Nazis als „entarteter Künstler“ abgestempelt.
Dennoch setzte er sein Bibelprojekt fort. Es sollte sein Opus Magnum werden. Jeden Abend las ihm seine über alles geliebte Frau Bella Rosenfeld Fragmente aus der Bibel vor, und am nächsten Tag radierte Marc das Gehörte aus. So ging es jahrelang, tagein, tagaus. Es entstand ein Buchwerk von fast tausend Seiten, das kaum zu stemmen war. Obwohl Chagall die gesamte christliche Bildikonographie auf den Kopf stellte, rief die Veröffentlichung seiner Bibel viel Wohlwollen hervor.
Ob es daran lag, dass er wie ein autonomer Künstler arbeitete und sich von den klassischen biblischen Bildern überhaupt nicht beeindrucken ließ? Dem Kunsthistoriker Willem Meijer zufolge ließ er sich von biblischen Motiven inspirieren, um mit ihnen „seine eigene Wirklichkeit“ zu schaffen. So gab er dem Thema der Versöhnung nicht den üblichen biblischen Abschluss. Für ihn ging es um die Versöhnung der Gegensätze in dieser Welt: Mann und Frau, Mensch und Tier, Gut und Böse, Tod und Leben, Gott und Mensch, Religion A gegen Religion B und so weiter. Man könnte sagen, es war eine Versöhnung der scheinbar unüberbrückbaren Polarität innerhalb der Dialektik.
Betrachten wir dies einmal anhand des klassischen Gegensatzes zwischen Gut und Böse.
Chagall betrachtete das Böse nicht als Sünde, sondern als einen Sachverhalt. Das Gute und das Böse gehen beide von Gott aus; hier auf Erden müssen sie lernen, miteinander umzugehen. Der Mensch muss mit dem Bösen positiv umgehen. Es fordert ihn heraus, seine moralische Größe zu zeigen. Und das kommt dem manichäischen und bogomilischen Spruch sehr nahe:
Liebe das Böse.
Nicht umsonst hat Chagall seinen Bildern nie Titel gegeben. Oft wurden sie von anderen „erfunden“, unter Verwendung eines zwanghaft religiösen Sprachgebrauchs! Marc Chagall überließ es jedoch dem Betrachter, die Bilder zu interpretieren: Jeder durfte sich seine eigene Meinung bilden!
Er betrachtete das Christentum als eine der Ausdrucksformen einer einzigen Urreligion. Sein Ideal war es, einen Ort jenseits und über allen Religionen und Konfessionen zu schaffen. Das Chagall-Museum in Nizza hat diese Funktion erfüllt. Es verfügt über die Lebensphilosophie, die Chagall zugeschrieben wird:
Das Wort trennt, die Kirche schließt aus, aber das Bild eint.
(Fortsetzung folgt in Teil 3)