Agnisala: Besuch in einem Feuertempel – Vom Mysterium des Feuers

Agni, der Gott des Feuers, ist der älteste und am meisten verehrte Gott in Indien. Bei meinem Besuch im Agnisala, dem ihm geweihten Tempel in Patan, Nepal, erlebe ich eine besondere und kraftvolle Manifestation geistiger Intelligenz, die uns auf den Weg aus der zeiträumlichen Beschränkung heraus zur Rückkehr zum Vaterhaus, zum Nirvana ruft.

Agnisala: Besuch in einem Feuertempel – Vom Mysterium des Feuers

Die Veden gehören zu den sehr alten religiösen Überlieferungen der Menschheit. Sie entstammen der Religion der Arier, die etwa um 1500 v.Chr. nach Indien einwanderten. Wenn die Bibel an sehr vielen Stellen vom göttlichen Feuer spricht (z.B. im Hebräerbrief Kap. 12: „unser Gott ist ein verzehrendes Feuer“), so liegt darin eine Bewahrung und Weiterführung uralten Menschheitserbes. Heute, in unserer Zeit, wird vielfach von einer erneuten, starken Einwirkung göttlichen Feuers gesprochen. Hohe geistige Vibrationen senken sich aus dem Überzeitlichen herab ins Zeitliche. Sind wir empfänglich für sie? Können wir sie seelisch erleben, so wie es die Alten konnten? Sie unterschieden und personifizierten die Wirksamkeiten des Feuers.

Agni (Sanskrit m., अग्नि), der Gott des Feuers der (Rig-)Veda, ist der älteste und am meisten verehrte Gott in Indien. Er ist eine der drei großen vedischen Gottheiten: Agni, Vayu und Surya und auch alle drei (in einem), da er der dreifache Aspekt des Feuers ist: am Himmel als die Sonne (Surya), in der Atmosphäre oder Luft als Blitz (Vayu), auf der Erde als gewöhnliches Feuer. Agni gehörte zur frühen vedischen Trimurti [1], bevor Vishnu einen Ehrenplatz erhielt und ehe Brahma und Shiva als Gottheiten auftraten.[2]

Ich hörte von einem alten, unscheinbaren Tempel in der Altstadt von Patan, Nepal, dem Agnisala, in dem noch heute die vedischen Feueropfer zu Sonnenuntergang und Sonnenaufgang und zu verschiedenen Mondstellungen zelebriert werden, und ich beschloss, diesen Tempel zu suchen und, wenn möglich, an einem Ritual teilzunehmen.

Ich muss mich tief verneigen

Mein Weg vor Sonnenaufgang zum Agnisala führt mich durch die engen Gassen der früheren Königsstadt Patan. Der Weg scheint an einem über die Gasse gewachsenen Baum, dem Baruna Brikhyas[3] (Baruna Baum), zu enden. Ich muss mich tief verneigen, um unter dem Baum, der zum Areal des Agnisala gehört, durchzukommen, ebenso wie durch das niedrige Eingangstor, das zu einem einfachen, sauberen Innenhof führt. Der Baum soll nach der Überlieferung seit der Rigveda-Zeit (also seit mehr als 3000 Jahren) im Hof des Agnisala wachsen.

Nach dem gebückten Durchscheiten des Tores umfängt mich eine Atmosphäre der Ruhe und Serenität, die spürbar anders ist als das Getriebe in und um die anderen Tempel Nepals. Durch ein Fenster kann ich in den Innenraum des Agnisala sehen und im Rauch des glimmenden Feuers verschiedene Feuerstellen ausmachen, sowie einen jungen Priester, der auf dem Boden sitzt, ins Lesen/Murmeln alter Sanskritschriften vertieft. Er bereitet das Ritual der Anrufung Agnis zum Sonnenaufgang vor. Frauen (nur selten Männer) stellen auf einer Plattform gegenüber dem Gebäude ihre Opferteller zusammen. Sie enthalten alle auch bei anderen Tempeln in Nepal üblichen Opfergaben, wie Blumen, Reis, Räucherstäbchen, Gewürze und zudem ein kleines Bündel Holzstäbchen, eine Besonderheit der Agni-Opferung, die für das Entflammen des Agni-Feuers genutzt werden. Der Priester unterbricht das Lesen der Texte, nimmt die Opfergaben entgegen, segnet sie und gibt den Opferteller mit Prasad, geweihten Blumenblättern, die sich die Opfernden in die Haare stecken, zurück. Die Opfernden geben sich selbst aus einer bereitstehenden Schale ihr Ticka, den roten Punkt auf der Stirn, und verabschieden sich ohne Worte.

Ich erinnere mich an die Anrufung Agnis am Beginn der Rigveda: [4]

Dir, Agni, nahen wir Tag für Tag, du Dunkel-Erheller, mit Andacht, Huldigung darbringend.
Dem Walter der Opferhandlungen, dem Hüter des rechten Brauches, dem Leuchtenden, der im eigenen Haus heranwächst.
Sei du, Agni, uns zugänglich wie ein Vater dem Sohne! Sei mit uns zum Heile!

Agni verkörpert Licht und Wärme

Diese Anrufung Agnis zeigt seine Bedeutung in der Götterwelt der Veden und des Hinduismus: Agni, der Licht und Wärme verkörpert, ist in allen geschaffenen und ungeschaffenen Wesen vorhanden. Er ist die Uressenz des Universums und wird von allen Göttern und Menschen verehrt. Im mittelalterlichen Hinduismus wurde Agni meist zu Vishnu, und nur wenige besondere Agni-Opferstätten überlebten diese Zeit. Die Anrufung Agnis und Opferungen an ihn sind aber noch immer fester Bestandteil des Lebenszyklus der Hindus. Beginnend mit den Opferungen bei und nach der Geburt eines Kindes über solche bei verschiedenen Entwicklungsstufen bis zur Heirat und bei der Verbrennung (Agni!) der Leichen. Eine besondere Rolle spielt das Herdfeuer, das in jeder (traditionellen) Familie am Brennen gehalten wird. Die Opferungen zum Sonnenuntergang und Sonnenaufgang[5] sind ein tägliches Ritual in den Agni-Opferstätten und in vielen Hindufamilien. Im Sonnenuntergangsritual wird Agni angerufen und gebeten, die Sonne zu schützen auf ihrem (nicht sichtbaren) Gang durch die Finsternis der Nacht. Im Sonnenaufgangsritual wird Agni gedankt, dass die Sonne wieder die Welt erhellt, erwärmt und durchstrahlt. Neben diesem kosmischen Aspekt steht die Anbetung Agnis als Bote zwischen Menschen und Göttern, an den man sich mit persönlichen Bitten und Wünschen wenden kann.

Agni wirkt in allen Welten

Während ich über die Bedeutung und die Ursprünge von Agni nachdenke und noch in der Betrachtung über die Opferungen sowie den Tempel und den Innenhof verweile, versinke ich in der überirdischen Serenität des Raumes und des gemurmelten Opfers des Priesters. Das hell aufflammende Feuer auf dem Agni-Opferplatz bringt mich in die Realität zurück. Der Priester hat auf der quadratischen, erhöhten Feuerstelle die geopferten Holzstäbchen aufgeschichtet und an der Glut des „ewigen“ Feuers entzündet. Ich kann zwei gleichzeitig stattfindende Prozesse wahrnehmen und ihren Unterschied spüren: das unpersönliche Opfer und die Danksagung an Agni einerseits und die auf irdische Bedürfnisse der Opfernden ausgerichteten Puja-Rituale andererseits. Zwei junge Priester entzünden die Opferfeuer auf den zwei anderen Feuerstellen, während der Hauptpriester sich wieder vor das Agni geweihte Feuer setzt und das Ritual durch das Lesen der Sanskritgebete fortsetzt.

Meine Gedanken versuchen, die zwei Realitäten des Opfers bzw. der Verehrung von Agni als göttlich-geistiges Feuer (das unsichtbare, alles umfassende, jedoch nie voll erfassbare Agni) und die auf das irdische Leben und Streben ausgerichteten Pujas zu verstehen. Klar sehe ich in den Bewegtheiten des physischen Feuers unsere der Veränderung unterworfene Welt vor mir und spüre gleichzeitig in mir die unfassbare, unkennbare Größe Agnis, des geistigen Feuers des Königreichs, das nicht „von dieser Welt“ ist.

In Gedanken versunken, verlasse ich still den Hof des Agnisala. Draußen „in der Welt“ sehe ich eine Frau, am Boden kauernd mit einer Butterlampe in der Hand, ihr tägliches Morgenritual auf dem vor jedem nepalesischen Haus eingelassenen Opferstein zelebrieren. Meine Gedanken kreisen um Fragen über die Bedeutung und Stellung des Agnisala und seiner Rituale. Ist dieser Platz einer der alten und immer noch erhaltenen Feuertempel, von denen alle Religionen und Esoteriker sprechen? Stellt er in seinem spirituellen Aspekt eine „Himmelsleiter“ (wie bei Jakob) dar, oder ist es eine schöne, alte Tradition, die sich über die Jahrhunderte auf formalistische Rituale reduziert hat?

Meine Intuition sagt mir, dass es sich beim Agnisala um eine besondere und kraftvolle Manifestation geistiger Intelligenz handelt, die uns auf den Weg aus der zeiträumlichen Beschränkung heraus zur Rückkehr zum Vaterhaus, zum Nirvana, ruft bzw. rufen will. Ich sehe in einem Bild drei Kreise oder Spiralen, die aus dem Agnisala emporsteigen. Da ist zuerst die Opferung im eigenen Interesse, die Bitte um weltliche Güter, Gesundheit etc., die Agni durch den Rauch der Opferfeuer zu den Göttern tragen soll. Ein weiterer, engerer Kreis zeigt mir, wie die Opfernden Fragen nach dem Sinn und Ziel ihres Lebens und der Welt stellen. Agni wird gebeten, Antworten auf die großen Fragen der Menschheit zu geben. Auch diese Bitten und Fragen trägt der Rauch der Opferfeuer in das unermessliche Universum. Das Innerste meines Bildes, so scheint es mir, zeigt die Allgegenwart des Feuers in seinen unzählbaren Formen, das Allbewusstsein, verbunden mit allem Geschaffenen und Nichtgeschaffenen, Agni, den Gott des Feuers.

Die Einsenkung des Feuers

Über das Mysterium des Feuers lese ich bei Jan van Rijckenborgh:

 

Es gibt Unerkennbares und davon ausgehend Erkennbares Feuer. Das Unerkennbare Feuer ist der jungfräuliche Geist. Und das Erkennbare Feuer ist der Geist, der mit der astralen Substanz in Verbindung tritt. Jeder Schüler [auf dem geistigen Weg] kennt theoretisch den Weg zur Geisteinsenkung, den Pfad, um das Unerkennbare Feuer in Erkennbares Feuer umzusetzen. Die klassischen Rosenkreuzer nannten das die Kunst des Goldmachens. Die ursprünglichen Goldmacher waren die Brüder und Schwestern, die den Pfad des Geistes bewandelten, demzufolge sie das Goldene Feuer, die Goldene Flamme ins Dasein zu bringen wussten.

Feueranbetung war ursprünglich Anbetung des Geistes. Der Sonnenkult ist ein geistiger Kult. Man kann jedoch bei einem solchen Kult, bei der Anbetung des Geistes nicht stehenbleiben […]. Auf was es ankommt, ist die Feuerverwirklichung selbst, ist das Goldmachen selbst. […]

Als Menschheit stehen wir aufs Neue in der Phase der Ausgießung des Heiligen Geistes. Wiederum ist das Pfingstfeuer entzundet. […] Es bedeutet, zu erlernen, wie man mit der mächtigsten Kraft im Universum umgehen, mit ihr wirken und auf sie reagieren muss. […] Der Kontakt zwischen dem Geist und dem astralen Feld des Schülers verursacht eine Feuerflamme, ein ständig feurig loderndes Licht, als ein Atemfeld, als ein Lebensfeld. Der Kandidat ist dann ein Sohn, ein Kind des Feuers geworden. Er besitzt den Körper des Geistes. So wurde also der lebendige Seelenkörper in einem mühsamen Streben und Ringen auf dem Pfade aufgebaut; der geistige Körper aber ist wie ein Blitz entstanden.[6]

Mir wird deutlich: es gibt eine universelle Lehre über die Beziehung von Mensch und Gott. Sie offenbart sich, wenn wir den Weg in die Tiefe des eigenen Wesens gehen, in die Tiefe, in der das Menschsein angelegt ist.


[1] Trimurti (Sanskrit त्रिमूर्ति Trimūrti; „drei Formen“) ist ein Konzept des Hinduismus, das die Vereinigung der drei kosmischen Funktionen der Erschaffung, Erhaltung und Zerstörung bzw. Umformung durch die Verbildlichung der großen Götter Brahma als des Schöpfers, Vishnu als des Erhalters und Shiva als des Zerstörers darstellt. Die Trimurti symbolisiert den Ursprung aller göttlichen Wirkungen in einer Einheit, da die drei Aspekte sich gegenseitig bedingen und ergänzen; sie repräsentiert das formlose Brahman und drückt die schöpfenden, erhaltenden und zerstörenden Aspekte dieses höchsten Seienden aus (s. Wikipedia).

[2] H.P. Blavatsky: The Theosophical Glossary, Los Angeles 1918, S.17

[3] Lateinischer Name: Crataeva religiosa

[4] Ulrich Stiehl (Heidelberg) und Thomas Barth (Berlin), Rigveda in Sanskrit und Deutsch, 2006; www.sanskritweb.net/rigveda/rigveda.pdf; s. 2

[5] Eine ausführliche Beschreibung der Rituale findet sich in: Bodewitz H.W.; The daily Evening and Morning Offerings (Agnihorta), E.J. Brill, Leiden (Niederlande) 1976

[6] Jan van Rijckenborgh, Die Ägyptische Urgnosis, Dritter Teil, Haarlem 1964, S. 259 f., 264, 267

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Datum: Oktober 11, 2023
Autor: Horst Matthäus (Nepal)
Foto: yoga-AKumar auf Pixabay CCO

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