Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine redigierte Mitschrift eines Vortrages, der am 28.9.2019 bei einem Symposium der Stiftung Rosenkreuz in Bad Münder gehalten worden ist.
Goethe hat die Natur und ihre Erscheinungen in einer Stimmung religiöser Dankbarkeit betrachtet. Ein Erlebnis aus seiner Kindheit verdeutlicht dies: Als siebenjähriger Junge bewohnte Goethe das Giebelzimmer des Frankfurter Hauses. Aus dem Fenster, das nach Osten ging, konnte er über die Dächer der Stadt hinwegsehen. Er berichtet in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit davon, dass er früh morgens kurz vor Sonnenaufgang aufgestanden sei. An das Fenster hatte er ein pyramidenförmiges Notenpult gestellt, auf dem seine Naturaliensammlung angeordnet war – verschiedenste Fundstücke: Zapfen, Samen, Mineralien, Knochen usw., die die einzelnen Naturreiche repräsentieren. Zur Zeit des Sonnenaufgangs hat er mittels einer Lupe das Licht der Sonne eingefangen und eine Räucherkerze auf der Spitze des Notenpultes entzündet. Das war für ihn eine religiöse Handlung, eine Art Gottesdienst. Goethe hatte schon als Kind die Empfindung, dass die Natur einem göttlich-geistigen Schöpfungsgrund entstammt. Dieser eine Schöpfungsgrund bekundet sich für den Siebenjährigen im Licht der Sonne.
Ein ähnliches Erlebnis beschreibt Goethe nochmals als Achtzigjähriger in dem Gedicht Vermächtnis, das im Februar 1829 geschrieben worden ist:
Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!
Das Ewige regt sich fort in allem,
Am Sein erhalte dich beglückt.
Das Sein ist ewig; denn Gesetze
Bewahren die lebend´gen Schätze,
Aus welchen sich das All geschmückt.
Zwischen diesen beiden Erlebnissen des siebenjährigen Jungen und des achtzigjährigen Dichters, der ausspricht „am Sein erhalte dich beglückt“, liegt ein ganzes Menschenleben, in dem Goethe unentwegt künstlerisch und wissenschaftlich darum gerungen hat, dem von ihm empfundenen Schöpfungsgrund der Welt nahezutreten.
Erkenntniskritik
Ein solcher Blick auf die Welt ist allerdings nicht selbstverständlich. Im Gegenteil: das gewöhnliche Bewusstsein sieht die Dinge zunächst allein in ihrer raum-zeitlichen Begrenztheit. Es knüpft Begriffe daran, die nicht das Ewige in der Welt berühren, sondern allein der Lebensorientierung dienen. Es heißt in Goethes Aufsatz Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt:
Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in Bezug auf sich selbst. [1]
Dies sei die natürliche Art, die Welt anzusehen. Das menschliche Bewusstsein bezieht die Dinge der Welt nur auf sich selbst und lebt derart in einer Selbstbezogenheit der Vorstellungsbildung. Es ist in sich verfangen und kann das Sein der Welt nicht erreichen.
Goethe empfindet dies als Tragik und setzt sich damit in seinem Faust auseinander. Es heißt in dem berühmten Anfangsmonolog:
Dass ich erkenne, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau`alle Wirkenskraft und Samen,
Und tu`nicht mehr in Worten kramen.
Er kommt dann aber zu dem Schluss:
Und sehe, dass wir nichts wissen können
Das will mir schier das Herz verbrennen
…
Es möcht kein Hund so länger leben.
Kant: Gesetze und Erscheinungen existieren nur im Bezug zum Menschen
Dies ist das Erkenntnisproblem, mit dem Faust zu ringen hat. Er kann die Wirklichkeit, den Grund der Welt mittels seines Erkennens nicht erreichen. Dieses Problem bzw. diese Kritik am menschlichen Erkennen wurde zu Goethes Zeit philosophisch gültig von Kant formuliert:
Denn Gesetze existieren eben so wenig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, dem die Erscheinungen inhärieren, so fern es Verstand hat, als Erscheinungen nicht an sich existieren, sondern nur relativ auf dasselbe Wesen so fern es Sinne hat. [2]
Und dann heißt es weiter:
Allein Erscheinungen sind nur Vorstellungen von Dingen, die, nach dem, was sie an sich sein mögen, unerkannt da sind. Als bloße Vorstellungen aber stehen sie unter gar keinem Gesetz der Verknüpfung, als demjenigen, welches das verknüpfende Vermögen vorschreibt. [3]
Kant konstatiert damit die Subjektbedingtheit allen menschlichen Erkennens. Alle Erscheinungen, alle Gesetze, die das Erkennen objektiv zu begreifen glaubt, erweisen sich als relativ. Sie existieren lediglich entsprechend der eigenen subjektiven Konstitution. Kant spricht in diesem Zusammenhang von einer kopernikanischen Wende. Man müsste es besser als eine umgekehrte kopernikanische Wende bezeichnen. Denn so wie Kopernikus das geozentrische Weltbild in ein heliozentrisches umformte, so wandelt Kant das objektorientierte Erkennen in ein subjektorientiertes um.
Gewöhnlich geht man davon aus, dass sich das Erkennen an dem Inhalt der Objekte orientiert. Kant legt nun dar, dass sich die Objekte in die Bedingungen des Subjektes fügen. Dementsprechend ist das Erkennen nicht in der Lage, den Grund der Dinge, das Ding an sich – wie es Kant bezeichnet – zu erreichen. Kant formuliert diese Einsicht mit dem Anspruch der Bescheidenheit. Goethe sieht darin die Tragik des menschlichen Erkennens. Während Kant mit dieser Einsicht gut leben kann, lässt Goethe Faust sagen: „Es möcht´ kein Hund so länger leben.“ Dramatisch entwickelt Goethe diesen Gedanken nochmals in Fausts Begegnung mit dem Erdgeist. Auf Fausts Zuversicht, dass er den Dingen der Welt nahe kommen kann:
Geschäftiger Geist, wie nah fühl ich mich dir!
antwortet der Geist:
Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir.
Dies ist der Kern von Kants Erkenntniskritik: Das menschliche Erkennen begreift in jedem Objekt allein sich selbst und nicht das Wesen der Dinge, das ihm entzogen bleibt.
Dr. Jost Schieren studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte und ist seit 2008 Professor für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Waldorfpädagogik und Leiter des Fachbereichs Bildungswissenschaft an der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn. (https://de.wikipedia.org/wiki/Jost_Schieren)
[1] Goethe, Der Versuch als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Beck-Verlag, Hrsg. Erich Trunz. Bd. 13, S.10
[2] Kant, Kritik der reinen Vernunft. In: Werkausgabe. 12 Bde.. Hrsg. Wilhelm Weischedel. Bd. 3, S. 156
[3] Ebenda