In vielen Kulturen und Zeitepochen gibt es den Heldenmythos – Erzählungen von einem Helden, der beschließt, das Böse zu bekämpfen und die Freiheit zu erringen. Im angelsächsischen und germanischen Raum kennen wir die Sagen von König Artus, dem Ritter Parzival und die Mythen um Siegfried, der den Drachen tötet.
Eine eher neuzeitliche Erzählung, die das Heldenmotiv aufgreift, ist das Werk Der Herr der Ringe von J.R.R. Tolkien. Der Autor schildert darin das ergreifende und bemerkenswerte Ringen des Protagonisten Frodo für die Befreiung von Zwang, Macht und Gewalt, symbolisiert durch Mordor, den Ring der Macht und den Antagonisten Sauron. Im Gegensatz zu den zahlreichen dystopischen Szenarien unserer Zeit stellt Tolkien auf optimistische Weise einen Weg dar, die Dunkelheit und Unfreiheit für immer zu überwinden. Er lässt dabei innere Prinzipien und Aspekte des Menschen als handelnde Personen auf symbolische Art im Buch erscheinen. Wenn wir das Zeitlose und Sinnbildliche in der Geschichte sehen, wirken die Geschehnisse darin auf einmal sehr real und aktuell.
Heraus aus dem Auenland
Die Erzählung beginnt mit Frodo, der im Auenland lebt, das vom Volk der Hobbits bewohnt wird. Dieser Ort steht symbolisch für liebgewonnene Gewohnheiten und Anpassung an unsere Komfortzone, in der wir uns eingerichtet haben und sicher fühlen. Hobbits ist wortverwandt mit habits (engl.) = Gewohnheiten.
Frodo bekommt von seinem Onkel Bilbo einen goldenen Ring, der den weiteren Verlauf der Handlung bestimmen wird. Er symbolisiert die dunklen Kräfte der Verführung zu Machtwahn und Herrschsucht. Der Ring besitzt die Macht, alles Gute, Wahre und Schöne zu zerstören.
Ein Teil der Ringinschrift lautet:
Ein Ring, sie zu knechten – sie alle zu finden,
ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.
Im Besitz des einen Ringes der Macht, ist Frodo ausersehen zu einer bedeutenden und schwierigen Mission, denn wenn der Ring in die Hände des dunklen Herrschers Sauron fällt, wird dies zur Versklavung und zum Untergang ganz Mittelerdes führen. Frodo und seine Gefährten übernehmen die Aufgabe, den Ring zu vernichten. Sie verlassen das Auenland und begeben sich auf einen entbehrungsreichen Weg über Bruchtal, Lorien und Rohan nach Mordor, um am Ende den Ring im Feuer des Schicksalsbergs zu zerstören. Dabei wird der Ring für Frodo zu einer schweren Last werden. Er erlebt zusammen mit seinen Gefährten viele Gefahren und wird mehrfach schwer verletzt und dabei fast getötet. Die Versuchungen, die der Ring ausübt, treiben ihn in innere Konflikte.
Hier erkennen wir das Motiv des Opfers als Voraussetzung für Befreiung und Erfüllung. Neben dem Opfermotiv taucht in der Geschichte auch der Aspekt der Schuld auf. Der ehemalige König Isildur, einer der Vorfahren Aragorns (eines der Gefährten Frodos, später König von Gondor), hatte in der Vorzeit den Auftrag, den Ring zu vernichten. Doch er weigerte sich und erlag den Versuchungen der Macht. Später wird Isildur getötet und der Ring geht zunächst verloren, bis er in die Hände Smeagols übergeht, der damit in dunklen Höhlen lebt (später Gollum genannt) und er dann zu Bilbo und Frodo gelangt. Im weiteren Verlauf der Handlung bittet Aragorn als Nachfahre Isildurs die Geister der Toten, auf den Feldern des Pelennors gegen Sauron zu kämpfen, damit sie dadurch erlöst werden. Wir erkennen darin den Aspekt der Schuldtilgung und Schuldvergebung als Voraussetzung für die Verwandlung.
Frodo behält sein Ziel im Auge, erlebt schwere Entbehrungen und überwindet Widerstände. Sein wichtigster Weggefährte ist Sam. Er unterstützt Frodo und steht ihm immer zur Seite. Sam versinnbildlicht Mut, Treue und Zuversicht. Der Freiheitssucher sollte niemals seine Zuversicht auf ein gutes Ende verlieren, wie dunkel und bedrohlich die Situation auch sein mag. Ein weiteres Motiv zur positiven Verwandlung ist Mitleid und Erbarmen. Indem Gollum durch Frodo (und zuvor schon durch Bilbo) Mitleid widerfährt, kann er überleben und die Gefährten bis zum Schicksalsberg führen. Gollum trägt auf seine Weise zu einem unvorhergesehenen Ende des Ringes bei.
Lichte und dunkle Mächte
Für Tolkien geht es in seinem Werk auch um das Wesen des Guten und des Bösen. Die lichtvollen Kräfte (symbolisiert durch den Zauberer Gandalf, die Elben Galadriel und Elrond sowie den Adler Gwaihir) helfen, unterstützen und eröffnen ungeahnte Freiheitsperspektiven. Sie können Frodo die Mühsal des Weges allerdings nicht abnehmen. Beim Abschied der Gefährten von den Elben in Lothlorien überreicht Galadriel Frodo eine Phiole aus Licht. Sie schenkt dem Träger Mut und Zuversicht in Momenten höchster Not. Galadriel spricht zu Frodo: „Es (das Licht der Phiole) wird noch heller scheinen, wenn Nacht um dich ist. Möge es dir ein Licht sein an dunklen Orten, wenn alle anderen Lichter ausgehen.“
Die Elemente, die zur positiven Verwandlung führen, beschreibt Tolkien als:
– Zuversicht, Mut und Optimismus
– Hingabe, Opferbereitschaft und liebevolle Unterstützung
– Gnade, Mitleid, Schuldvergebung
– Zielstrebigkeit, Ausdauer, Selbstüberwindung
– Einheit
Die dunklen Mächte in Tolkiens Werk setzen an den persönlichen Schwächen an und wollen in Versuchung führen. Ein besonderes Kennzeichen des Ringes ist es, die Kräfte derjenigen, die ihn besitzen, zu verzerren und zu verstärken. Er bietet außerdem die Möglichkeit, im Verborgenen zu handeln. Der Ring (wenn er am Finger getragen wird) macht Frodo nicht nur unsichtbar, er isoliert ihn auch von der Gemeinschaft und macht ihn sichtbar für Saurons Auge sowie für die ihm dienenden Ringgeister. Tolkien beschreibt den Ring als ein magisches Artefakt, auf das der Wille und die Kraft seines Schöpfers übergegangen sind. Die Macht des Ringes symbolisiert eine Abspaltung vom Allumfassenden. Sauron ist zum Herrscher im Begrenzten geworden; abgetrennt von der Tiefe des eigenen Wesens, unterliegt er den täuschenden Elementen. Er isoliert einerseits, schafft aber andererseits schützende Lebensräume für alles, was in seinen Machtbereich Eingang findet. Die rigide Trennung vom Allumfassenden lässt Abgründiges entstehen.
Der Ring symbolisiert die Verführung durch einen bestimmten Freiheitsbegriff, dem eigenwilligen Wunsch entsprechend: „Ich kann im Verborgenen tun, was ich will“. Dieser Impuls suggeriert unendliche Möglichkeiten und führt vom Erleben der Einheit immer weiter in den Konflikt und in die Abspaltung von der ursprünglichen schöpferischen Quelle. Das geistig-seelische System des Menschen stellt sich um, wenn der Versuchung nachgegeben wird. Es entwickeln sich ein vom höheren Sein abgetrenntes Bewusstsein sowie die Illusion des Mangels, der Sorge und der Furcht. Daraus keimt der Wunsch nach Besitz, Macht und Kontrolle, um den Mangel zu beheben. Der Wunsch kollidiert mit den Bestrebungen der Anderen, wodurch Konflikt und Kampf entstehen. Daraus resultieren wiederum Schuld, Schuldprojektion („die Anderen tragen die Verantwortung“), Gesetze, Urteile und Bestrafungen. Auf diese Weise wird der Mensch schließlich in die totale Unwissenheit und in das Vergessen seines wahren Wesens geführt. Wie beim Domino-Effekt entwickelt sich eine Kettenreaktion – wenn der erste Stein fällt, dann fallen auch alle anderen Steine. Der erste Stein war der scheinbar harmlose Gedanke, tun zu können, was man will.
Der Zauber des Ringes ist stark. Auch ein Gefährte Frodos verfällt ihm: „Ah! Der Ring!“, sagte Boromir, und seine Augen leuchteten. „Der Ring! Ist es nicht ein seltsames Geschick, dass wir so viel Angst und Zweifel erdulden wegen eines so kleinen Dinges? So ein kleines Ding!“
(wird fortgesetzt in Teil 2)