Die Heilsamkeit des innerlichen Sterbens

Den Prozess der Heilung begleiten wir am Besten dadurch, dass wir das aktive Verlangen nach Heilung sterben lassen. Dies mag ein provokativer Ausspruch sein. Doch versuchen wir herauszufinden, ob er wahr ist oder nicht, indem wir die Psychologie der Heilung betrachten.

Die Heilsamkeit des innerlichen Sterbens

 

Wenn wir sehr krank sind, kann ein starkes Verlangen nach Heilung und Genesung entstehen. Auch die Kostbarkeit des Lebendigseins kann uns bei einer Krankheit mit einem Schlag erneut bewusst werden. Oft wünschen wir uns dann als Reaktion darauf nichts sehnlicher als einen vergangenen Zustand der Gesundheit.

Warum ist es heilsam, das aktive Verlangen nach Heilung sterben zu lassen? Nun, die Frage, die wir voran stellen müssen, ist, ob körperliche oder seelische Heilung durch den menschlichen Willen verursacht oder bewirkt wird – oder ob uns ein angestrengter Wunsch nach Genesung nicht unaufmerksam für die subtile Bewegung der Heilung macht. Bedarf es unserer Gedanken- und Willensaktivität, um Heilung zu bewirken? Was ist der Ursprung der ganzheitlichen Bewegung von Heilung, von Gleichgewicht und der Wiederherstellung von Harmonie?

Zunächst ist da im Bereich des Körpers oder der Seele (Psyche) ein Ungleichgewicht, eine Störung im Ordnungszustand des Körper-Seele-Systems – eine Krankheit. Äußere Ursachen für eine solche Störung können schleichende oder plötzliche Vergiftungen des Körpers sein oder Verletzungen durch Unfälle. Innerliche Ursachen können psychisch bedingt sein, verursacht durch die aktuelle Lebenssituation oder durch vergangene Ereignisse, welche sich im Heute bis in den physischen Körper hinein als Krankheit ausdrücken. Aber auch scheinbar äußerliche Ursachen – wie Unfälle – können unbewusst durch psychische Konstellationen provoziert worden sein.

Wie ist unsere Beziehung zu der eingetretenen Störung?

Wir gehen nun davon aus, dass eine Störung eingetreten ist. Was ist unsere innere Beziehung zu dieser Störung? Hier gibt es eigentlich nur drei Möglichkeiten.

Eine der Möglichkeiten ist, dass wir im tiefsten Wesen Angst vor der Krankheit haben. Das kann dazu führen, dass wir sie verurteilen, sie ablehnen und verzweifelt gedanklich nach Gründen und Erklärungen für sie suchen. Dann stellt sich das Verlangen nach Heilung ein oder die Sehnsucht nach der verlorenen Gesundheit. Doch all diese Äußerungen sind nur eine bewusstseinsmäßige Entfernung, ein Widerstand, gegen die körperlich-energetische Tatsache der Krankheit.

Eine zweite Möglichkeit ist, dass wir der Krankheit gleichgültig gegenüberstehen, sie ignorieren, sie leugnen oder kleinreden oder verdrängen. Auch das ist eine Form des Widerstandes gegen die körperlich-energetische Tatsache der Krankheit. Bei leichten Krankheiten kann dies aber durchaus dazu führen, dass die Krankheit wieder verschwindet.

Eine dritte Möglichkeit ist, dass wir der Krankheit, so wie jedem anderen Aspekt in uns, in reinem Gewahrsein begegnen. Das heißt, dass wir in gleichmütiger Liebe aufmerksam für die Impulse des Körpers und der Psyche sind, ohne der Krankheit selbst eine Richtung geben zu wollen. Ein solches Gewahrsein ist – da es unvoreingenommen ist – frei von dem Verlangen nach Heilung. Ein solches Gewahrsein erkennt aber urteilslos, wenn ein solcher Wunsch im Denken und Wollen aufsteigt, sich formuliert und aktiv wird. 

Woher kommt Heilung?

Heilung steigt im Individuum aus dem dahinter wirkenden, alles durchdringenden Feld der universellen Ordnung und Liebe auf. Es bedarf nicht unseres Wunsches nach Heilung, damit sich Heilung vollzieht; es bedarf vielmehr unserer Widerstandslosigkeit gegen diese unpersönliche, dynamische Ordnung aus der Ganzheit.

Um immer wieder neu zu erkennen, was Widerstandslosigkeit ist, bedarf es eines einfachen Geistes, der in Einsicht nichts weiter tut, als sich der gesamten Bewegung dessen, was ist, gewahr zu werden. In diesem Zustand vollziehen sich nicht nur die inneren Heilungsprozesse ungestört, sondern kann sich auch das Unbewusste ins Gewahrsein entleeren und intuitives Verstehen sowie Impulse, die mit den äußeren Ursachen von Krankheit in Verbindung stehen, können sich mitteilen. Daraus erschließt sich intelligentes Handeln.

Ein solches urteilsloses Gewahrsein bedeutet, die Deutungshoheit der persönlichen Interpretation sterben zu lassen. Es bedeutet für das Ich, das jede Wahrnehmung vereinnahmt, zu sterben, indem es sich dem reinen, unvoreingenommenen Gewahrsein überlässt. Denn es ist das Ich (das Ego), das um die einfache Tatsache der Krankheit herum den Wunsch, die Idee, das Bild von Heilung erschafft; ein Bild, das in sich keine Substanz und Wahrheit hat. In diesem Verlangen wird das Bewusstsein unempfänglich für die Tatsache, dass schon beim ersten Einsetzen von Störung die Bewegung der Heilung eingesetzt hat.

Sich dem Gewahrsein überlassen

Einfaches Gewahrsein bedeutet also nicht „Ich nehme wahr“. Es bedeutet, ich überlasse mich dem Gewahrsein. Da ist Gewahrsein der Angst. Da ist Gewahrsein der Gleichgültigkeit. Da ist Gewahrsein für die Reaktion aus Angst, aus welcher der Wunsch nach Heilung entsteht. Da ist Gewahrsein für Verwirrung. Da ist Gewahrsein für Orientierungslosigkeit. Da ist Gewahrsein für das Verlangen zu wissen. Da ist Gewahrsein für das Verlangen nach Wahrheit. Indem es sich diesem Gewahrsein überlässt, endet das persönliche Ich, das die ich-losen Impuls zur Heilung stets für sich vereinnahmt. Die Wahrheit ist, dass diese Ich-losen Impulse ihre eigene Manifestationskraft tragen und ihre eigene Dynamik entfalten, frei vom Ich, getragen von Ganzheit. Die Wahrheit ist auch, dass diese Impulse immer wieder durch das Ich vereinnahmt und umgelenkt werden und daher nicht Frucht tragen können.

Das Geheimnis des seelischen Aspektes von Heilung ist daher das Gleiche wie das der innerlichen spirituellen Befreiung: die vollkommene Übergabe des Ich-Willens und die sich daraus entfaltende Empfänglichkeit und Durchlässigkeit des menschlichen Geistes für heilige Ordnung.

Ramana Maharshi drückt dies so aus: „Der andere Weg ist, das Ego zu töten, indem man sich völlig dem Herrn unterwirft, seine Hilflosigkeit erkennt und immerzu sagt: ‚Nicht ich, sondern Du, oh Herr!’, jeden Gedanken an ‚ich’ und ‚mein’ aufgibt und es völlig dem Herrn überlässt, was er mit einem tun mag. Die Hingabe ist nicht vollständig, solange der Verehrer dieses und jenes von dem Herrn will. Wahre Hingabe ist die Gottesliebe um der Liebe willen und um nichts anderes, nicht einmal, um Erlösung zu erlangen.“ [i]

Das Gewahrsein der Emotionen

Zu guter Letzt wollen wir noch konkret auf die innerlichen Verletzungen und „Krankheiten“ der Seele eingehen.  Der gewöhnliche Verstand glaubt, dass er sich einer Ursache für diese disharmonischen, emotionalen Zustände bewusst werden muss, damit sie sich auflösen können. Doch das ist nicht wirklich wahr. Jede vermeintliche Ursache, die sich der Verstand zurechtlegt, ist nur die Folge einer anderen Ursache. Der Glaube, man verstehe das Problem, indem man eine der Ursachen benennt, kommt aus dem Ich, das eine schnelle und einfache Erklärung will, um Ruhe zu finden.

Das Ende emotionaler Disharmonie liegt nicht im Finden einer vermeintlichen äußeren Ursache oder Erklärung. Es liegt in dem Gewahrsein der Emotion selbst, das weder will, dass die Emotion verschwindet, noch, dass sie bleibt. Ein solches Gewahrsein der Emotion ist ein Schauen mit den Augen der Ewigkeit statt mit den Augen der Erfahrung oder des Wissens und damit der Zeit. Wir wollen kurz auf verschiedene Ebenen eingehen, um das klarer zu machen.

Der gewöhnliche Verstand ist sich der ihn bewegenden Emotion nur indirekt über den Inhalt seines Denkens bewusst. Er denkt zum Beispiel an vergangene, eventuell einschneidende Ereignisse, die dann scheinbar eine gewisse Emotion in ihm stimulieren, die aber latent immer da war. Dann gibt es eine Ebene, die sich der Emotion bewusst wird, diese aber sogleich durch das Denken erklären und einordnen will. Dabei ist jede Erklärung ein Ausdruck des Zeitlichen. Doch dann gibt es auch eine Ebene in uns, die nur die Qualität der Emotion sieht. Sie schaut die Qualität der Kraft der Emotion, frei von Gedanken, frei von Assoziationen mit Ereignissen und Erinnerungen der Vergangenheit. Da dieses Schauen frei von der Vergangenheit ist und frei von der Erwartung einer Zukunft, ist es frei von Zeit. Es ist ein Schauen aus der Ganzheit im Jetzt. In diesem Schauen findet eine Entleerung des bis dahin Unterbewussten statt. Denn es gibt keinen Widerstand mehr, welcher sich gegen diese natürliche, heilsame Entleerung des Unterbewussten stemmen würde. Wenn dieser Prozess sich vollzieht, kann er mit einer vollkommenen Verwandlung alles dessen, „was ist“, einhergehen.

Die alles durchdringende Ordnung und Harmonie

Die Tatsache körperlicher und seelischer Heilung ist ein Beweis für das Prinzip einer unpersönlichen, alles durchdringenden Ordnung und Harmonie. Denn Heilung ist die Re-Manifestation dieser Ordnung und Harmonie in einem Teil der Ganzheit. Die Tatsache der Krankheit ist hingegen ein Beweis nicht für die Möglichkeit der Störung des alles durchdringenden Feldes heiliger Ordnung und Harmonie, sondern für die Möglichkeit der Trennung von diesem Feld auf einer gewissen Ebene. Hier findet das hermetische Prinzip seine Anwendung: Wie im Großen, so im Kleinen. Wie oben, so unten. Denn auch der kollektive Zustand der Menschheit gleicht dem eines seelisch Kranken.

Innerliches Sterben im Sinne des Sterbens der Vergangenheit nach, ist das Sterben des Widerstandes gegen die pure Lebendigkeit des ewigen Jetzt. Es ist das Sterben des Widerstandes gegen die Re-Manifestation der universellen, alles durchdringenden Ordnung und Harmonie. Und ein dynamischer Aspekt dieser universellen Ordnung ist unter anderem Heilung.


[i]zitiert in Devaraja Mudaliar: Tagebuch der Gespräche mit Ramana Maharshi

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Datum: Juli 13, 2020
Autor: K.S. (Germany)

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