Es könnte sein, dass ich im Mittelpunkt eines groß angelegten Experimentes stehe. Ich stelle mir eine Art Labor vor, in dem ich mit einer großartigen Apparatur verbunden bin.
Diese Anlage, vermute ich, spiegelt alles, was ich wahrzunehmen glaube, direkt in mein Gehirn. In Wirklichkeit existiert nichts davon. Mein Leben, das, was ich für mein Leben halte, ist eine Art Test, ein Film oder eine superrealistische 3D-Animation zum Mitspielen.
Ich denke, es wird Zeit, dass ich freigelassen werde.
Das Kind, das wir waren, hat vieles von dem gewusst, was wir dann erst noch zu leben hatten. Während in den letzten Jahren die Simulationstheorie immer bekannter wurde und sich zu einem populären Konzept in der K.I.-Szene entwickelte, wurde mir allmählich klar, wie vertraut mir diese Ideen sind. Ein erster Gedanke, ein erstes Gefühl war: Diese Welt ist nicht die richtige. Das Kind, dessen Verbindung mit dieser Welt erst noch entstehen musste, dessen Bindung an diese Welt mit den Fesseln der Emotion und des Wünschens erst noch neu geknüpft wurde, wusste am Anfang genau, dass es hier nicht zuhause ist. Fremd zu sein war ein selbstverständliches Faktum. Und dann stellte sich unweigerlich die Frage nach der Realität hinter der Illusion, nach der Heimat hinter der Fremde. Im Herzen war die Sehnsucht, aber was stellte der Verstand damit an?
Die folgende Miniatur stammt aus dem Jahr 2005, warum sie aufgeschrieben wurde, ist unklar.
Den Text habe ich aus einer alten Datei extrahiert, in einem Programm erstellt, das es längst nicht mehr gibt. Zwischen seitenweise unverständlichem Code, Reihen von Sonderzeichen und Zahlen fanden sich Satzfragmente, die, zusammengefügt, ein fernes, selbst fremd anmutendes Innenbild des Kindes ergeben, das ich einmal gewesen war. Doch zwischen der Angst und der Einsamkeit lese ich immer noch eine unverzagte Sehnsucht nach dem Ausweg, den fraglosen Wunsch nach Vollkommenheit und Freiheit. Es ist das Lebensthema, das sich erst erfüllt, wenn es seinerseits überwunden ist.
Ich bin ein Fremder
Ich habe ein eigenes Zimmer. Das ist gut. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn ich kein eigenes Zimmer hätte. Der einzige Ort, wo nur Dinge sind, die mich interessieren, ist mein Zimmer. Nur in diesem Zimmer riecht es nicht so, wie es sonst überall riecht, hier.
Was die Eltern bei den Nachbarn wollen, verstehe ich nicht. Die müssen doch alle merken, dass sie nichts miteinander zu tun haben. Aber vielleicht gibt es irgendwas aus der Vergangenheit, das die Eltern ausgraben und den Nachbarn zeigen, damit die denken, sie wären so. Sie sind aber nicht so. Ich weiß das. Sie sind nicht normal. Ich bin überzeugt, niemand kann die normal finden. Was normal ist, und wie die Eltern eigentlich sind, wenn ich sie nicht sehe, das weiß ich nicht.
Es ist schön, wenn sie weg sind.
Die Bettdecke ist grün und orange. Der Schlafanzug ist innen rau, das gefällt mir. Wenn es nicht mitten in der Woche wäre, wäre heute ein guter Tag für den Aufbau. Der Aufbau macht das Bett zur Kommandozentrale. Seit einiger Zeit hole ich mir für den Aufbau noch den schwarzen Digitalwecker. Futuristisch. Natürlich weiß ich, dass nur ich eine Kommandobrücke sehe, wenn ich den Aufbau anschaue. Zwei Stühle, ein paar Bücher, eine raffiniert darüber gelegte, gefaltete und geklemmte Tagesdecke aus braunem Kord und ein steinaltes Siemens-Radio sehen nur für mich aus wie eine Kommandobrücke.
Mark Brandis ist toll. Hier ist es wie mit dem Aufbau. Ich weiß, dass nur ich einen Blick in die wirkliche Zukunft sehe, wenn ich Mark Brandis lese. Die Titelbilder sind total unrealistisch. So werden Raumschiffe nie aussehen. Wahrscheinlich weiß der Autor nicht mal selbst, wie die Zukunft aussieht. Aber ich weiß es. Was mich interessiert, das sind die Reisen, die Starts, die Landungen und auch, das muss ich zugeben, die Raumschlachten. Das Blöde ist, dass die Angst leichter kommt, wenn man Mark Brandis gelesen hat.
Sobald ich das Licht aus mache, kommt das Schwarz. Erst ist es einfach nur Dunkel. Aber dann reiße ich im Dunkeln die Augen weit auf, um etwas von dem zu sehen, was eben, bei Licht noch, das Zimmer war. Und damit habe ich das Dunkel vor mir. Es sieht aus, als gösse jemand reines Schwarz von den Rändern des Blickfeldes her ins Bild. Es wird immer dunkler, die Dunkelheit bewegt sich, sie kriecht oder fließt auf mich zu, und was weiß ich, was das ist. Vor allem muss das doch irgendwann mal aufhören, dunkler zu werden. Es kann doch nicht immer und immer dunkler werden. Irgendwann ist einfach alles Licht aufgebraucht, und dann kann es nicht mehr dunkler werden. Wenn ich zwischendrin immer die Augen zu mache, werde ich natürlich nie dahinter kommen. Nachdem ich die Augen zu und dann wieder auf gemacht habe ist das Dunkel etwas weniger dunkel. Aber sobald ich wieder etwas sehe, kommt das Schwarz zurück, von den Rändern des Blickfeldes, und deckt alles zu, es begräbt mich unter sich. Das Dunkel hat nichts gegen mich. Es ist einfach da, und wo das Dunkel hinfließt, da kann ich nicht sein. Es wird mich erreichen, vielleicht nicht heute Abend, aber eines Tages wird es mich erreichen und ich werde darin verloren gehen und genauso dunkel sein. Das bin dann nicht mehr ich. Ich höre dann auf. Das Dunkel hat mich aufgefressen.
Aber warum geschieht dann nie etwas? Immer, wenn ich Angst bekomme, stürzt sich das Dunkel über mich, so lang langsam und unpersönlich, wie es eben sein kann, damit niemand etwas merkt. Ich weiß, dass es meine Angst ist, die dem Dunkel Macht über mich gibt. Davor habe ich Angst. Bisher scheint die Angst nie so groß geworden zu sein, dass ich verschwinde. Vielleicht geht das gar nicht? Was will das Dunkel dann von mir? Was hat es von meiner Angst? Wenn es mir sowieso nichts tun kann, warum droht es mir dann? Oder ist es nur meine Angst, die mich fühlen lässt, dass das Dunkel mir droht? Wovor habe ich dann Angst?
Die Angst zu überwinden bedeutet, nur das wahrzunehmen, was ich spüren kann. Sehen kann ich nur das Dunkel. Bei dem, was ich spüre, weiß ich, dass es sich noch nicht verändert hat im Dunkel. Möglich, dass mein Bett im leeren Raum schlingert – Laken, Decke, Schlafanzug und ich selbst, wir sind noch unverändert, echt, so wie wir waren, ehe das Dunkel hereinbrach. Was immer draußen ist, ich bin hier und weiß das. Wenn ich mich nicht bewege, wenn ich verschwinde im All des Dunkels, ohne mir selbst verloren zu gehen, dann kann nichts passieren. Und das reicht dann meistens, um einzuschlafen. Morgens weiß ich das, denn um aufzuwachen, muss ich geschlafen haben.
Die Bushaltestelle erreiche ich schwer atmend. Ich sehe aufs Handgelenk, wo auch heute Morgen wieder nicht die Uhr prangt. Die Uhr scheint das größte Problem zu sein. Man könnte eine Statistik machen: Fünf Schultage hat die Woche, die Uhr vergesse ich an mindestens drei davon. Was kann man sonst noch falsch machen?
Vor ein paar Tagen muss ich in Hausschuhen an dieser Bushaltestelle gestanden sein. Ich blicke, ohne den Kopf zu senken, kontrollierend an mir herab und entscheide, dass das, was ich da sehe, auch vom Rest der Welt als angemessene Fußbekleidung eines 12jährigen auf dem Weg zur Schule betrachtet wird. Alles klar. Der Atem geht jetzt auch ruhiger. Aber der Bus kommt nicht.
Ich versuche, mich zu erinnern: Das Bild der entsetzlich peinlichen, alten Hausschuhe im frischen Schnee ist deutlich. Also muss diese Geschichte länger her sein. Denn es ist Sommer. Ein verregneter Sommer zwar, aber geschneit hat es schon seit Monaten nicht mehr. Vielleicht habe ich das mit den Hausschuhen auch nur geträumt. Aber wann? War da Winter? Seltsam. Und wo bleibt eigentlich dieser Bus?
Wenn ich an Träume denke, dann gibt es vieles, woran ich mich gerne nicht erinnern will. Gestern oder vorgestern aber, da war es, dass ich mit einem völlig einmaligen Gefühl aufgewacht bin: Welche Bilder dieses Gefühl hervorgerufen haben, weiß ich nicht.
Aber es war unendlich süß und wunderbar, wie die Erinnerung daran, bedingungslos lieb gehabt zu werden, mehr als ich es je in Wirklichkeit erfahren habe. Nach dem Aufwachen wusste ich, dass ich ein Fremder bin, voll mit einem fremden Glück. Das Gefühl der Geborgenheit, mit dem ich beschenkt worden war, blieb noch für Stunden bei mir, und so kam es, dass ich beim Gedanken an diese mir unbekannte Heimat, die ich im Schlaf wohl gesehen haben musste, mitten in der Mathestunde plötzlich lächeln musste. Die Frage, auf die ich sowieso keine Antwort wusste, hatte ich gar nicht gehört.
Es kommt nicht nur kein Bus. Es wartet außer mir niemand an dieser Haltestelle. Sonst ist das anders. Was ist hier eigentlich los?
Im Grunde wundert mich gar nichts mehr. Denn ich habe eine Theorie. Ich spreche nicht gerne über sie, und ich weiß, dass jeder sie lächerlich finden wird. Aber vielleicht gibt es doch jemanden, der dieselbe Theorie mit mir teilt. Es kann ein Geheimnis bleiben, wer das ist. Ich muss es nicht wissen. Ohnehin könnte nur einer von uns Recht haben
Der Ausgangspunkt dieser Theorie ist: Es gibt keinen Beweis, dass das, was ich wahrnehme, wirkliche Wirklichkeit ist. Niemand kann aus seiner Haut, und so weiß keiner, ob er nicht der Einzige ist, den es wirklich gibt – und ob nicht alles, was er erlebt, ein Trugbild, ein Traum oder eine Täuschung ist. Es könnte doch sein, dass ich – oder besser: der Teil von mir, der wahrnimmt – im Mittelpunkt eines groß angelegten Experimentes stehe. Ich stelle mir da eine Art Labor vor, wie ich es aus meinen Büchern kenne. Ich, oder das, was ich eigentlich bin, bin durch eine Unzahl von Drähten und Kabeln mit einer großartigen Apparatur verbunden, die wir hier als Computer bezeichnen würden. Diese Anlage, vermute ich, spiegelt alles, was ich wahrzunehmen glaube, direkt in mein Gehirn. In Wirklichkeit existiert nichts davon. Mein Leben, das, was ich für mein Leben halte, ist eine Art Test, ein Film oder eine superrealistische 3D-Animation zum Mitspielen. Was spricht dagegen? Die Illusion ist perfekt. Das heißt, manchmal ist sie es eben nicht! Manchmal fährt in wenigen Minuten dreimal dasselbe blaue Auto in dieselbe Richtung vorbei. (Ja, ich habe mir sogar das Kennzeichen gemerkt.) Manchmal liegen die Dinge tatsächlich nicht da, wo ich sie hingelegt habe – und tauchen zwei Tage später an eben dieser Stelle wieder auf. Manchmal spielen zwei Fremde die Rollen meiner Eltern …
Will man mich auf die Probe stellen? Wartet man darauf, dass ich es merke? Wie und wem soll ich sagen, dass ich Bescheid weiß? „Hilfe“, denke ich zur Probe, so laut ich kann, „lasst mich hier raus …“. Und ich meine es vielleicht auch so.
Im leeren Bus, der schließlich doch noch kommt, setze ich mich in die letzte Reihe. Das Schwingen und Rütteln hilft mir, mich zu spüren. Dass ich eine Stunde zu früh dran bin und mein Sportzeug zuhause der Uhr Gesellschaft leistet, das ist nicht mehr zu ändern. Und auf den grausamen Tag wird eine schwarze Nacht folgen. Aber ich werde geduldig durchhalten, bis das Experiment beendet ist. Es wird nun Zeit, dass ihr mich frei lasst.