Wer bin ich?

Mein Antlitz im Spiegel verrät es mir nicht

Wer bin ich?

Wer bin ich? Mein Antlitz im Spiegel verrät es mir nicht. Bin ich mir vertraut – oder habe ich mich nur an diesen Anblick gewöhnt? Fotos von mir als junges Mädchen. Darauf erkenne ich mich nicht. Ich weiß nur, dass ich so wohl einmal ausgesehen habe. Im Moment blicke ich um mich herum in asiatische Gesichter. Dann spiegelt sich mein Äußeres in einer Fensterscheibe: Ich sehe eine weiße Frau mit hellem Haar und blauen Augen. Bin ich das? Wer bin ich?

Selten wurde dem Körper so gehuldigt wie in unseren Zeiten. Dabei brauchen wir ihn gar nicht mehr so nötig wie früher. Jedenfalls nicht, um unsere Existenz zu sichern. Er ist in dieser Hinsicht oft fast überflüssig geworden. Der Körper pflügt kein Feld mehr um, bewegt keine schweren Lasten, ist nicht einmal für die Fortpflanzung unabdingbar. Doch trotz dieser Bedeutungslosigkeit beten wir ihn an. Fitness, Ernährung, Wellness, Mode, Style. Kaum ein Tag, ohne dass wir etwas für unseren Körper tun.

Denn wir verfügen nur über eine einzige echte Verbindung mit der Außenwelt: unseren Körper. Er ist der Link, das Relais, von dem aus wir mit anderen in Kontakt treten können. Wir kümmern uns um ihn, wollen unsere Persönlichkeit ausdrücken. Von der Haarfarbe über die Figur bis zu den Socken. Schau mich an, was ich aus mir gemacht habe. Schau mich an, wer ich bin. Wir brauchen diesen Körper, um anderen zu begegnen. Dafür machen wir ihn – schön.

Denn in unserem Bewusstsein sind wir allein, wissen nicht ohne Weiteres, was ein anderer wirklich fühlt oder denkt. Im tiefsten Innern bin ich nur Ich. Da sind die Gefühle, die sich tummeln. Die Gedanken, die umherschwirren. Wenn es eine Seele gibt, müsste sie da irgendwo wohnen. Es scheint dort drinnen wenig aufgeräumt zu sein. Beim Sortieren dieses Durcheinanders schälen sich drei Instanzen an die Oberfläche, die Ich zu sein scheinen – aber die selten in Verbindung miteinander stehen. Dabei ist deren Einheit zu suchen recht populär: Körper, Seele, Geist.

Um den Körper kümmern wir uns – um Nahrung, Muskeln, Haut. Aber die Seele – was ist sie nur? In den Augen soll sich ihr Ausdruck widerspiegeln, doch aus was sich die Seele zusammensetzt, ist höchst diskussionswürdig. Es gibt etliche Beschreibungen – mal sind es feinstoffliche Substanzen, mal ein Energiefeld, dann wieder überirdische Kräfte. Jeder hat seine eigene Definition. Die Seele scheint etwas zu sein, das unsere Gefühle, unser Gemüt, unsere Psyche umschreibt. Und dennoch erscheint sie wandelbar, formbar wie unser Körper. Das Training der Seele wird heute zelebriert in Achtsamkeits-Seminaren, in Schweige-Retreats oder im Yoga-Studio. Dort kümmern wir uns um sie – je nachdem, ob wir Zeit dafür haben.

Und der Geist? Da wird es noch verwirrender. Im Englischen gibt es die Unterscheidung zwischen „mind“ und „spirit“. Den Verstand und den Geist. Bleiben wir beim Verstand, dann haben wir  zumindest eine mentale Ebene. Mit Hilfe des Gehirns wird gedacht, reflektiert und werden Ideen geboren. Es gibt eine Speicherkapazität für unsere Erfahrungen und Vorstellungen. Dort entsteht Bewusstsein. Wir füttern unser Gehirn mit Wissen und versuchen zu verstehen, zu sortieren. Wir besuchen Schulen, Universitäten, bilden uns fort und verbringen Zeit auf Seminaren. Kopfarbeit ist das, was uns heute ausmacht. Damit verdienen die meisten ihr Geld in unserer Informationsgesellschaft. Der Geist indes nimmt sich anders aus. Er scheint vielleicht mehr von außen zu kommen, als dem inneren Chaos des Ichs zu entspringen, was ich jetzt erlebe. Von ganz woanders.

Würde man den Menschen als ein Haus zeichnen, könnte man vielleicht das Erdgeschoss als den Körper, das erste Stockwerk als die Seele und das zweite Stockwerk als den Verstand ansehen. Das Haus hätte die ungewöhnlichsten Formen. Manchmal wäre es unten schmal und oben riesengroß – manchmal unten breit und oben winzig klein. Bei dem einen gibt es Treppen, die die Stockwerke verbinden – bei dem anderen wurden sie vergessen oder sind eingestürzt. Einer hat sein Haus so gut errichtet, wie er konnte – und lässt andere darin wohnen. Ein weiterer hat das Haus ebenmäßig erstellt  und weiß es nicht mit Inhalt zu füllen.

Hat mein Haus wohlgeformte, harmonische Proportionen – und wer wohnt darin?

Ich stelle mir nun vor, dass ich nach und nach die Türen des Hauses öffne: die Türen des Verstandes, der Seele, des Körpers. Eine große Weite, „frische Luft“ kommt hinein – Geistiges, Geist.

Wer bin Ich? Ich schaue mich im Spiegel an. Bin ich der trainierte Körper, die bekümmerte Seele, meine Gedankenwelt? Oder doch auch ein wenig Geist, vorübergehender Bewohner meines Hauses? Oder bin ich nur ein Anblick, an den ich mich gewöhnt habe; ein junges Mädchen auf einem Foto, das ich zu kennen glaube – oder eine weiße Frau mit blauen Augen zwischen all den asiatischen Gesichtern?

Print Friendly, PDF & Email

Share this article

Article info

Date: April 21, 2018
Author: Kesy Bender (Germany)
Photo: Valeria Maraun and Saschka from SPb

Featured image: