Erfüllung

Plotin sagt: Die Seele des Menschen kann erfüllt werden von dem Licht des Einen. Das ist das höchste Ziel, was sie erreichen kann: jenes Licht anzurühren und es kraft dieses Lichtes zu erschauen.

Erfüllung

 

Du bist dann rein und allein mit dir selbst zusammen, und nichts hemmt dich auf diesem Wege, eins zu werden, und keine fremde Beimischung hast du mehr in deinem Innern. Du bist ganz und gar reines Licht, nicht durch Größe gemessen, nicht durch Gestalt in engen Grenzen gehalten, auch nicht durch Unbegrenztheit zu Größe erweitert, sondern gänzlich unmessbar, größer als jedes Maß und erhaben über jedes Wieviel. Wenn du dich dann selbst erblickst, bist du selber die Sehkraft. Du gewinnst Zutrauen zu dir und bist so hoch gestiegen und brauchst nun keine Weisung mehr.

Fällt jemand aus der Schau wieder heraus, so kann er die Tugend in sich wieder wecken. Wenn er dann wahrnimmt, dass sein Selbst durch die Tugenden von Ordnung und Form durchdrungen ist, so wird er wiederum leicht werden und durch die Tugend zum Geist und zur Weisheit aufsteigen und dann durch die Weisheit zu Jenem.

Wenn der Schauende auf sich selbst schaut, wird er mit sich selbst als einem so erhabenen vereinigt sein, dass er einfach geworden ist. Das Geschaute sieht der Schauende in diesem Augenblick nicht. Er unterscheidet es nicht, erlebt es nicht als zweierlei, sondern er ist gleichsam ein Anderer geworden, nicht mehr er selbst und nicht sein eigen. Er ist einbezogen in die obere Welt und jenem Wesen zugehörig. Und so ist er Eines, indem er gleichsam Mittelpunkt mit Mittelpunkt berührt. Auch die Mittelpunkte von irdischen Kreisen werden zu einem, wenn sie zusammenfallen. Und sie werden wieder zwei, wenn sie getrennt sind. Dann kann man vom Einen sprechen als einem Unterschiedenen.

Wenn der Schauende aus der Schau herausgeht, erlebt er das Eine in seiner Verschiedenheit, in seiner Vielfalt.

 

Plotin –   Resonanz zu Text 9  „Erfüllung“

Einmal war ich herausgehoben aus meinem Körper und war reines Bewusstsein. Hellwach, in großer Stille. Da war kein Denken, nur Wachheit. Wachheit, die alles trägt und Licht ist. Wenn ich die Worte von Plotin höre, weiß ich, dass es wahr ist, was er sagt. Er berichtet von dem Unermesslichen, das in uns verborgen ist. In den Medien lese und höre ich von Gewalt, von Missbrauch, von Mord und Totschlag, von Unterdrückung, Protesten. Wir sind ein Fluch füreinander.                                        

Wir sind engstens miteinander verbunden. Warum sollten wir nicht auch zu einem Segen füreinander werden?

Wir reichen in die göttlich-geistige Welt hinein. Das ist ja der Grund, weshalb die Menschen beten. Etwas in ihnen weiß vom Göttlichen. Viele wissen aber nicht, dass das Göttliche zu ihnen gehört, dass es in ihnen ist. Sie projizieren es nach draußen. Und dort ist es natürlich auch. Es ist überall. Ich fühle mich oft von ihm berührt, und manchmal ergreift es mich stärker.

Ich erlebe es im Glanz der Natur, im Glanz eines Menschen, in den Idealen, mit denen sich ein Mensch verbindet, in der Anmut der Formen des Lebendigen. Erfüllung ist nicht etwas, was bleibt. Sie ist ein immer neuer Anlauf. Wenn ich etwas von ihr erlebe, habe ich das Gefühl, dass ich es auch für andere erfahre, dass mein Erleben sich ganz viel anderen mitteilt, unmittelbar. Oft passiert es auch, dass ich kurz darauf jemanden treffe, dem ich etwas davon abgeben kann. Jeder reicht weit über sich hinaus, in alles, was lebt, hinein. Wir können uns einlassen auf andere, in andere.

Manchmal erfüllt mich Schönheit, manchmal Liebe, ich kenne Momente, in denen ich seelisch große Weiten erlebe. Zu den kostbarsten Momenten gehören wohl die, in denen ich glaube, eine Seele zu erkennen. Das ist eine Berührung durch das Unsterbliche in dieser Seele. Auch wenn sie vielleicht in einem großen Entbehren ist, in innerer Not. In einem solchen Moment bin ich eins mit ihr. Wir sind dann in diesem Moment eins in der Welt der Unsterblichen. Vollkommen unberührbar von jeder Gefahr.

Zur Erfüllung gehört es, das große Entbehren zu erleben, die große Sehnsucht nach Erfüllung, nach einem erfüllten Miteinander.

Erfüllung ist überall, sie ist ausgebreitet um uns herum. Aller Protest, aller Schmerz, alle Verzweiflung zeugen von ihr. Sie würden gar nicht auftreten, wenn es die Erfüllung nicht gäbe. Berührt zu werden von dem alles erfüllenden großen Ganzen kann so schmerzhaft sein, dass man es nicht aushält. Denn man erlebt auf krasseste Weise seine Situation. Und doch ist es das Beglückendste, Erfüllendste.  

 

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Article info

Date: August 17, 2020
Author: Gunter Friedrich (Germany)
Photo: Anne-Elisabeth Seevers

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