Nach Teil 1
Zustände des Bewusstseins Im Gegensatz zu den Stufen sind unsere Bewusstseinszustände keine bleibenden Strukturen. Sie verändern sich ständig. Wenn Sie einen Tag-Nacht-Zyklus von 24 Stunden durchlaufen, so können Sie darin viele verschiedene Bewusstseinszustände erfahren, von hellwach bis todmüde, von überglücklich und im Flow bis verwirrt oder bewusstlos. Kurz, wir sind, solange wir leben, natürlicherweise immer in irgendeinem Bewusstseinszustand. Nicht nur im Wachzustand, sondern auch im bildhaften Traum (REM-Schlaf) und im bilderlosen Tiefschlaf – selbst wenn wir davon nachts nichts mitbekommen. Genau in diese tieferen, z. T. form- und ichlosen Bewusstseinszustände versuchen sich nun die Mystiker hinab zu senken, ohne dabei einzuschlafen. Dafür nutzen sie Achtsamkeitstechniken, Mantren, Gebetsformeln oder Atemübungen zur Bewusstseinssteuerung. Durch das beständige Absehen vom eigenen Ich (z.B. „Herr, nimm alles von mir, was mich hindert zu Dir!“ Bruder Klaus, 1417-1487)) heben sie die bewusstseinsbegrenzende Ich-Identifikation auf, die wir als Kleinkinder aufgebaut haben (Ein Baby kann sich noch nicht als Ich denken). So überwinden Mystiker nach und nach die üblichen Grenzen des Alltagsbewusstseins. Sie erleben bildhafte, dann bildlose Bewusstseinszustände und weiten sich durch radikales Loslassen aller Bilder, Gefühle, Gedanken, Wünsche und Konzepte („Gott allein genügt“) immer mehr in Richtung unendliches, allumfassendes Bewusstsein oder Gott. Am Ende kann eine nonduale Erfahrung stehen, ein Zustand, in dem das Zusammenfallen der Gegensätze erfahren wird (die coincidentia oppositorum des Nikolaus von Kues, 1401-1464). Hier fallen alle Subjekt (Ich)-Objekt (Du, Das)-Trennungen weg. Alles ist eins, das EINE, Namenlose ist Gott. So etwa bei der Christin Armelle Nicolas (1606-1671), einer einfachen französischen Dienstmagd: „Gott ist alles. Ich bin nicht mehr. Ich bin zurückgekehrt in meinen Ursprung. Er allein lebt in mir, ich aber bin nicht mehr in mir selbst, sondern in ihm.“ Für die vielen spirituellen Übungswege mit Gebet, Meditation und Kontemplation liegt aus meiner Sicht mit dem Wilber-Combs-Raster (und weiteren Modulen der Integralen Spiritualität) ein wunderbares Instrument für zunehmende spirituelle Intelligenz, geistliche Unterscheidung und maßgeschneiderte Begleitung bis ins hohe Alter vor. Es bietet uns die Möglichkeit, evolutionäre Reifungsprozesse (Stufen) über spirituelle Biografiearbeit zu erfassen. Ebenso können die individuellen Gotteserfahrungen von Menschen in ihrer unterschiedlichen Tiefe (Zustände) erfasst und verortet werden. Mystik macht nicht automatisch moralisch Das Wilber-Combs-Raster hilft uns auch bei der Frage, warum sich Mystiker, spirituelle Lehrer, Gurus oder Erleuchtete nicht unbedingt moralisch integer, mitfühlend und offen gegenüber Fremden verhalten. Damit erklären sich bislang sehr widersprüchliche Phänomene in der Haltung von Schamanen, Propheten, Aposteln, Heiligen oder Mystikern. Ein paar Beispiele: Schamanen (Stufe 2.0 und 3.0) können über Trancetechniken in sehr tiefe Bewusstseinszustände fallen und Alleinheitserfahrungen haben. Trotzdem sind sie an die Werte ihrer magisch-kriegerischen Stammeskulturen gebunden und haben kein Problem damit, Angehörige eines anderen Stammes auszurotten. Die grausame vormoralische Seite der Stufe 3.0 bebt noch an vielen Stellen im spirituellen Gedächtnispool des Alten Testaments nach: Der Prophet Elia, Empfänger subtiler Bewusstseinszustände, schlachtet am Berg Karmel eigenhändig (!) 450 Baalspriester ab (1. Kön. 18). Wie kann man ein Mann Gottes sein und zugleich als Massenmörder hemmungslos gegen das fünfte Gebot Jahwes „Du sollst nicht töten“ verstoßen? Um es drastisch auszudrücken – Elia hat das gleiche Problem wie islamistische Terroristen heute: Seine Überzeugung ist bereits ein monotheistischer Glaube (Stufe 4.0), der Handlungsschwerpunkt seines Selbst liegt dagegen noch bei 3.0. Hier versucht das impulsive und noch nicht von Scham und Schuld regulierte Ego, angetrieben von fanatischen Machtwünschen, seinen heiligen Jahwe-Glauben rücksichtslos durchzusetzen. Ein spannungsvolles Verhältnis zwischen Stufen und Zuständen finden wir auch beim Apostel Petrus. Als ein enger Jünger Jesu, der selbst subtile mystische Bewusstseinszustände erfuhr (Apg. 11) und dem auferstandenen Jesus dreifach seine Liebe bezeugte, bringt er es trotzdem fertig, ohne schlechtes Gewissen ein Ehepaar in der Urgemeinde so zu bedrohen, dass sie beide vor Angst erstarren und tot umfallen (Apg. 5). Der Heilige Bernhard von Clairvaux (1090-1153) war ein brillanter mittelalterlicher Theologe (4.0) und Vertreter einer hinreißend innigen Christusmystik, agierte aber gleichzeitig auf Stufe 3.0 als flammender Einpeitscher für den Zweiten Kreuzzug. Athos-Mönche erlangen in der Versenkung die Gnade der Gottesschau, sind aber auch im 21. Jahrhundert noch so in mythisch-patriarchalem Denken (4.0) gefangen, dass sie auf ihrem heiligen Berg das Weibliche noch nicht einmal in Form von Hühnern integrieren können (Die Gleichstellung der Frau beginnt erst ab 5.0 mit der Moderne und entfaltet sich dann voll ab 6.0). Ähnliches lässt sich nicht nur im Judentum oder Christentum beobachten, sondern auch bei praktizierenden Kontemplativen in allen anderen Religionen. Buddhistische Mönche hetzten 2015 in Myanmar den Pöbel gegen Muslime auf, initiierten ethnische Säuberungen und töteten Hunderte Andersgläubige. Die Erfahrung eines bloßen Verzückungsgrades und mystischen Bewusstseinszustandes führt keineswegs dazu, dass man plötzlich einen hohen ethischen Standard leben kann. Die vielen Missbrauchsvorwürfe gegen Gurus und spirituelle Lehrer in allen religiösen Traditionen belegen diese traurige Tatsache auch heute. Daraus folgt: Unser Handeln ist immer von der Bewusstseinsstufe abhängig, auf der wir aktuell stehen, wenn wir besondere Bewusstseinszustände erfahren. Und mit den Vorstellungen, Normen und Werte genau dieser Stufe interpretieren wir dann unsere Erfahrungen und rechtfertigen unser Handeln. Geist der Welt und Geist aus Gott vereinen Zu einer aufgeklärten, christlich integralen Spiritualität gehört nicht nur der kritische Blick auf Missstände, sondern auch die Würdigung der in unserer Tradition bereits geleisteten Differenzierungen zwischen Stufen und Zuständen. Ob Jesus selbst, ob Apostel oder Evangelisten, Wüstenväter und -mütter, Kirchenlehrer oder Mystiker und Mystikerinnen — sie alle bezogen sich sowohl auf die ihnen damals bekannten kulturellen Entwicklungsstufen als auch auf besondere Bewusstseinszustände, freilich ohne dass sie beide im wissenschaftlichen Sinne definieren und sauber trennen konnten. Jesus bezieht sich auf mystische Bewusstseinszustände mit dem Wort: „Ich will euch einen Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit, den Geist der Wahrheit, den die Welt [Stufen]nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht.“ (Joh. 14, 17). Paulus spricht in 1. Kor. 2, 6-16 vom „Geist der Welt“ im „irdisch gesinnten Menschen“ und umfasst damit die zu seiner Zeit etablierten kulturellen Entwicklungsstufen 1.0 bis 4.0. Wenn Paulus dagegen von Zuständen spricht, benutzt er Redewendungen wie „der Geist aus Gott“ oder „ich deute jetzt geistliche Dinge für geistliche Menschen“. Paulus geht wie Jesus davon aus, dass nur jemand, der die mystischen Bewusstseinszustände selbst erfahren hat, „den Sinn Christi“ erkannt hat, während ein „irdisch gesinnter Mensch“ ohne mystische Praxis nicht verstehen kann, wovon da die Rede ist. Zu den Stufen gehört für ihn das Wissen der antiken Welt. Paulus war ein gebildeter Jude, der sich auf Augenhöhe mit gebildeten Römern und Griechen austauschen konnte. Er grenzte kulturelles Wissen und Bildung von der „verborgene Weisheit“ der Mystik ab. Ähnlich differenzieren viele christliche Mystiker und Mystikerinnen. Symeon der Theologe (949-1022) unterscheidet zwischen „Weltsinn und Menschengeist“ (Stufen) sowie „Geistsinn und Gottesgeist“ (Zustände). Meister Eckhart (um 1260-um 1328) spricht von dem „äußeren Menschen“, den wir auf allen Stufen finden können, und dem „nach innen gewandten Menschen“ der ein geistliches Leben führt, indem er seine inneren Bewusstseinszustände erforscht und sich während des wortlosen und wunschlosen Betens immer mehr auf Gott ausrichtet. Resümee: Religiös aufgeklärt durch Stufen, spirituell erfahren durch Zustände Für die Stufen gilt: Wir erfassen die Wirklichkeit so weit, wie wir (unseren Werten, Weltbildern, Gottesbildern entsprechend) auf dieser Stufe schauen können. Mit jeder Stufe gewinnen wir aber an Perspektiven, Erkenntnisraum und Reflexionsfähigkeit dazu. Darum fördern wir mit Wissenschaft, Bildung und Pädagogik die Weiterentwicklung über die Stufen. Für die mystischen Zustände gilt: Wir sehen immer mehr durch unsere Alltagswirklichkeit „hindurch“ bis zum letzten Grund Gottes. Darum wäre es für ein lebendiges Christentum so wichtig, allen ChristInnen neben dem evolutionären Stufenwissen um die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten auch den kontemplativen Weg der Mystik zu erschließen. Wer eigene Versenkungserfahrungen gemacht hat, liest die Bibel plötzlich mit anderen Augen. Die Texte fangen richtig zu leuchten an, sie sprechen nicht nur vom Geheimnis Gottes in der Tiefe, sie ziehen uns auch regelrecht hinein. Paulus´ Satz „Der Geist erforscht alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit“ könnte heute so lauten: Es ist unser Bewusstsein, mit dem wir alles wahrnehmen und deuten. Bewusstsein kann nicht nur wissenschaftlich-objektive Bewusstseinsforschung betreiben und sich auf den Stufen ausdifferenzieren und weiterentwickeln. Es kann auch in der subjektiven Tiefe besonderer Bewusstseinszustände zum göttlichen Urgrund vordringen und schließlich die ewige Unendlichkeit Gottes entdecken, was traditionell als Alleinheitserfahrung beschrieben wird. Eine dualistische Trennung zwischen der „bösen Welt“ der Stufen und der „guten Welt“ der mystischen Zustandserfahrungen ist für eine integrale Spiritualität angesichts dieser Doppelbegabung unseres Bewusstseins endgültig passé. Wer das einmal erkannt hat, kommt auch mit der doppelten Übersetzung von Jesu wunderbarem Wort vom „Reich Gottes“ klar. Denn dieses Reich ist als lebendiger Weg hin zu allumfassender Liebe und Allgüte sowohl „mitten unter uns“ (Stufen) als auch „inwendig in uns“ (Zustände) gegenwärtig. |
Literatur:
Marion Küstenmacher, Tilmann Haberer, Werner Tiki Küstenmacher, Gott 9.0 – Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird. Gütersloher Verlagshaus 2010, 8. Aufl. 2018.
Marion Küstenmacher, Der Purpurtaucher. Vom inneren Wachsen mit Bildern der Mystik, Herder Verlag 2017
Marion Küstenmacher, Integrales Christentum – Einübung in eine neue spirituelle Intelligenz, Gütersloher Verlagshaus 2018.
Siehe auch unter www.gott90.de im Internet.
Marion Küstenmacher
Evangelische Theologin, Germanistin, Autorin
Integrale Persönlichkeitsbildung
Gott 9.0 Wertimagination Mystik
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