Was wir denken was wir sind, das sind wir nicht

Die Natur dessen, was ist, kann nur erfahren werden in einem Geisteszustand der unmittelbaren Beziehung mit dem, was ist, im reinen Gewahrsein. Nicht-Wissen ist die eigentliche, beständige Tatsache am Grunde des menschlichen Geistes. Im aufmerksamen „Raum des Nicht-Wissens“ findet eine vollkommen neue Art der Handlung statt.

Was wir denken was wir sind, das sind wir nicht

Der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti fragte einmal, ob es möglich sei, unmittelbar beim Hören einer Aussage ihre Wahrheit oder Falschheit zu erkennen[1] . Mit solchen Fragen eröffnete er den Raum für das wachsame Ergründen bei seinem Gegenüber. Er deutete damit wohl auf einen äußerst einfachen Geisteszustand hin, der ohne Anstrengung und Widerstand in einfacher Aufmerksamkeit zuhört und so wie in einer Instanz zum Kern einer Sache durchzudringen vermag.

Wie fassen wir also die Aussage auf: „Was wir denken, was wir sind, das sind wir nicht“? Was ist die spontane Reaktion unseres Geistes, wenn er diesen Satz liest?

Ist er urteilslos empfänglich? Oder ist von vornherein eine Meinung dazu präsent, irgendeine Form der Tendenz wie Abneigung, Empörung, Akzeptanz oder Toleranz?

Ein Spiegel für die Qualität unseres Geistes

Wir erkennen, dass solche Aussagen Spiegel sein können für die Qualität unseres Geistes. Ein Spiegel, in dem wir die Kräfte und Struktur beobachten können, die unseren Geist ausmachen. Zweifelsohne gibt es einen ungetrübten Geisteszustand, der diese Aussage hört und sie in vollkommener Stille umfängt, und in diesem Stillsein wird gleichsam die Wahrheit der Aussage aktiv, oder, sollte sie jeglicher Wahrheit entbehren, tritt eben ihre Kraftlosigkeit zu Tage. Lassen Sie uns also gemeinsam diese Aussage tiefer ergründen: „Was wir denken, was wir sind, das sind wir nicht.“

Wenn wir uns fragen, wer wir sind, so wird uns für gewöhnlich das Denken allerlei Bilder und Antworten präsentieren. Wir sind diese und diese Person, in jener und jener Lebenssituation. Wir haben diese und diese Interessen, einen solchen und solchen Lebenshintergrund, und gehören dieser oder jener Gruppe an. Aber ist es nicht seltsam, dass wir, um in Erfahrung zu bringen, was wir sind, uns selber indirekt darüber informieren müssen, über den Umweg der Erzählung? Um gleichsam über den Umweg der Ausformulierung und des Denkens zu skizzieren, wer oder was wir sind.

Dies deutet darauf hin, dass auf einer gewissen Ebene in uns keine unmittelbare Beziehung zu dem existiert, was wir tatsächlich sind. Dieser Mangel an Beziehung wird überbrückt durch die Spinnfäden des Denkens. So dass uns das Denken ein Bild von dem skizziert, was wir meinen zu sein. Dieses selbstgeschaffene Bild im Gedankenkörper wird zur Basis unserer Existenz.

Und dieses gedankliche Selbstbildnis agiert in einem eigenen gedanklichen Weltbildnis. Denn wenn wir uns nun fragen, was die Welt sei, so beginnt der gleiche Prozess. Es ist das Denken, das uns mit all seinen Antworten allmählich eine Vorstellung der Welt zeichnet, in welcher sich unsere Vorstellung des Selbst wiederfindet. Auch hier ist diese Tatsache wieder ein Hinweis auf die Abwesenheit einer unmittelbaren Beziehung mit der Welt, oder – vielleicht ein treffenderes Wort – mit dem Kosmos und der absoluten Ordnung, die diesen Kosmos durchwirkt.

Jede Form des gewohnten Denkens ist ein Abstraktionsprozess. Der Gedanke an einen Baum ist nicht der Baum. Der Gedanke an die Welt ist nicht die Welt. Der Gedanke an sich selbst ist nicht das Selbst. Jede noch so feine Gedankenform wird nie der Baum, die Welt oder das Selbst sein.

Reine Wahrnehmung

Die Natur dessen, was ist, kann nicht mit dem alten Denken umfasst werden. Die Natur dessen was ist, kann nur erfahren werden in einem Geisteszustand der unmittelbaren Beziehung mit dem, was ist, im reinen Gewahrsein.

Den Aspekt des Geistes, dem reines Gewahrsein möglich ist, nannte der griechische Philosoph Plotin den Nous. Der Nous ist nach Plotin der erste Aspekt des Seins, aus dem reines Wahrnehmen und Verstehen hervorgehen und durch welchen sich „das Eine“ als Kraftwirkung offenbart.[2] Diese Kraftwirkung des Einen wird im christlichen Sprachgebrauch auch als der heilige Geist bezeichnet.

In einem Text der Rosenkreuzer des 17. Und 18. Jahrhunderts wird Nous, das rein Wahrnehmende und Verstehende, auch als das Auge der Weisheit bezeichnet:

[Das] Auge [der Weisheit] schaut in der höchsten Ruhe die Wunder aller Bewegungen und sieht durch alle anderen Augen, welche außer der Ruhe in der Unruhe herumschweifen und ohne das rechte Auge der Weisheit vor sich selber sehen wollen, [obwohl] sie doch ihr ganzes Sehen von demselben empfangen haben. […] Zeit und Ewigkeit, […] Hohes und Tiefes, Äußerliches und Innerliches wird von [dem Auge der Weisheit] verstanden. Und doch wird es von deren keinem beunruhigt, denn es wohnt im Centro der Ruhe, da [wo] alles außer dem Streite in der Gleichheit steht. Was es siehet, das besitzt es auch. Darum o lieber Mensch! Willst du wieder zum rechten Verstande und zu der rechten Ruhe kommen, so hör auf mit deinen Werken und lass Gott wieder in dir wirken, so wird sich das Auge der Weisheit wieder in dir auftun […] und in Einem Alles finden. [3]

In der Tat steht die Ausbildung dieser geistigen Struktur des menschlichen Seins, die Struktur einer neuen Einheit zwischen Wahrnehmen, Verstehen und Handeln (oder Kraftwirkung) auch im Zentrum der Lehre, die Jiddu Krishnamurti ausgetragen hat. Dazu sagt er:

Der erste Schritt ist der letzte Schritt. Der erste Schritt ist das Wahrnehmen; wahrnehmen, was Sie denken, Ihre Ambitionen wahrnehmen, Ihre Furcht wahrnehmen, Ihre Einsamkeit, Ihre Verzweiflung, dieser außerordentliche Zustand des Leidens, es wahrnehmen, ohne Verurteilung, Rechtfertigung, ohne zu wünschen, es wäre anders. Es nur wahrzunehmen, wie es ist. Wenn Sie es wahrnehmen, wie es ist, dann findet da eine vollkommen andere Art der Handlung statt, und diese Handlung ist endgültiges Handeln. [4]

Auf diese Weise ist der erste Schritt der letzte Schritt ist. Gleichzeitig liegt im Hervorbringen dieser geistigen Struktur jedoch auch ein Prozess, wie auch Jiddu Krishnamurti immer wieder betonte. Dieser Prozess ist zu vergleichen mit einer reifen Saat, die damit beginnt, ihre ersten Triebe und Blätter durch die Erde zu brechen. Dieser erste Trieb verfügt über die gleichen Merkmale wie ein ausgewachsener Baum, er hat hölzerne Äste und Blätter und Wurzeln, daher versteht er vollkommen, was Photosynthese ist und lebt aus dieser inwendigen Umwandlung von Licht als Kraftwirkung in seinem Wesen. Aus dieser Kraftwirkung formt sich seine gesamte Struktur aus und wirkt der Baum zusammen mit dem, was ist. Und doch ist die Intensität dieser Kraftwirkung im Sprössling noch viel geringer als in einem ausgewachsenen Baum.

Kommen wir zurück zu dem Ausspruch: „Was wir denken, was wir sind, das sind wir nicht.“

Das alte Denken mit all seinen eigenen Abstraktionen und Vorstellungen gleicht einem Handschuh, mit dem ein sehr begrenzter Aspekt der Dinge berührt werden kann. Und auf einer gewissen äußerlichen, technischen Ebene ist dieser Handschuh sicher dienlich, aber ist er es auch am inneren Grund der Dinge?

Die beschriebene neue, geistige Struktur im Menschen, das Auge der Weisheit, ist frei von Vorstellungen und Bildnissen. Es hat keine Beziehung zu der alten Vorstellungswelt und knüpft nicht daran an. Wir können also erkennen, dass, solange wir innerlich mit einem selbst geschaffenen Selbstbildnis leben – uns damit identifizieren, unser ganzes Leben sich darum dreht und all unser Streben darauf basiert – die unmittelbare Beziehung zu dem, was wir sind, was ist, blockiert wird.

Eine erste Reaktion im Menschen auf diese Feststellung könnte sein zu sagen „Nun muss ich mich anstrengen, kein Bild mehr von mir zu haben.“ Doch dieses selbstprojizierte Ideal wäre ebenfalls eine Reaktion aus der alten Struktur, aus dem alten Selbstbildnis heraus. Darin steckt die Schlussfolgerung „Ich, der ich dieses Selbstbildnis bin, muss mich ändern, und werde morgen ein besserer sein, werde ein ideales Selbstbildnis sein“. Dabei sind jedoch das Ideal und seine Ausübung immer noch im Bereich der alten Vorstellungswelt. Der Entschluss ist in sich selbst die Folge der Abwesenheit reiner Wahrnehmung. Doch erst reine Wahrnehmung ist die Tür, durch die sich Nous, das Auge der Weisheit, zu offenbaren beginnt. Die eigentliche Frage ist also: Was ist reines Gewahrsein?

Um herauszufinden was reines Gewahrsein ist, müssen wir mit reinem Gewahrsein beginnen.

Wie fasst unser Geist diesen Ausspruch auf?

Vom anderen Ende aus beginnen

Jiddu Krishnamurti sagte einmal:

In dieser ganzen Bewegung müssen Sie, wenn Sie so wollen, vom anderen Ende aus beginnen, von der anderen Uferseite, und nicht immer mit dieser Seite des Ufers beschäftigt sein oder damit, wie man den Fluss überquehrt.[5]

Was ist also reines Gewahrsein?

Eröffnet diese Frage nicht einen Raum des aufmerksamen Nicht-Wissens? Nicht-Wissen ist die eigentliche, beständige Tatsache am Grunde des menschlichen Geistes. Dies ist eine äußerst einfache Wahrheit, die wir für uns selbst ergründen können.

Das klassische Rosenkreuz drückt es so aus:

Der Mensch war von Gott zu einem ewigen Sabbat geschaffen, er sollte selbst nicht wirken, sondern Gott in sich wirken lassen; er sollte nicht mit seinen Händen sich selber etwas nehmen, sondern nur empfangen, was ihm von Gottes Güte reichlich dargeboten ward. [6]

Jede Form der Anstrengung ist die Aktivität des Denkens, das heimlich annimmt: „Ich weiß, so und so muss es sein“, „dahin muss es gehen, dieses Ideal strebe ich an“. Wo die Aktivität des „Ich-weiß“ herrscht, wird das reine Gewahrsein des Nicht-Wissens aufgegeben. Das Leere, das empfängliche Gefäß, wird gefüllt mit den Annahmen des „Ich-weiß“. In jeder Form der Anstrengung steckt die Gier und das Verlangen nach einer erwarteten geistigen Belohnung. Diese alte Struktur des Verlangens jedoch in sich urteilslos zu sehen als das, was ist, ist reines Gewahrsein. Im reinen Gewahrsein gibt es nicht das Urteil von „dies bin ich“ oder „dies bin ich nicht“. Alles wird urteilslos geschaut und in diesem unbewegten Schauen offenbart sich wortlose Wahrheit. Es gibt nur die Wahrheit dessen, was ist.

Wenn die Tatsache des Nicht-Wissens unumwunden erkannt wird, dann ist Fragen ein natürlicher Prozess der Befruchtung des Geistes, der im Nicht-Wissen steht. Und so steht er inmitten der Unbeweglichkeit, in der Stille, seiner Unwissenheit, welche eins ist mit reinem Gewahrsein. Es ist das Gewahrsein, das ungetrübt ist durch die Bewegungen des alten Vorstellungsdenkens. Der Mensch fragt und schaut dann aus dem Nicht-Wissen.

In diesem geistigen Zustand mündet prozessmäßig alles, was ist, die gesamte alte Bewusstseinsstruktur des stetigen Erzeugens und Aufrechterhaltens des Selbstbildnisses, in reines Gewahrsein, mit all der daran hängenden Unsicherheit und Angst. In diesem Zustand kann die Kraftwirkung des Einen im Menschen wirken, wenn auch zu Beginn nur äußerst subtil. Und diese Kraftwirkung bringt Erkenntnis hervor und verwandelt sein gesamtes Wesen nach der absoluten Ordnung des Einen, also dem einen Willen, der alles durchwirkt. Jiddu Krishnamurti sagte dazu:

[…] Die Energie des Wahrnehmen-Handelns ist vollkommen anders. Und diese Energie ist die Energie des Schöpferischen.[7]

Und an anderer Stelle:

[Absolute] Ordnung ist also die Handlung des Neuen. [8]

So sind also Nicht-Wissen, Sterben des „Ich-weiß“ und Leere die stete Bedingung für Verstehen, Leben und schöpferisches Handeln.

Das Erblühen der Einheit des inneren Wahrnehmens-Verstehens-Handelns im Menschen, diese Öffnung des Hauptes, gleicht einem „Quantensprung“ des Bewusstseins, denn sie ist nicht die Folge des Strebens aus dem alten Bewusstsein. Sie ist die Folge einer Übergabe, eines Offenlegens des alten Bewusstseins in der reinen Wahrnehmung des Nicht-Wissens, und der Beginn einer vollkommen neuen Entfaltungsebene des Lebens, die es in stillem Gewahrsein immer tiefer zu ergründen gilt.

Und in diesem Ergründen gibt es keine Kontinuität von Gestern auf Morgen, kein Anhäufen, keine Schlussfolgerung, kein „etwas“ Werden, keine Zeit; es gibt nur immer wieder aufs Neue im Heute das Ergründen im Nicht-Wissen, das Sehen-Verstehen dessen, was ist, und das sich daraus erhebende zeitlose Erblühen in dem schöpferischen Einen, welches Zerstörung und Erschaffung in Glorie in sich trägt. Das ist es, was das Herz der Frage nach dem Selbst in sich verborgen trägt und offenbart, wenn es nicht mehr im Vorstellungsdenken zerstreut wird. Was wir denken, was wir sind, das sind wir nicht.

 


[1] Jiddu Krishnamurti, Dialog 10 San Diego, Kalifornien, USA – 22 Februar 1974

[2] Neoplatonism and Gnosticism herausgegeben von International Society for Neoplatonic Studies, 1992, State University of New York Press

[3] Geheime Figuren der Rosenkreuzer aus dem 16ten und 17ten Jahrhundert, zuerst erschienen 1785, Neuauflage 2019, Bad Münder, Internationale Schule des goldenen Rosenkreuzes

[4] Buch: The first step, is the last step von Jiddu Krishnamurti, 2004, Krishnamurti Foundation India

[5] Im Buch Meditations von Jiddu Krishnamurti, Shambhala, 2018

[6] Geheime Figuren der Rosenkreuzer aus dem 16ten und 17ten Jahrhundert, zuerst erschienen 1785, Neuauflage 2019, Bad Münder, Internationale Schule des goldenen Rosenkreuzes

[7] Dialog 13 mit Allan W. Anderson in San Diego, Kalifornien, 26 Februar 1974

[8] The Whole Movement of Life is Learning: Letters to his Schools, Jiddu Krishnamurti, 2006, Krishnamurti Foundation Trust

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Datum: Februar 4, 2021
Autor: K.S. (Germany)

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