Die Unerwartete Hilfe des Paradoxen

Die Unerwartete Hilfe des Paradoxen

Wer anderes kann nach Freiheit greifen wollen als das Ego. Dabei gibt es ein Alter Ego, dass die Freiheit sein kann!

Kann man gleichzeitig frei und egoistisch sein?

Das ist eine Frage, die wie ein Prüfungsthema klingt, das man bei Philosophiestudenten finden könnte. Viele Philosophen haben sich mit dieser Frage befasst, aber es hat sich nur eine Kontroverse herausgebildet.

Ein Siebenjähriger sagt zu seinen Eltern: „Lass mich tun, was ich will!“

Ein Teenager fügt hinzu: „Aber lasst mich am Ende in Ruhe, ich bin frei!“

Ein Banker und eine Supermarktkassiererin sind sich einig: „Wir sind Gefangene der Konsumgesellschaft, aber wir haben keine Wahl“.

Ein mehrfach rückfällig gewordener Gefangener seufzt in seinem Gefängnis: „Ich möchte einfach nur auf der anderen Seite dieser Gitterstäbe sein“.

Ein buddhistischer Mönch, der jahrelang in einem Kloster verbracht hat, gesteht: „Der Mensch ist ein Gefangener seiner Sinne, er kann nur Freiheit finden, wenn er sein Ego aufgibt“.

Ein Hundertjähriger, der an der Schwelle des Todes steht, resümiert: „Endlich frei!“

Wir alle streben nach Freiheit, und doch müssen wir uns eingestehen, dass wir Grenzen haben, seien es physische, intellektuelle, technologische, finanzielle oder erträumte. Und natürlich fügt sich nicht jeder ohne Widerspruch in sein Schicksal. Manche sind damit glücklich, andere hadern mit ihrer Situation. Aber wir alle haben schon einmal einen Zustand der Freiheit erlebt. Einen Zustand, in dem die Grenzen zwischen Freiheit und Gefangenschaft verschwommen sind. Unser Ego ist in diesen Momenten weniger stark ausgeprägt. Es verblasst, aber es verschwindet nicht. Es bleiben also drei Faktoren bestimmend für unser Leben: Freiheit, Grenzen und das Ego. Aber das Ego ist das Beständigste.

Das Ego ist ungeduldig, es bläst sich auf vor Stolz, es tut manchmal unehrliche Dinge, es spielt das kleine Biest, es will Recht haben, es lügt (fast) jeden Tag, es findet andere unerträglich. Aber er ist nicht nur fehlerhaft: Er ist gleichzeitig mit einer bemerkenswerten Intelligenz, einer phänomenalen Anpassungsfähigkeit, einem erfinderischen Geist und einer natürlichen Neigung, anderen zu helfen, ausgestattet. Eines seiner größten Mankos ist die Angewohnheit, sich wegen eines einfachen Ja oder Nein schuldig zu fühlen.

Wenn eine Person, vor der ich Respekt habe, zu mir sagt: „Du bist das Hindernis für deine eigene Freiheit“, dann könnte ich mich unwohl und auch schuldig fühlen. Aber nein, denn meiner Meinung nach enthält die Formel einen Widerspruch in sich; wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist. Diese Redewendung, die darauf abzielen, zwei Begriffe zusammenzubringen, deren Bedeutung eigentlich entgegengesetzt ist, haben etwas faszienierendes, wie z. B.: „es ist eindeutig unklar“.

Nach Ansicht der meisten Fachleute kann das Ich nicht frei sein, da es das Produkt einer begrenzten Natur ist – und sei es nur durch das Gesetz der Schwerkraft. Denn was begrenzt ist, ist nicht frei – auch wenn sich diese begrenzte Natur als ein infinitesimaler Teil eines großen und vielleicht unbegrenzten Ganzen erweist. Kurz gefasst: ich bin kein Hindernis. Ich muss mit meinem begrenzten Wesen zurecht kommen.

Dann sagt dieselbe Person, vor der ich immer noch großen Respekt habe, zu mir: „Das ist gut, mein Freund, du hast gerade einen Schritt in Richtung Freiheit gemacht“. Aber dann wird es noch schwieriger! Dieser respektable Mensch erklärt mir, dass das Ego kein statisches oder starres Ganzes ist. Ganz im Gegenteil. Das Ego ähnelt in jeder Hinsicht den Atomen, aus denen unser Körper oder sogar unser Smartphone besteht: eine Ansammlung von Elementarteilchen, die um einen zentralen Kern kreisen. Wir wissen nicht genau, wo sich die Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt befinden, wir wissen nur, dass sie gravitieren. In Richtung eines Kerns? Eine Art kugelförmiger Mini-Magnet, mehr oder weniger polarisiert. Es könnte eine Kugel aus Antimaterie sein, oder schlimmer noch, ein schwarzes Loch … wir wissen es nicht, wir sind noch auf der Suche.

Das Ego kann sich unendlich mit anderen Egos verbinden, und je nach der Umgebung, in der es sich entwickelt, kann es sich verstärken, abschwächen, sublimieren oder sogar auflösen. Alle möglichen physio-chemischen Vorgänge, die die Natur liebt und die uns immer wieder überraschen.

In dieser Schatzkammer, diesem Feld der Möglichkeiten, wurde eine schelmische Verbindung zwischen dem Ego und der Freiheit geknüpft.

Es lebe das Paradoxon!

Dieser Energiefluss, der das Ego und die Freiheit verbindet, kann mit einer Nabelschnur verglichen werden. Die Freiheit, die große Matrix aller Existenzen, bringt das Ego zur Welt und nährt es, während es sich im Mutterleib befindet. Dann, wenn ihm die Augen für seine eigene Realität geöffnet werden, in einem Moment dunkler Klarheit, wird die Nabelschnur zerrissen, mit einem Schmerzensschrei wird ein Wesen geboren, das der Freiheit beraubt ist.

Die Funken der Menschheit, die während ihres gesamten Wachstums in der Matrix von der Freiheit genährt wurden, sehnen sich hier nach Unbegrenztheit, entwöhnt von einem Nektar, dessen Ursprung sie bereits vergessen haben, da sie sich nach der mütterlichen „Milch“ sehnen. Auf der Suche nach seiner wahren Nahrung umgibt sich das wandernde Ego mit Grenzen. Es geht zur Schule, erlernt einen Beruf, schließt sich mit einem anderen Ich zusammen, als ob es nicht autark wäre, und passt sich dem Leben in der Gesellschaft an.

Sein Teilchenhaufen organisiert sich, so, wie es in seiner Macht steht, und wirbelt ziellos um den Antimateriekern, um sein schwarzes Loch. Und dieses schwarze Loch spricht zu ihm: „Bist du mit deinem Leben zufrieden? Kannst du dir ein anderes vorstellen? Willst du noch etwas anderes leben?“

Wie lautet Ihre Antwort? Vor allem, wie auch immer die Antwort ausfallen mag: Fühle dich nicht schuldig. Sobald du dich schuldig fühlst, rückt die Freiheit in unerreichbare Ferne. Natürlich kann dein ego schwinden. Je mehr es abnimmt, desto mehr wächst in die die Freiheit. Aber Vorsicht! Es gibt viele Wege, die zur Verringerung des Ego führen. Manche sind attraktiv, aber führen sie wirklich zur Freiheit? Nehmen Sie zum Beispiel den Zynismus. Gehen Sie ins Internet und lesen Sie den Wikipedia-Eintrag über Zynismus. Ah! Onkel Diogenes ist gar nicht so unwissend, wenn er sagt: „Nur Weisheit und Tugend zählen. Sie können nur durch Freiheit erreicht werden. Schwinden des Ego ist ein notwendiger Schritt, aber kein Ziel an sich.“

„Opa Platon lässt schön grüßen“: „Der weise und tugendhafte Mensch kann sich als frei betrachten, weil er ohne Eitelkeit ist und ataraktisch lebt“.

Jippie! Ataraxie ist ein Widerspruch in sich! Ich liebe X-Wörter. Eines Tages werde ich einen Artikel nur mit X-Wörtern schreiben. Ataraxia ist ein Zustand der Ruhe der Existenz. Es ist der Zustand, in dem das Ego in die Freiheit zurückgekehrt ist. Wenn es so weit geschrumpft ist, dass es, von den stürmischen Wellen des akademischen Meeres überflutet, seinen letzten Hoffnungsschrei ausstößt und vergisst, zu atmen, und sich in sein schwarzes Loch gezogen fühlt, in die reine Einfachheit einer zum absoluten Neutralen hin polarisierten Sphäre. Lao Tzu würde sagen: „Nimm dies und lehne das ab! Das ist der Weg des TAO“.

Und der ehrbare Mensch, was würde er zu mir sagen? Er würde sagen: „Du siehst gut. Vergiss die Freiheit nicht, aber lehne das Ego nicht ab. Unterschätze nicht das Unbegrenzte, aber vernachlässige nicht die Grenzen. Es gibt eine Verbindung zwischen beidem. Lass dich weder von der Freiheit unterjochen, noch von den Grenzen einsperren. Jedes Ego hat sein Alter Ego. Wer kann nach der Freiheit greifen außer das Ego. Und das Alter Ego ist die Freiheit!

Nimm dies an, und lehne jenes ab! Nur du kannst selber wissen, wer oder was der richtige Weg ist. Es ist deine Sache. Es ist deine Entscheidung.

Print Friendly, PDF & Email

Share

LOGON Magazine

Bestellmöglichkeiten

über unseren Online-Shop oder per Email: shop@logon.media

  • Einzelheft 10 €, inkl. Versand (Ausland 14 €, inkl. Versand)
  • Einzelheft digital 4 €
  • Print-Abo 36 €, 4 Ausgaben/Jahr, inkl. Versand (Ausland 52 €), fortlaufend, Kündigung jederzeit möglich.
  • Digitales Abo 15 €, 4 Ausgaben/Jahr zum Download (pdf), fortlaufend, Kündigung jederzeit möglich.

Unsere neuesten Artikel

Post info

Datum: April 5, 2024
Autor: Ray Vax (France)
Foto: by Steve Johnson on Unsplash

Bild: