Ist Munchs berühmtes Gemälde „Der Schrei“ wirklich die Darstellung seiner seelischen Qualen, für die es weithin gehalten wird? Oder fordert er uns heraus, die verstörende Realität unseres eigenen Lebens zu untersuchen?
Wenn man die eigenen Worte des Künstlers auf sich wirken lässt, kann man kaum Zweifel an seinen wahren Absichten hegen.
„Der Schrei“ ist ein wunderschönes und berühmtes Gemälde von Edvard Munch mit einer bewegten und kontroversen Geschichte. Es ist eines der teuersten Kunstwerke der Welt, und es gab mehrere Versuche, die eine oder andere der vier von Munch gemalten Versionen zu stehlen. Der Schrei“ ist jedoch eine Ikone der modernen Kunst, weil er die seelischen Qualen der Figur so eindringlich darstellt und beim Betrachter intensive psychologische Reaktionen wie Sympathie, Empathie oder Neugier hervorruft.
Die Ängste, die in dem Bild zum Ausdruck kommen, werden oft oberflächlich auf den labilen Geisteszustand des Malers zurückgeführt. In vielen Biografien wird Munch als eine gestörte Seele beschrieben, die zu Alkohol und Depressionen neigte. Das Erlebnis, das ihn zu „Der Schrei“ inspirierte, wird oft mit einer psychischen Krise in Verbindung gebracht, die wir umgangssprachlich als „Panikattacke“ bezeichnen würden.
Über sein Erlebnis schrieb Munch:
Ich ging mit zwei Freunden die Straße hinunter, als die Sonne unterging; plötzlich färbte sich der Himmel so rot wie Blut. Ich blieb stehen und lehnte mich gegen den Zaun, weil ich mich unsagbar müde fühlte. Feuer- und Blutzungen erstreckten sich über den bläulich-schwarzen Fjord. Meine Freunde gingen weiter, während ich zurückblieb und vor Angst zitterte. Dann hörte ich den gewaltigen, unendlichen Schrei der Natur.
Manche führen diese Reaktion auf die psychologischen Folgen einer lebenslangen persönlichen Notlage, Trauer und Leid zurück, die zu einer starken Sensibilität für die Grausamkeit des Lebens geführt haben. Andere führen die Ursache seines Unwohlseins auf die Nähe der Nervenheilanstalt zurück, in der seine Schwester untergebracht war. Oder er reagierte auf das Leid der Tiere, die in einem nahe gelegenen Schlachthof starben.
Solche populistischen Kritiken an diesem Kunstwerk übersehen jedoch die eigenen Worte des Künstlers, die eine pragmatische und zutiefst spirituelle Perspektive auf das Leben vermitteln. Betrachtet man Munchs Kommentare zu dem Gemälde und seine anderen philosophischen und metaphysischen Einsichten, könnte man zu dem Schluss kommen, dass er von der Gegenüberstellung der natürlichen Schönheit des Sonnenuntergangs und seinen Gefühlen der Beklemmung über die Vergänglichkeit des Lebens beeindruckt war.
Der Originaltitel von Munchs Werk lautete „Der Schrei der Natur“, was ins Englische übersetzt „The Scream of Nature“ bedeutet. Vielleicht war es eine unsagbare Einsamkeit und lähmende Angst, die Munch befiel, als er in den dramatischen Farben und der surrealen Aura des Sonnenuntergangs die unergründlichen Tiefen der Natur und seinen unbedeutenden Platz im Ganzen erkannte. Oder vielleicht spielt „der gewaltige, unendliche Schrei der Natur“ auf den Schmerzensschrei an, der von jedem Element des Universums ausgeht, wenn es in seinen endlosen Zyklen von Geburt, Leben und Tod unaufhörliche Veränderungen erträgt. Oder war Munch vielleicht sensibel für das Leiden der Natur, die dem egoistischen Ausbeutungswahn des Menschen erliegt?
In Munchs Malerei können wir zweifellos den Ausdruck eines Bewusstseins erahnen, das nach seinen eigenen Worten wahrnimmt:
Die Natur ist nicht nur das, was für das Auge sichtbar ist… sie umfasst auch die inneren Bilder der Seele.
Vielleicht schwingt in diesem traumatischen Moment der „gewaltige unendliche Schrei“ der Natur mit seiner intensiven inneren Sehnsucht nach Versöhnung und Wiedervereinigung mit dem ihn umgebenden und durchdringenden Universum mit.
Die Vorstellung eines höheren Ziels beim Malen des „Schreis“ wird durch Munchs Eingeständnis unterstützt:
Meine Kunst ist eigentlich ein freiwilliges Bekenntnis und ein Versuch, mir selbst mein Verhältnis zum Leben zu erklären – es ist also eigentlich eine Art Egoismus, aber ich hoffe ständig, dass ich dadurch anderen zu Klarheit verhelfen kann.
In diesem Zusammenhang könnte man meinen, dass Munch den sensiblen Betrachter dazu auffordern wollte, „Der Schrei“ wie in einem Spiegel zu betrachten, um zu überlegen, wie weit wir uns unseres Platzes im Ganzen nicht bewusst sind. Oder wie weit wir von einem bewussten Bewusstsein der Verbundenheit mit der gesamten Natur und dem Geist, der uns durchdringt, abgefallen sind.
Daher ist die in „Der Schrei“ ausgedrückte Angst die Selbsterfahrung nicht eines Verrückten, sondern eines gewöhnlichen Menschen, der auf außergewöhnliche Weise zu der unvermeidlichen Einsicht in seine Sterblichkeit gelangt. Und gleichzeitig auch zur Unsterblichkeit des wahren Selbst in ihm. Mit „Der Schrei“ fordert Munch uns auf, uns zu fragen, wie offen wir für die Realität unseres Lebens sind. Fühlen wir auch diesen inneren Aufruhr oder hören wir diesen herzzerreißenden, unendlichen Schrei der Natur, der uns auffordert, alle unsere Illusionen loszulassen und uns der Unwirklichkeit unserer vergänglichen Existenz zu stellen?
Die universelle Anziehungskraft von „Der Schrei“ legt nahe, dass Munch sein Ziel erreicht hat eine, wie er sagt,
Studie der Seele zu malen, d.h. die Studie meines eigenen Ichs.
Aber der bemerkenswerte Eindruck, den dieses einfache, aber zutiefst beunruhigende Gemälde auf so viele Menschen macht, deutet sicherlich auf mehr als nur Ästhetik hin. Munch bemerkte:
In meiner Kunst versuche ich, mir das Leben und seine Bedeutung zu erklären.
Damit versucht er, etwas von einer anderen Dimension zu vermitteln, die über das Ego hinausgeht und das Herz unseres Wesens berührt.
Die Einsichten, die Munch in seinen Worten und Bildern vermittelt, sind für diejenigen, die für den Ruf dieser inneren Unruhe empfänglich geworden sind, kein Wahnsinn, kein Wahn und keine Angst. Sie sind Voraussetzungen für die innere Erkenntnis der Realität unseres Daseins und unseres Wahns des Individualismus. Sie sind der Schlüssel zu unserer Befreiung von diesem Unbehagen, von unserer Trennung von Körper und Seele.
Wenn wir dies als inneres Erwachen erleben, erkennen wir die Täuschung unserer Versuche, die Ewigkeit in der Zeit einzufangen. Wir erkennen die endgültige Vergeblichkeit unseres Materialismus, und dann können wir mit Munch sagen:
Aus meinem verrottenden Körper werden Blumen wachsen, und ich bin in ihnen, und das ist die Ewigkeit.
[1] Eggum, Arne (1984). Munch, Edvard (ed.). Edvard Munch: Paintings, Sketches, and Studies. New York, NY, C.N. Potter. p. 305. ISBN 0-517-55617-0
[2] Prideaux, Sue (2005). Edvard Munch: Behind the Scream. New Haven, CT: Yale University Press. ISBN 978-0-300-12401-9