Wenn wir beim Beschneiden des Rosengartens nicht auf das Ziel gerichtet bleiben und zurückblicken, erblicken wir den Tod, unseren Tod.
Ein persischer Edelmann
Heute Morgen wurde mein Gärtner blass vor Schreck,
‚Herr, einen Augenblick, bitte‘, kam er herein gerannt.Ich schnitt am Rosenstrauch einen Trieb nach dem anderen
Und als ich mich umdrehte und schaute, stand dort der grimmige Tod.Ich war entsetzt und floh in die andere Richtung,
Doch noch immer sah ich seine drohende Hand.Herr, Euer Pferd, und lasst mich mit göttlicher Schnelligkeit reiten
Nach Ispahan, das ich vor Einbruch der Nacht erreichen kann.‘An diesem Nachmittag – lange nachdem er geflohen war –
traf ich im Park der Zedern den Tod.‚Warum?‘, fragte ich, während er dort wartete,
‚Hast du heute Morgen meinem Diener einen solchen Schrecken eingejagt?‘Lächelnd kam seine Antwort: ‚Es war sicher keine Drohung,
Die deinen Gärtner in die Flucht schlug. Überrascht war ichAm frühen Morgen hier noch einen Mann bei der Arbeit zu finden
Den ich noch am selben Abend in Ispahan aufnehmen werde.‘ [1]
Die Geschichte oder das Gedicht handelt von dem Gärtner und dem Tod.
Es geht nicht um einen Gärtner, sondern um den Gärtner, der uns scheinbar vertraut und bekannt ist. Sie wird uns von einem edlen Mann erzählt, einem Mann von hohem Ansehen, für den der Gärtner einen Trieb nach dem anderen im Rosengarten schneidet. Für einen Schüler auf dem spirituellen Weg scheint dies sehr erkennbar zu sein. Sind nicht auch wir auserwählt, im Rosengarten unseres Herrn Trieb um Trieb zu beschneiden?
Die Geschichte handelt also von uns. Denn der Gärtner sind wir.
Wenn wir den Rosengarten beschneiden, wenn wir nicht bei der Sache bleiben und zurückblicken, gibt es den Tod, unseren Tod. Das heißt, alles, was unsere Persönlichkeit an das Streben und die Verlockungen dieser Welt bindet und sie ihr unterwirft. Das beunruhigt uns, wir fühlen uns bedroht. Unsere natürliche Reaktion als Individuen ist, das Unvermeidliche um jeden Preis vermeiden zu wollen.
Später am Tag begegnet der Edelmann dem Tod im Zedernpark. Der Zedernpark deutet auf die Kraft des Glaubens hin, wie die Zedern des Libanon, mit denen der (Weisheits-)Tempel Salomos gebaut ist. Dann zeigt sich, dass der Edelmann keine Angst vor dem Tod hat, im Gegenteil, als Beispiel für inneren Frieden tritt er mit ihm in ein Gespräch. Er hält sich vom Schicksal des Gärtners fern, noch wird er dem Tod böse. Er verhält sich neutral. Daher können wir den Edelmann als ein Symbol für die neue (ursprüngliche) Seele sehen.
Indem er dem Impuls des „alten Ichs“ folgt, kann der Gärtner seinem Schicksal nicht entkommen.
Hätte er mit dem erwachenden neuen Seelenbewusstsein seinen Herrn um Rat gefragt, so hätte dieser ihm die Kraft und Weisheit gegeben, sein Schicksal anzunehmen.
Rudolf Steiner sagt über das Eingreifen des Schicksals in das Leben des Menschen folgendes:
Was im Schicksal des Menschen liegt, kommt nur zum kleinsten Teil ins alltägliche Bewusstsein, es herrscht zum größten Teil im Unbewussten. Aber gerade durch das Aufdecken dessen, was durch das Schicksal kommt, wird deutlich, wie etwas Unbewusstes ins Bewusstsein gebracht werden kann. Mit jedem Stück seines Schicksals, das sich dem Menschen offenbart, bringt er etwas bisher Unbewusstes in den Bereich des Bewusstseins.
Durch dieses ‚Bewusstmachen‘ wird man sich bewusst, wie im Leben zwischen Geburt und Tod das Schicksal nicht gewoben ist; man wird an das Leben zwischen Tod und neuer Geburt erinnert,
fügt Steiner hinzu. Und er fährt fort:
In der Auseinandersetzung mit diesem Bezug des menschlichen Selbsterlebens zur Schicksalsfrage wird man ein gutes Gefühl für das Verhältnis von Sinnlichem und Geistigem entwickeln können. Wer das Schicksal im Menschen herrschen sieht, der ist schon im Geistigen. Denn das Schicksal hat nichts Natürliches.
Pieter Nicolaas van Eyck (1887-1954)
P.N. van Eyck war jahrzehntelang ein bedeutender Professor für niederländische Sprache und Literatur an der Universität von Leiden. Er wurde als Dichter und Kritiker berühmt und war ein einflussreicher, meinungsbildender Intellektueller auf nationaler Ebene. Dieses Gedicht ist eines der bekanntesten der niederländischen Literaturgeschichte. Es stammt aus der östlichen Sufi-Tradition [2] (daher der Verweis auf die persische Stadt Isfahan) und wurde von dem französischen Dichter, Maler und Filmemacher Jean Cocteau (1889-1963) durch seinen Roman Le Grand Écart (1923), der ins Niederländische als De Grote Vergissing übersetzt wurde, nach Westeuropa gebracht. Van Eyck hat daraus eine Variante gemacht, die in unserem Sprachraum auf große Resonanz stieß. Das Erwachen eines neuen Seelenbewusstseins (hier verkörpert durch den persischen Edelmann) ist ein zentrales Thema in Van Eycks Werk.
Als Van Eyck begann, das Leben zu schmecken, drohte er in der irdischen Schönheit als einer „Bucht der nie befriedigenden Genüsse“ zu versinken, in der er zunächst vergeblich nach essentiellen Werten suchte, die auch „den sinnlichen Sinn“ ausmachen würden. Für viele sind dies Erfahrungen, die der Dichter im Nachhinein als „das Spiel der Eitelkeit“ erkennt. Doch wenn er die Seele, das „Leuchtende“ oder die „Kernseele des Lichts“ wiederentdeckt hat, weiß er, dass es keine Rettung außerhalb des eigenen Seins gibt. Dann ändert sich vieles. In seiner neuen Sicht auf die Welt wird diese in einem höheren Glanz erleuchtet und bestrahlt. Der Dichter durchschaut, dass „alle Dinge in der Einheit verbunden sind“. Er findet dafür viel Unterstützung in den mystischen Gedichten des Johannes vom Kreuz, in denen die Einheit mit der Gottheit besungen wird. Gott steht im Leben des Dichters eindeutig im Mittelpunkt:
Gott will in mir als Mensch glücklich sein.
Die Welt ist für ihn nicht mehr trostlos und leer, ein Chaos. Im Gegenteil, sie ist erfüllt von der „göttlichen Fülle“. Die Welt ist eine Manifestation in den Formen Gottes oder mit einem berühmten Spruch von Spinoza: Deus sive natura [3] . Ab 1920 macht sich Van Eyck Spinoza in seiner Poesie zu eigen. In der Erfahrung der Welt als Form Gottes ist die Dualität zwischen Erde und „Himmel“ endgültig verschwunden. Der Dichter überwindet auch seine Einsamkeit, da das Ich-Bewusstsein nun zu einem Einheitsbewusstsein wird. Indem er diese spinozistischen Ansichten vollständig annimmt, erreicht er erst die volle Reife im poetischen Bereich.
Das geht durch Versuch und Irrtum. Dann wieder kann er das „Glück des Eins-in-Alles-Seins“ bezeugen, dann wieder muss er die Enttäuschungen des irdischen Lebens resigniert hinnehmen. Letzteres führt zu einem schönen, oft zitierten Vers in der Sammlung ‚Inkeer‘:
Wer sein Leiden als ewige Notwendigkeit erkannt hat,
Fragt nicht nach Hilfe (Trost) für seine gequälte Menschheit,
Kann nicht klagen über das Leid des Unverbundenen (=Zufalls),
Wunden, die in seiner Seele geschlagen, ohne Mitleid,
unter deren scharfem Schmerz sein Teil der Welt leidet.
In der letzten Phase seines Lebens kommt der Dichter zu einer konkreten Beschreibung des Schicksals des Menschen in diesem Leben,
die Selbstverwirklichung der Seele, durch die Betrachtung der geschaffenen Welt als die schöne Selbstoffenbarung Gottes in der Natur oder Welt.
Dennoch bezeugt er dieses „neue Leben“ in den bekannten Zeilen mit Vorbehalt:
Dieses neue Leben hier auf Erden ist jedoch keine Vollendung;
Kein vorübergehendes Heim kann den Mangel verbergen,
Das nur an dem hängt, was von hier entführt.
Die Seele sehnt sich, sehnt sich nach dem, was von hier entführt, nach dem „Jenseits“, wo das gesegnete Land ist, und wo die Seele ihre Fülle erlangen wird, frei von den Hindernissen, die der Körper der Seele auferlegt. Doch – und das ist der bleibende Widerspruch bei Van Eyck – der Seelenmensch muss nicht „dorthin“, nicht auf die „andere Seite“, sondern „hierher“ (hier), wie der Titel seiner letzten Sammlung lautet. Die Botschaft des Dichters ist dabei sehr klar: Erfülle die Aufgabe, die dir das Leben auf der Erde auferlegt, eine Aufgabe, die du nicht suchen musst. Warte einfach ab und sieh, was das Leben von dir will“.
Darin findet die Seele Ruhe und lebt „gesegnet in dieser einen Sache, das heißt: in diesem Augenblick“.
Quellen:
[1] Englische Übersetzung von Ronald Langereis © 2009 aus dem Niederländischen, ‚De Tuinman en de Dood‘ von P.N.van Eyck (1887-1954), der das Thema aus Jean Cocteaus ‚Le grand écart‘ übernahm.
Ihre Tante auf einem Holzfloß: Der Gärtner und der Tod (oils-well.blogspot.com)
[2] Jalaluddin Rumi, Masnavi
[3] „Deus sive natura“ Lateinisch für „Gott in der Natur“ in B. Spinoza, Ethik