Die Tiefe, die zur Höhe führt

Die Tiefe, die zur Höhe führt

Das riesige, kolossale Stahlkunstwerk, das vor mir im Museum Voorlinden in Wassenaar, Niederlande, steht, wiegt nicht weniger als 216 Tonnen und ist 4 Meter hoch.

Dem Flyer entnehme ich, dass diese Skulptur aus sechs aufrecht stehenden, gewölbten Stahlplatten besteht. Drei davon bilden eine Spirale. Während man sich schlängelt, kann man durch zwei ineinander verschlungene Spiralen hindurchgehen. „Open Ended“ würde wie ein Labyrinth aussehen und doch keines sein. Meine Neugier ist geweckt.

Trotz der vielen Tonnen Gewicht vermittelt das Kunstwerk – bleischwer – den Eindruck von Schwerelosigkeit, als wären die Platten ohne Anstrengung platziert worden. Das eigentlich unflexible Material wirkt unfassbar leicht und elegant. Es scheint, als wären die Stahlplatten, die so flexibel sind wie 150 Gramm Papier, von den Händen des Künstlers mühelos wellenförmig geformt worden.

Die anmutigen Linien an der Vorderseite lassen an die Nase eines Schiffes denken, doch hier kann ich eintreten.

Links und rechts ragen hohe Wände aus rohem Stahl empor.

Zwischen ihnen bildet sich ein schmaler Gang. Ich gehe und schaue nach oben. Das Licht von oben begleitet mich. Eine Wand neigt sich etwas über mich; ich fühle mich in das Kunstwerk einbezogen.

Es ist ein schwindelerregendes Erlebnis. Keine geraden Linien mehr, der Horizont ist verschwunden.

Die schmalen, schrägen Gänge und die Wölbung der Wände vermitteln ein besonderes Raumerlebnis. Gleichzeitig erlebe ich, wie wunderbar, eine andere Zeit, nicht mehr linear. Nein, ich fühle mich, als würde ich in den Kurven, Gang für Gang, zyklisch, immer weiter wirbeln. Nur das Licht zwischen den hoch aufragenden Räumen bietet Halt.

Der Weg macht eine scharfe Biegung. Der Klang meiner Schritte ändert sich. Dann biege ich um eine weitere Ecke und finde mich plötzlich im Zentrum, dem Herzen des Kunstwerks, wieder. Dort ist es geräumig und hell! Es hat die Form eines Auges. Ich bin auf der einen Seite hineingegangen und stelle nun fest, dass ich auf der anderen Seite wieder hinausgehen kann!

Jetzt verstehe ich den Titel: „Open Ended“. Es gibt keinen Endpunkt. Niemand muss auf demselben Weg zurückkehren wie in einem Labyrinth. Der Weg geht weiter.

Mir kommt der Gedanke, dass dies ein Kunstwerk mit vielen Gegensätzen ist. Das bleischwere, das einen schwerelosen Eindruck vermittelt. Die stahlfabrikartige, von Menschenhand geschaffene Form im Gegensatz zu den organischen Formen von Kreisen, Ellipsen und Spiralen, dem Natürlichen.

Zwei ineinander verschlungene Spiralen. Zwei Gänge: einer zum Herzen und einer aus dem Herzen heraus. Hohle und gewölbte Wände, die ineinander liegen und sich in der Mitte gegenüberstehen. Dort bilden sie zusammen das Auge, den offenen, erleuchteten Raum.

Was Leer ist wird gefüllt werden

Sind das nicht die Worte aus dem Daodejing?

Und in der Mitte finden wir dann Daos spirituelle Essenz, die zu mir spricht:

Alles empfangen, alles weitergeben.

Es ist kein Irrgarten, in dem man sich verirren kann. Kein Labyrinth, in dem man nur in eine Richtung gehen kann. Es ist ein Durchgang! Eine Bewegung des Verschmelzens und des Ineinanderübergehens: Involution und Evolution. Tiefe und Höhe. Zeit und Ewigkeit.

Zwischen den Gegensätzen liegt ein Lebensweg, mein Lebensweg!

Er führt zum Zentrum: zum Herzen, zur Seele, zum Geist.

Ich weiß nicht, wohin mich die nächste Biegung führt oder wann genau der Ausgang naht. Der Weg wird so schmal, dass ich die Wände aus der Nähe betrachten kann. Die Wirkung der Zeit verleiht ihnen eine korrodierende Haut, in der ich die Struktur von Blumen und Sonnen erkennen kann.

Vor mir hellt sich der Weg auf – der Gang fängt mehr Licht ein – und dann trete ich aus dem Kunstwerk heraus, „ins Freie“: in ein großes, atemberaubendes Lichtfeld. Es überblickt einen farbenfrohen Garten.

Wenn du das eine zum anderen machst, wenn du das Innere dem Äußeren gleich machst und das Äußere dem Inneren, und das Oben dem Unten, das Äußere dem Innersten, dann wirst du in das Reich eintreten und ein Menschensohn werden. [i]

Über den Künstler:

Richard Serra ist ein amerikanischer Metallkünstler, der am 2. November 1939 in San Francisco geboren wurde.

Er verwendet oft große Stahlplatten mit einfachen Formen, deren Konstruktion ebenfalls irreführend einfach ist. Für Serra geht es um die Beziehung zwischen dem Kunstwerk und dem umgebenden Raum. Es spielt keine Rolle, ob seine Stahlplatten eine Berglandschaft, eine Museumshalle oder einen belebten Stadtplatz durchschneiden – die Platten interagieren mit ihrer Umgebung. Durch ihre präzise Platzierung verändern sie die Raumwahrnehmung des Betrachters.

Seine Arbeit wird auch mit Architektur verglichen und auf Schiffswerften konstruiert. Ein enges Team aus Ingenieuren, Stahlarbeitern und Transporteuren arbeitet bei diesen Arbeiten zusammen. Allerdings ist für Serra nicht das Endergebnis, sondern der Konstruktionsprozess der Ausgangspunkt. Wenn er darüber spricht, sagt er nicht „ich“, sondern immer „wir“.
Einige seiner Werke sind:

Berlin Curves, 1986, Berlin.
King of New York, 2008, Museum of Modern Art, New York.
Matter of Time, 2005 Guggenheim Museum, Bilbao.
East-West/West-East, 2014, Wahrzeichen in der Wüste, Katar.
In den Niederlanden:
Open Ended, Museum Voorlinden, Wassenaar.
One, 1988 Kröller-Müller Museum, Otterloo.
Sea Level, 1989-1996, Zeewolde.
Wachsende Bögen, 1980, Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam.
Die Stunden des Tages, 1990, Bonnefantenmuseum, Maastricht.

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Datum: Juni 17, 2024
Autor: Ankie Hettema-Pieterse (Netherlands)
Foto: Bill Mead on Unsplash CCO

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